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Was ich zu dieser Platte genau sagen will, weiß ich eigentlich gar nicht, denn für konkrete Statements ist sie eigentlich viel zu seltsam und betäubend. Im positiven Sinne.
Die Oldfags, die schon bei "K.O.O.K." oder der "Weißen" ausgestiegen sind, weil es ihnen nicht mehr garagig-rotzig genug war, verpassen einmal mehr ein ganz großes Kunststück aus der Hamburger Schule der Jetztzeit. Und gleichzeitig den letzten Teil des Hauptstadt-Tryptichons. "Pure Vernunft darf niemals siegen" war die These, "Kapitulation" die Antithese und "Schall und Wahn" ist die Synthese. So hat es geheißen und so ist es geschehen. Nicht nur der Albumtitel und das Covermotiv (ein bunter, ausufernder Blumenstrauß, der den Sound der Platte widerspiegeln soll) sprechen da für sich, sondern auch der Inhalt. Bookletmäßig hielt man sich sehr zurück, alles wirkt sehr zart und zerbrechlich, trotz der bisweilen sehr zynischen und verzweifelten Texte.
Die ganze Angelegenheit wurde von Dirk (oder Arne, ich hab's vergessen) im Vorfeld als ein "Fiebertraum" bezeichnet und ja, genau so klingt es auch. So und nicht anders. Man bemerkt auch auf der dritten CD in Folge noch durchgehend, wie Rick McPhail an der zweiten Gitarre die Möglichkeiten des Sounds im Vergleich zu früher deutlich erweitert und verfeinert. Man mag dem neueren Tocotronic-Sound vorwerfen, er sei glattgespült, weich und klischee-indiehaft, habe nichts mehr zu tun mit Dagegensein und Mitdenken!-Haltung, doch das Gegenteil ist der Fall, lediglich subtiler und feingliedriger verpackt hat man es in diesem Output und in dieser Zeit.

Die ersten Sekunden des achtminütigen Openers "Eure Liebe tötet mich" klingen mal so gar nicht nach Tocotronic, wie man sie kennt, doch in dem Moment, in dem das Schlagzeug einsetzt, ist gleich wieder so eine gewisse Vertrautheit zu spüren, es fühlt sich sehr angenehm an. Das Stück (welches dezent progrock-glasiert anmutet) lässt sich sehr, sehr viel Zeit und wirkt dabei trotz im Verlauf stärker hervortretender E-Gitarre äußerst cool & entspannend. Erst bei 1:45 gibt es eine kurze Zäsur, in der Dirk von Lotzows sanfteStimme einsetzt und ebenso ruhig wie lieblich darüber den Songtitel vor sich hinsäuselt, während im Hintergrund die Gitarre verzerrter wird. Unauffälliger, leiser Chor setzt ein. Zwischen Strophe und Refrain zu unterscheiden fällt schwer, es fällt irgendwie alls zusammen. Gegen Ende ein längerer Instrumentalteil, in den letzten Sekunden wird noch einmal die Aussage des Stückes bekräftigt. "Ein leiser Hauch von Terror" klingt musikalisch wie einer der wilderen Songs von "Kapitulation", erinnert textlich und in seiner Intonation aber eher an "Aber hier leben, nein danke". Die Instrumentation und Dirks Stimme wirken deutlich entschlossener, man fühlt sich trotz der relativen Sanftheit fast ein bisschen geohrfeigt nach dem sehr entspannten ersten Song. Die Tatsache, dass der werte Herr von Lotzow gesanglich nicht der größte Held aller Zeiten ist und das auch ganz bewust in die Songs integriert, kommt hier einmal mehr wunderbar zum Tragen, wenn er die eine oder andere Schieflage drin hat, die es einfach so ehrlich klingen lässt. Ein vergleichsweise kurzer und kraftvoller Gegenentwurf zu "Eure Liebe tötet mich".

Der dritte Track, "Die Folter endet nie", erscheint mir persönlich als eine Synthese aus seinen beiden Vorgängern. Und im Refrain wird mir immer ganz wohl ums Herz, wenn das sanft gehauchte "Und von heute an / Leben wir ewig" die Ohren umschmeichelt. Den Bridge-Part mit der vor sich hin trillernden Gitarre mag ich ebenfalls ganz besonders. Dieser Song fasst das Hörgefühl "Angenehm" schlichtweg einzigartig in Worte, trotz der beängstigenden Wortwahl, in der viel Terror, Folter und Angst vorkommt (ein Phänomen, das sich durch einen Großteil des Albums zieht). Anschließend folgt "Das Blut an meinen Händen", welches ich inhaltlich nie so recht "gecheckt" habe; ich erahne zwar, dass es sich um ein seltsam morbides Abhängigkeitsverhältnis zweier Personen handelt, aber was es sagen möchte, keine Ahnung. "Du bist hier der Dichter / Und ich bin dein Vernichter / Ich danke dir dafür", ja, Dirk, was auch immer du mir sagen möchtest, ich hab dich lieb. Im weiteren Songverlauf fallen Begriffe wie "Neid", "Gier" und "Feigheit" vor einer massiven Wand aus Gitarren und Streichern, während mit stoischer Ruhe geradezu festlich die unglaublich negativen und destruktiven Zeilen vorgetragen werden. Der bereits im Vorfeld vorgestellte Song "Macht es nicht selbst" wendet sich, nach einem kurzen Schrammel-Intro, das kurz an Songs wie "Ich verabscheue euch wegen eurer Kleinkust zutiefst" erinnert, gegen Selfmade-Menschen und eine nach sogenannten Individuen gierende Human Resources-Gesellschaft, in der jeder nur auf sich allein angewiesen und seines eigenen Glückes Schmied ist. Quasi die neoliberale Maxime. Auch Humor ist im Spiel. "Wer zu viel macht, wird schließlich dumm / Ausgenommen Selbstbefriedigung" sagt mir der Song und ich halte mich brav daran. "Bitte Oszillieren Sie" bildet den gefühlten Mittelteil der Platte, hier wird mit simpler, an frühere Zeiten erinnerender Songstruktur eben dazu aufgefordert. "Bitte oszillieren Sie / Zwischen den Polen Bumms und Bi" heißt es da und man weiß wieder einmal nicht so genau, was das nun soll, aber es ist ein kurzer, knackiger Ohrwurm allererster Güte. "Ich bitte Sie / Genießen Sie" beendet Dirk den Song und genau das tue ich schon seit Beginn des Albums. Ping-Pong ohne Hierarchie.

À propos Album, wir kommen zum Song, der dem ganzen Werk seinen Titel gibt: "Schall und Wahn" kommt mit einem atmosphärischen Intro von 1:30 Minuten Länge daher, bevor es so richtig losgeht und Dirk, wunderschöne und zum Träumen einladende Melodie inklusive, ein Loblied, ach was sag ich, eine Hymne auf das Leben singt, über das Versinken in den Dingen, von denen man umgeben ist und über das vollkommene Sich-Hingeben. Textlich ein absoluter Brecher. "Schall und Wahn / Ich bin euch Untertan". Es ist alles gesagt. Dennoch, wer wären Tocotronic, einfach aufzuhören, nur weil grad mal alles gesagt ist. "Im Zweifel für den Zweifel" ist eine Ode an Verwirrung, den eigenen Willen, Unentschlossenheit und fortschreitende Ich-Auflösung (ebenfalls ein sich durchs gesamte Album ziehendes Motiv), die sich schlichtweg wunderbar anhört und mit ihrer zurückhaltenden Instrumentation dem auch hier wieder ganz, ganz großen Text exakt den Raum lässt, den er benötigt. Die Effekte zu Songbeginn, die mich entfernt an Walgesänge erinnern und über die ganze Länge subtil präsent bleiben, wirken befreiend und heimelig, zumindest auf mich. "Keine Meisterwerke mehr" beeindruckt anschließend mit rohem Sound, und obwohl der Song inhaltlich sicherlich nicht der größte Wurf der Platte ist, freue ich mich doch immer wieder sehr über ihn, und sei es nur wegen Dirks herrlich daneben klingenden Falsett-Versuchen und dem unglaublich abrupten Ende, das man gerade erst mitbekommen hat, wenn der nächste Song schon beginnt: Das leicht noisig beginnende "Stürmt das Schloss" ist sicherlich das wütendste Stück der Platte, und obwohl Dirk längst nicht mehr so aggressiv und knarzig klingt wie zu Anfangszeiten, ist es doch eine runde Sache, auch wieder sehr komprimiert auf zweieinhalb Minuten, ein Song für die Abgeschafften und Abgefuckten. "Anormale, stürmt das Schloss / Ausgeflippte, stürmt das Schloss". Es folgt der "Gesang des Tyrannen". Einer meiner Lieblinge. "In mir brennt das ewige Feuer / In mir, kalt, modern und teuer". Der Text erinnert an den 2004er-Output, ist sehr offen, schachtelig und vieldeutig. "Ich bin der Graf von Monte Schizo / Und ich singe diesen Hit so". Welche Tyrann hier was singt, ist schon längst egal. Flammendes Inferno? Wo? Mir egal. Was einst war? Interessiert doch keinen mehr! Hauptsache die Mucke fetzt! Whatever.
Der letzte Song, "Gift", der aufgrund des Textes womöglich (?) ein Wortspiel mit dem englischen gift darstellt, erinnert in vielerlei Hinsicht (Länge, Gesang) wieder an den Opener, auch hier wieder eine gewisse Ruhe, die in ein ekstatisches Instrumental übergeht, praktisch der Bashdown des Albums, der fast drei Minuten andauert und auch durch das stärker als sonst hervortrende Keyboard und die Streicherarrangements noch ein Stück psychedelischer wird, bis man mit den letzten Tönen wieder aus der Traumwelt aufwacht und bemerkt, dass das Ganze zuende ist. Was hab' ich da gerade alles gehört? Keine Ahnung, aber geil war's.

"Schall und Wahn" bietet insgesamt einen 1A-Abschluss der Berlin-Trilogie und überzeugt mich trotz einiger textlicher Seltsamkeiten in ein oder zwei Songs, die trotz ihres indirekten Verweises auf "Pure Vernunft darf niemals siegen" nicht so recht zünden wollen, Musikalisch merkt man wieder einmal, dass diese Band es in der fast ewig gleichen Besetzung immer wieder anders und neu machen kann. Ein wirklich gutes Stück "Diskursrock", das ich mir noch oft zu Gemüte führen werde. Niemand ist so polysem wie die vier Hanseaten.

Eine klare Kaufempfehlung sei zudem an all jene ausgesprochen, die sich in irgendeiner Art und Weise für dieses Genre begeistern können.

9/10