Ihr seid LANGSAM.
[...]
Sie blieb eine Weile stehen und fühlte sich mit jedem Herzschlag kräftiger. Es war, als wäre sie von einer langen Krankheit endlich wieder gesund aus dem Bett aufgestanden und konnte das erste mal wieder von allein atmen. Es schien ihr, als könne sie besser sehen und riechen und nahm auf einmal alles in ihrer Umgebung besser wahr – und deswegen merkte sie, dass Lucifers ganze Villa aus nichts weiter bestand als Schatten. Sie atmete trockene, verbrauchte Luft, wie auf einem alten staubigen Dachboden.
Ungerührt ließ Vanessa den leblosen Körper mitten im Flur liegen und ging wie im Traum die Flure entlang. Irgendwann traf sie auf Acrux, der vor ihr zurückwich, aber sie ging einfach an ihm vorbei, ohne ihn eines weiteren Blickes zu würdigen.
Sie folgte einem leichten, fast nicht vorhandenem Luftzug, der ihr sagte, wo die Natur war. Sie schritt durch Flure und Zimmer, bis sie endlich in der großen Eingangshalle angekommen war und die mit einem Samtteppich ausgelegte Haupttreppe hinabstieg, den kalten Marmorboden überquerte und dann die schwere Eingangstür aufstieß.
Kühle Spätsommerluft schlug ihr entgegen wie eine Wand, und Vanessa seufzte erleichtert. Denn obgleich sie riechen konnte, wie sehr die Umweltverschmutzung die reine Luft verdreckt hatte, war da noch immer der würzige Geruch von Bäumen, die ihre kaum zu schaffende Arbeit zwar unermüdlich, aber mit immer weniger Kraft erledigten.
Vanessa sah zu, wie die Wolkendecke über ihr aufriss und die Sonne freigab, die sie golden und wärmend beschien. Sie beobachtete eine Fliege, die dicht an ihren weit geöffneten Augen vorbeisummte. Sie hörte die Vögel zwitschern. Irgendwo in den Büschen huschte ein Eichhörnchen einen Baum hinauf. Blätter raschelten.
Noch war ihre Welt nicht ganz zerstört. Und nun, wo sie wusste, dass alles in ihren Händen lag, nahm sie sich vor, alles zum Guten zu führen.
Sie warf einen Blick zurück über die Schulter. Acrux und die Erloschenen waren ihr mit einigem Respekts- und Sicherheitsabstand gefolgt. Als er sah, dass sie ihn ansah, schrak er wieder zurück, aber Vanessa lächelte.
„Keine Angst“, sagte sie zärtlich, drehte sich langsam wieder um und ging auf ihn zu. Obwohl Acrux fast doppelt so groß war wie sie, war doch Vanessa diejenige, die viel größer und mächtiger erschien und Acrux zog vorsichtig den Kopf ein wenig zwischen die Schultern. Die Schatten der Erloschenen wichen vor ihr zurück, als sie die Hand nach ihm ausstreckte. „Keine Angst“, sagte sie wieder leise. „Du hast keine Schuld an dem, was passiert. Es ist alles Lucifers Werk, und ich weiß das. Es war die Dunkelheit, die dir das angetan hat.“ Und dann nahm sie sanft sein Kinn in ihre schlanken Finger, zog ihn zu sich herab und küsste ihn sachte auf die Lippen. Acrux stand wie versteinert, stieß sie nicht von sich, erwiderte den Kuss aber auch nicht.
Ein leises, einsaugendes Geräusch erklang, und als Vanessa sich wieder von ihm löste, schluckte Acrux – und merkte, dass irgendetwas anders war. Irgendetwas fehlte ihm, und er sah an sich hinab, auf seine Hände, aber alles schien noch wie vorher. Dann blickte er zu Vanessa, die nur lächelte und die Hand nach den Erloschenen ausstreckte.
„Ich weiß, ich darf das nicht tun, denn eigentlich soll jedes Lebewesen seine eigene Zeit haben“, sagte sie leise, als ihre Hand in die Dunkelheit getaucht war. „Aber ihr seid so voller Zweifel, dass ihr nicht einmal in Frieden erlöschen könnt. Yed Prior, das einzige, was dich hier hält, ist deine Unsicherheit. Keine Angst – es ist nicht so schlimm, wie du befürchtest.“ Sie lächelte.
Es war kurz still, und dann wurde die Dunkelheit etwas lichter, Stückchen für Stückchen. Vielen Dank, erklang irgendwo Yed Priors hohle Stimme. Er sagte noch etwas, aber es war schon nicht mehr zu verstehen, und im nächsten Moment war er vollends erloschen.
„Ras Alhague... Das einzige, was ich hier hält, ist Hass. Ich werde ihn dir nehmen, und dann kannst auch du in Frieden gehen.“ Vanessa lächelte noch immer leise und fixierte etwas, das niemand sehen konnte, in der Dunkelheit. Ihre Hand in der Wolke aus Schatten war mit der Fläche nach oben geöffnet.
Was? Nein! Ras Alhague klang panisch. Nein, das ist es nicht! Gäa, du musst nicht... Wehe dir, wenn...! Nein!
Vanessa schloss kurz die Augen, und dann verschwand auch Ras Alhague mit einem leisen Zischen.
Acrux beobachtete das ganze mit weit geöffneten Augen. Als nur noch Suhail Hadar übrig war, machte er endlich einen Schritt vor. „Gäa“, sagte er. Seine Stimme klang belegt. „Ich... darf ich mich wenigstens von ihr... verabschieden, ehe du sie mir nimmst?“
Vanessa lächelte etwas bitter. „Ich weiß, wie es ist, wenn man von seinem Liebsten getrennt ist“, sagte sie. „Es gibt keine schlimmeren Schmerzen auf dieser Welt als die Einsamkeit. Und das ist eine Wunde, die nicht einmal ich heilen kann. Suhail Hadar, alles, was dich hier hält... ist deine Liebe zu Acrux.“
Acrux sagte nichts, er senkte nur den Blick.
Es ist schon in Ordnung, erklang Suhail Hadars Stimme leise neben ihm. Ich wusste schon lange, dass dieser Moment kommen würde.
Acrux schwieg weiter, er ließ nur den Kopf hängen und schloss dann die Augen als Vanessa langsam wieder die Hand hob und durch die Dunkelheit strich, die sie umgab.
Die Schatten veränderten und verdichteten sich, schienen massiver zu werden und nahmen langsam Gestalt an. Es waren Arme und Beine zu erkennen, schließlich sogar ein Kopf und schwarzes Haar, weich und fein wie das einer Puppe.
Acrux konnte Suhail Hadar gerade noch auffangen, als sie zu Boden fiel. Die Frau in seinen Armen war nackt und schneeweiß, als wäre sie seit Jahren nicht an der Sonne gewesen, und ihre Augen waren leer und dunkel, aber in ihrer Brust schlug ein Herz. Sie atmete – lebte.
Acrux hielt sie fest, ganz fest, und strich ihr durch die Haare. „Aber... warum hast du...“, flüsterte er, doch Vanessa hatte sich schon umgedreht.
„Ich finde Abschiede so traurig“, sagte sie leise. Sie winkte ab und verließ dann die Villa.
Als sie draußen im Vorgarten stand, fühlte sie sich unglaublich befreit. Sie schloss die Augen und atmete tief ein. Das Gefühl, andere Leute glücklich zu mache, hatte sie schon immer am meisten geliebt.
Vanessa lächelte, hackte die Daumen in die Gürtelschlaufen ihres schwarzen Minirockes und ging dann davon. Sie wusste nicht, wo sie war, oder wo Tuomas war, oder was überhaupt als nächstes geschehen sollte, aber sie wusste, es würde sich nichts ändern, wenn sie stehenblieb.
Und unter ihren Füßen brachen kleine Gräser und knospen zwischen dem Straßenpflaster hervor.
Lucretia holte röchelnd Luft, spie Schleim und Blut auf den Teppich und stemmte sich dann hoch. Ihre faltigen Hände zitterten, das bis vor kurzem wie aufgemalt passende weiße Jackett rutschte ihr von den schmalen, gebrechlichen Schultern.
„Dieses Flittchen!“, krähte sie. „Hure! Was hat sie mit mir gemacht!“ Sie tastete nach der Wand und zog sich hoch. Ihre schwarzen Pumps waren ihr zu eng und sie trat sie wütend von den Füßen, während sie sich weiter an der Wand abstützte. Lucretia kniff die Augen zusammen, weil sie so schlecht sah, und humpelte vorwärts in das erstbeste Zimmer, das auf dem Weg war. Sie fand einen Spiegel, blicke hinein und konnte vor Entsetzen nicht einmal mehr schreien.
Die Frau, die sie im Spiegel ansah, war nicht sie. Da stand eine Greisin!
Sie tastete ihre faltigen Wangen ab, den schlaffen Busen und die dicken Oberschenkel. Sie betrachtete das lange, schlohweiße Haar und die milchigblauen Augen. „Was hat sie mir angetan?“, flüsterte sie. „Was hat sie mir angetan?!“
Lucifer stützte sich am Spiegel ab und konzentrierte sich. Die Verwandlung in seinen eigentlichen Körper hatte ihn noch niemals so viel Anstrengung gekostet, jeder seiner Muskeln schmerzte wie im Krampf, als er sich veränderte. Sein goldenes und weißes Gewand war ihm zu groß, spannte aber am Bauch, sein Diadem schien zu eng geworden zu sein. Lucifer musste nicht in den Spiegel blicken, um zu wissen, dass sein langes, goldenes Haar an der Stirn schon licht geworden war und nichts mehr von seiner eigentlichen Farbe behalten hatte.
Er war nicht mehr schön. Er war alt!
Blind vor Wut und Verzweiflung fuhr Lucifer herum. Sie hatte ihm nicht nur seine Jugend und Schönheit geraubt, sondern ihm auch fast alle Energie genommen. Selbst das Atmen schien ihm schmerzhaft geworden zu sein, und er war sich sicher, dass von seinem einst gleißenden Licht kaum mehr als ein müden Glommen übrig geblieben war. Grimmig machte er einen Schritt und schloss die Augen, als er in die Schwärze fiel.
Keuchend sah er sich in der Dunkelheit um, blickte die endlose Tür des Chaos hinauf. Das Siegel aus nackten Körpern schlang sich darüber und er meinte, das Stöhnen und Wehklagen der Versiegelten zu hören. Seit Anbeginn der Zeit waren sie hier versiegelt, und bis zum Ende aller Tage würden sie es auch bleiben. Lange würde es nicht mehr dauern, denn an der Stelle, wo das Siegel gebrochen war, quollen noch immer schwarze Schatten hervor wie ein Virus, der sich langsam in der Blutbahn verbreitete.
Lucifers dürre, mit Alterflecken übersäten Finger krallten sich um den Stoff seines Gewandes. Er würde diese Welt nicht so verlassen. Nicht so.
Er trat auf die Tür zu.
Tuomas’ Haarschopf war selbst in der dichtesten Menschenmenge nicht zu übersehen. Vanessa rief seinen Namen und prügelte sich an den Menschen vorbei, egal wie viele sie dabei umstieß.
Als Tuomas sie sah, kam er ihr entgegen, und sie fielen einander in die Arme und alles andere war egal.
Vanessa presste ihr Gesicht an seine Halsbeuge, und er hatte die Arme fest um ihren schmalen Körper gelegt und hielt sie fest, strich ihr durch das lockige, schwarze Haar. Tuomas fiel eine ganze Gebirgskette vom Herzen, so erleichtert war er, sie unbeschadet zu sehen und Vanessa fing an zu weinen. All die Angst, die sie zwischenzeitlich gehabt hatte, ließ sie jetzt endlich los.
„Mein Gott, ich hab mir Sorgen gemacht“, sagte Tuomas leise und schloss die Augen. „Tu so was nie wieder.“
„Tut mir leid“, sagte Vanessa und lachte, obwohl ihr Tränen die Sicht nahmen. „Tut mir leid.“
Mane kämpfte sich seinen Weg durch die Menge und sah für den Bruchteil einer Sekunde erleichtert aus, gewann sein Pokerface aber sofort wieder. „Gäa!“
„Hmm?“, machte Vanessa überrascht, als Tuomas sie widerstrebend wieder losließ und sich zu seinen Begleitern umwandte. „Hey, warte mal. Du bist doch der Junge von heute Morgen!“ Mane verbeugte sich wortlos. „Was zum Henker hat denn das jetzt zu bedeuten?“, fragte Vanessa, als sie auch noch Sirius auf sie zukommen sah.
„Ziemlich lange Geschichte“, sagte Sirius und rückte seine Sonnenbrille mit dem Zeigefinger zurecht. „Wichtiger ist momentan: Was ist mit Lucifer?“
„Diesem komischen transsexuellen Schönheitsoperationenkatalogsmodell?“, fragte Vanessa düster. „Keine Sorge. Ich glaube ich habe ihn... umgebracht. Oder so.“
Verblüffte Stille folgte ihren Worten, Mane, Sirius und Tuomas sahen einander über ihren Kopf hinweg an, dann zuckte Tuomas die Schultern und meinte: „Ich glaube nicht, dass man den so leicht los wird, der ist wie Kaugummi an der Schuhsohle.“
„Es würde erklären, warum wir ihn auf einmal verloren haben“, sagte Sirius und rieb sich über das Kinn. Nachdem Tuomas Vanessas Fährte gefolgt war, hatten sie im näheren Umkreis auch Lucifers Gegenwart gespürt, obgleich er sich wirklich viel Mühe gemacht hatte, sich zu tarnen und sich nicht auf einen größeren Radius hin zu verraten. Und dann, von einem auf den anderen Augenblick, war seine Aura verschwunden.
„Ich kann euch sagen, wo seine Villa steht“, wandte Vanessa hilfreich ein.
„Okay, ich habe einen Plan!“, sagte Sirius und rieb sich die Hände.
„Oh Gott, geht in Deckung“, kommentierte Tuomas trocken.
Sirius überging ihn einfach. „Gäa sagt uns, wo Lucifers Villa ist und ich gehe zusammen mit Sol hin und zusammen nehmen wir uns den Spinner mal vor. Mane, du bleibst bei Gäa und weihst eise langsam und schonen in das ein, was sie erwartet.“
Mane zeigte seine Begeisterung darin, dass er seine linke Augenbraue um einen Millimeter nach oben zog.
„Erstens, Mane, bist du damals von Sol für diese Aufgabe eingeteilt worden, du erinnerst dich sicher“, knurrte Sirius, „und zweitens mag ich nicht so stark sein wie Sol, bin ihm aber noch immer von mehr nutzen als du. Was kannst du denn schon?“
„Okay, streitet euch mal nicht“, sagte Tuomas, obwohl Mane so oder so über Sirius’ Anschuldigung stand. „Klingt nicht schlecht, und solange wir eh nichts besseres zu tun haben...“
Mane zuckte die Schultern und wandte sich dann an Vanessa. „Kommst du mit mir?“, fragte er. „Du hast sicherlich viele Fragen.“ Vanessa nickte nur stumm mit großen blauen Augen und trat dann neben Mane, der zu Tuomas blickte. „Gut. Wir bleiben hier in der Nähe, kommt einfach wieder her, wenn ihr soweit mit Lucifer fertig seid. Wenn es Probleme gibt, meldet euch, und ich hoffe, dass ich euch dann helfen kann.“
„Ich find’s toll, vollkommen unvorbereitet in die Schlacht zu rennen“, sagte Tuomas, wurde aber einfach ignoriert. Sirius packte ihn am Ärmel und wollte ihn schon mit sich ziehen, drehte sich aber noch mal um.
„Da war noch was. Wie genau kommen wir jetzt zu Lucifers Villa?“
Wird fortgesetzt.
[...]
Sie blieb eine Weile stehen und fühlte sich mit jedem Herzschlag kräftiger. Es war, als wäre sie von einer langen Krankheit endlich wieder gesund aus dem Bett aufgestanden und konnte das erste mal wieder von allein atmen. Es schien ihr, als könne sie besser sehen und riechen und nahm auf einmal alles in ihrer Umgebung besser wahr – und deswegen merkte sie, dass Lucifers ganze Villa aus nichts weiter bestand als Schatten. Sie atmete trockene, verbrauchte Luft, wie auf einem alten staubigen Dachboden.
Ungerührt ließ Vanessa den leblosen Körper mitten im Flur liegen und ging wie im Traum die Flure entlang. Irgendwann traf sie auf Acrux, der vor ihr zurückwich, aber sie ging einfach an ihm vorbei, ohne ihn eines weiteren Blickes zu würdigen.
Sie folgte einem leichten, fast nicht vorhandenem Luftzug, der ihr sagte, wo die Natur war. Sie schritt durch Flure und Zimmer, bis sie endlich in der großen Eingangshalle angekommen war und die mit einem Samtteppich ausgelegte Haupttreppe hinabstieg, den kalten Marmorboden überquerte und dann die schwere Eingangstür aufstieß.
Kühle Spätsommerluft schlug ihr entgegen wie eine Wand, und Vanessa seufzte erleichtert. Denn obgleich sie riechen konnte, wie sehr die Umweltverschmutzung die reine Luft verdreckt hatte, war da noch immer der würzige Geruch von Bäumen, die ihre kaum zu schaffende Arbeit zwar unermüdlich, aber mit immer weniger Kraft erledigten.
Vanessa sah zu, wie die Wolkendecke über ihr aufriss und die Sonne freigab, die sie golden und wärmend beschien. Sie beobachtete eine Fliege, die dicht an ihren weit geöffneten Augen vorbeisummte. Sie hörte die Vögel zwitschern. Irgendwo in den Büschen huschte ein Eichhörnchen einen Baum hinauf. Blätter raschelten.
Noch war ihre Welt nicht ganz zerstört. Und nun, wo sie wusste, dass alles in ihren Händen lag, nahm sie sich vor, alles zum Guten zu führen.
Sie warf einen Blick zurück über die Schulter. Acrux und die Erloschenen waren ihr mit einigem Respekts- und Sicherheitsabstand gefolgt. Als er sah, dass sie ihn ansah, schrak er wieder zurück, aber Vanessa lächelte.
„Keine Angst“, sagte sie zärtlich, drehte sich langsam wieder um und ging auf ihn zu. Obwohl Acrux fast doppelt so groß war wie sie, war doch Vanessa diejenige, die viel größer und mächtiger erschien und Acrux zog vorsichtig den Kopf ein wenig zwischen die Schultern. Die Schatten der Erloschenen wichen vor ihr zurück, als sie die Hand nach ihm ausstreckte. „Keine Angst“, sagte sie wieder leise. „Du hast keine Schuld an dem, was passiert. Es ist alles Lucifers Werk, und ich weiß das. Es war die Dunkelheit, die dir das angetan hat.“ Und dann nahm sie sanft sein Kinn in ihre schlanken Finger, zog ihn zu sich herab und küsste ihn sachte auf die Lippen. Acrux stand wie versteinert, stieß sie nicht von sich, erwiderte den Kuss aber auch nicht.
Ein leises, einsaugendes Geräusch erklang, und als Vanessa sich wieder von ihm löste, schluckte Acrux – und merkte, dass irgendetwas anders war. Irgendetwas fehlte ihm, und er sah an sich hinab, auf seine Hände, aber alles schien noch wie vorher. Dann blickte er zu Vanessa, die nur lächelte und die Hand nach den Erloschenen ausstreckte.
„Ich weiß, ich darf das nicht tun, denn eigentlich soll jedes Lebewesen seine eigene Zeit haben“, sagte sie leise, als ihre Hand in die Dunkelheit getaucht war. „Aber ihr seid so voller Zweifel, dass ihr nicht einmal in Frieden erlöschen könnt. Yed Prior, das einzige, was dich hier hält, ist deine Unsicherheit. Keine Angst – es ist nicht so schlimm, wie du befürchtest.“ Sie lächelte.
Es war kurz still, und dann wurde die Dunkelheit etwas lichter, Stückchen für Stückchen. Vielen Dank, erklang irgendwo Yed Priors hohle Stimme. Er sagte noch etwas, aber es war schon nicht mehr zu verstehen, und im nächsten Moment war er vollends erloschen.
„Ras Alhague... Das einzige, was ich hier hält, ist Hass. Ich werde ihn dir nehmen, und dann kannst auch du in Frieden gehen.“ Vanessa lächelte noch immer leise und fixierte etwas, das niemand sehen konnte, in der Dunkelheit. Ihre Hand in der Wolke aus Schatten war mit der Fläche nach oben geöffnet.
Was? Nein! Ras Alhague klang panisch. Nein, das ist es nicht! Gäa, du musst nicht... Wehe dir, wenn...! Nein!
Vanessa schloss kurz die Augen, und dann verschwand auch Ras Alhague mit einem leisen Zischen.
Acrux beobachtete das ganze mit weit geöffneten Augen. Als nur noch Suhail Hadar übrig war, machte er endlich einen Schritt vor. „Gäa“, sagte er. Seine Stimme klang belegt. „Ich... darf ich mich wenigstens von ihr... verabschieden, ehe du sie mir nimmst?“
Vanessa lächelte etwas bitter. „Ich weiß, wie es ist, wenn man von seinem Liebsten getrennt ist“, sagte sie. „Es gibt keine schlimmeren Schmerzen auf dieser Welt als die Einsamkeit. Und das ist eine Wunde, die nicht einmal ich heilen kann. Suhail Hadar, alles, was dich hier hält... ist deine Liebe zu Acrux.“
Acrux sagte nichts, er senkte nur den Blick.
Es ist schon in Ordnung, erklang Suhail Hadars Stimme leise neben ihm. Ich wusste schon lange, dass dieser Moment kommen würde.
Acrux schwieg weiter, er ließ nur den Kopf hängen und schloss dann die Augen als Vanessa langsam wieder die Hand hob und durch die Dunkelheit strich, die sie umgab.
Die Schatten veränderten und verdichteten sich, schienen massiver zu werden und nahmen langsam Gestalt an. Es waren Arme und Beine zu erkennen, schließlich sogar ein Kopf und schwarzes Haar, weich und fein wie das einer Puppe.
Acrux konnte Suhail Hadar gerade noch auffangen, als sie zu Boden fiel. Die Frau in seinen Armen war nackt und schneeweiß, als wäre sie seit Jahren nicht an der Sonne gewesen, und ihre Augen waren leer und dunkel, aber in ihrer Brust schlug ein Herz. Sie atmete – lebte.
Acrux hielt sie fest, ganz fest, und strich ihr durch die Haare. „Aber... warum hast du...“, flüsterte er, doch Vanessa hatte sich schon umgedreht.
„Ich finde Abschiede so traurig“, sagte sie leise. Sie winkte ab und verließ dann die Villa.
Als sie draußen im Vorgarten stand, fühlte sie sich unglaublich befreit. Sie schloss die Augen und atmete tief ein. Das Gefühl, andere Leute glücklich zu mache, hatte sie schon immer am meisten geliebt.
Vanessa lächelte, hackte die Daumen in die Gürtelschlaufen ihres schwarzen Minirockes und ging dann davon. Sie wusste nicht, wo sie war, oder wo Tuomas war, oder was überhaupt als nächstes geschehen sollte, aber sie wusste, es würde sich nichts ändern, wenn sie stehenblieb.
Und unter ihren Füßen brachen kleine Gräser und knospen zwischen dem Straßenpflaster hervor.
Lucretia holte röchelnd Luft, spie Schleim und Blut auf den Teppich und stemmte sich dann hoch. Ihre faltigen Hände zitterten, das bis vor kurzem wie aufgemalt passende weiße Jackett rutschte ihr von den schmalen, gebrechlichen Schultern.
„Dieses Flittchen!“, krähte sie. „Hure! Was hat sie mit mir gemacht!“ Sie tastete nach der Wand und zog sich hoch. Ihre schwarzen Pumps waren ihr zu eng und sie trat sie wütend von den Füßen, während sie sich weiter an der Wand abstützte. Lucretia kniff die Augen zusammen, weil sie so schlecht sah, und humpelte vorwärts in das erstbeste Zimmer, das auf dem Weg war. Sie fand einen Spiegel, blicke hinein und konnte vor Entsetzen nicht einmal mehr schreien.
Die Frau, die sie im Spiegel ansah, war nicht sie. Da stand eine Greisin!
Sie tastete ihre faltigen Wangen ab, den schlaffen Busen und die dicken Oberschenkel. Sie betrachtete das lange, schlohweiße Haar und die milchigblauen Augen. „Was hat sie mir angetan?“, flüsterte sie. „Was hat sie mir angetan?!“
Lucifer stützte sich am Spiegel ab und konzentrierte sich. Die Verwandlung in seinen eigentlichen Körper hatte ihn noch niemals so viel Anstrengung gekostet, jeder seiner Muskeln schmerzte wie im Krampf, als er sich veränderte. Sein goldenes und weißes Gewand war ihm zu groß, spannte aber am Bauch, sein Diadem schien zu eng geworden zu sein. Lucifer musste nicht in den Spiegel blicken, um zu wissen, dass sein langes, goldenes Haar an der Stirn schon licht geworden war und nichts mehr von seiner eigentlichen Farbe behalten hatte.
Er war nicht mehr schön. Er war alt!
Blind vor Wut und Verzweiflung fuhr Lucifer herum. Sie hatte ihm nicht nur seine Jugend und Schönheit geraubt, sondern ihm auch fast alle Energie genommen. Selbst das Atmen schien ihm schmerzhaft geworden zu sein, und er war sich sicher, dass von seinem einst gleißenden Licht kaum mehr als ein müden Glommen übrig geblieben war. Grimmig machte er einen Schritt und schloss die Augen, als er in die Schwärze fiel.
Keuchend sah er sich in der Dunkelheit um, blickte die endlose Tür des Chaos hinauf. Das Siegel aus nackten Körpern schlang sich darüber und er meinte, das Stöhnen und Wehklagen der Versiegelten zu hören. Seit Anbeginn der Zeit waren sie hier versiegelt, und bis zum Ende aller Tage würden sie es auch bleiben. Lange würde es nicht mehr dauern, denn an der Stelle, wo das Siegel gebrochen war, quollen noch immer schwarze Schatten hervor wie ein Virus, der sich langsam in der Blutbahn verbreitete.
Lucifers dürre, mit Alterflecken übersäten Finger krallten sich um den Stoff seines Gewandes. Er würde diese Welt nicht so verlassen. Nicht so.
Er trat auf die Tür zu.
Tuomas’ Haarschopf war selbst in der dichtesten Menschenmenge nicht zu übersehen. Vanessa rief seinen Namen und prügelte sich an den Menschen vorbei, egal wie viele sie dabei umstieß.
Als Tuomas sie sah, kam er ihr entgegen, und sie fielen einander in die Arme und alles andere war egal.
Vanessa presste ihr Gesicht an seine Halsbeuge, und er hatte die Arme fest um ihren schmalen Körper gelegt und hielt sie fest, strich ihr durch das lockige, schwarze Haar. Tuomas fiel eine ganze Gebirgskette vom Herzen, so erleichtert war er, sie unbeschadet zu sehen und Vanessa fing an zu weinen. All die Angst, die sie zwischenzeitlich gehabt hatte, ließ sie jetzt endlich los.
„Mein Gott, ich hab mir Sorgen gemacht“, sagte Tuomas leise und schloss die Augen. „Tu so was nie wieder.“
„Tut mir leid“, sagte Vanessa und lachte, obwohl ihr Tränen die Sicht nahmen. „Tut mir leid.“
Mane kämpfte sich seinen Weg durch die Menge und sah für den Bruchteil einer Sekunde erleichtert aus, gewann sein Pokerface aber sofort wieder. „Gäa!“
„Hmm?“, machte Vanessa überrascht, als Tuomas sie widerstrebend wieder losließ und sich zu seinen Begleitern umwandte. „Hey, warte mal. Du bist doch der Junge von heute Morgen!“ Mane verbeugte sich wortlos. „Was zum Henker hat denn das jetzt zu bedeuten?“, fragte Vanessa, als sie auch noch Sirius auf sie zukommen sah.
„Ziemlich lange Geschichte“, sagte Sirius und rückte seine Sonnenbrille mit dem Zeigefinger zurecht. „Wichtiger ist momentan: Was ist mit Lucifer?“
„Diesem komischen transsexuellen Schönheitsoperationenkatalogsmodell?“, fragte Vanessa düster. „Keine Sorge. Ich glaube ich habe ihn... umgebracht. Oder so.“
Verblüffte Stille folgte ihren Worten, Mane, Sirius und Tuomas sahen einander über ihren Kopf hinweg an, dann zuckte Tuomas die Schultern und meinte: „Ich glaube nicht, dass man den so leicht los wird, der ist wie Kaugummi an der Schuhsohle.“
„Es würde erklären, warum wir ihn auf einmal verloren haben“, sagte Sirius und rieb sich über das Kinn. Nachdem Tuomas Vanessas Fährte gefolgt war, hatten sie im näheren Umkreis auch Lucifers Gegenwart gespürt, obgleich er sich wirklich viel Mühe gemacht hatte, sich zu tarnen und sich nicht auf einen größeren Radius hin zu verraten. Und dann, von einem auf den anderen Augenblick, war seine Aura verschwunden.
„Ich kann euch sagen, wo seine Villa steht“, wandte Vanessa hilfreich ein.
„Okay, ich habe einen Plan!“, sagte Sirius und rieb sich die Hände.
„Oh Gott, geht in Deckung“, kommentierte Tuomas trocken.
Sirius überging ihn einfach. „Gäa sagt uns, wo Lucifers Villa ist und ich gehe zusammen mit Sol hin und zusammen nehmen wir uns den Spinner mal vor. Mane, du bleibst bei Gäa und weihst eise langsam und schonen in das ein, was sie erwartet.“
Mane zeigte seine Begeisterung darin, dass er seine linke Augenbraue um einen Millimeter nach oben zog.
„Erstens, Mane, bist du damals von Sol für diese Aufgabe eingeteilt worden, du erinnerst dich sicher“, knurrte Sirius, „und zweitens mag ich nicht so stark sein wie Sol, bin ihm aber noch immer von mehr nutzen als du. Was kannst du denn schon?“
„Okay, streitet euch mal nicht“, sagte Tuomas, obwohl Mane so oder so über Sirius’ Anschuldigung stand. „Klingt nicht schlecht, und solange wir eh nichts besseres zu tun haben...“
Mane zuckte die Schultern und wandte sich dann an Vanessa. „Kommst du mit mir?“, fragte er. „Du hast sicherlich viele Fragen.“ Vanessa nickte nur stumm mit großen blauen Augen und trat dann neben Mane, der zu Tuomas blickte. „Gut. Wir bleiben hier in der Nähe, kommt einfach wieder her, wenn ihr soweit mit Lucifer fertig seid. Wenn es Probleme gibt, meldet euch, und ich hoffe, dass ich euch dann helfen kann.“
„Ich find’s toll, vollkommen unvorbereitet in die Schlacht zu rennen“, sagte Tuomas, wurde aber einfach ignoriert. Sirius packte ihn am Ärmel und wollte ihn schon mit sich ziehen, drehte sich aber noch mal um.
„Da war noch was. Wie genau kommen wir jetzt zu Lucifers Villa?“
Wird fortgesetzt.
⁂ Næhmachinery
Premonitions in the rising wind; tonight the stars will fall.
The world in a cyclone, pouring out.
No escape, but hey, who cares? Just go with the flow.
The world in a cyclone, pouring out.
No escape, but hey, who cares? Just go with the flow.