Diese Geschichte ist rein fiktional. Jede Ähnlichkeit mit realen Ereignissen, Personen oder Marken ist rein zufällig und nicht beabsichtigt.
(Klackendes Geräusch)
…
(Geräusch einer einrastenden Taste, zurückspulendes Band)
…
(Geräusch einer einrastenden Taste, kurzes Rauschen, dann in schlechter Qualität eine männliche Stimme)
„Hey, ja, also... wenn sie das hier hören, bin ich wahrscheinlich tot. Ja. Heh... ich wollte das immer schonmal sagen, aber leider stimmt es wahrscheinlich, ich sitz hier auf dem Boden meines Büros, die Stühle und Tische haben sie vor zwei Tagen abgeholt, zum zusätzlichen Heizen, das Gas wird knapp. Nicht, dass es noch viel ausgemacht hätte, denn raus kommen wir hier eh nicht mehr.
Mein Name ist Paul Dreitzfelder, und ich bin praktisch ein toter Mann. Ich bin 38 Jahre alt, geschieden, habe eine vier Jahre alte Tochter, oder hatte, weiß nicht, ob sie noch lebt irgendwo da draußen, aber eigentlich bezweifle ich das.
Heh, komisch, wie leicht mir das von den Lippen geht. Ich glaub, ich hab abgeschlossen irgendwie. Alle hier haben das. Viele sind total durchgedreht, aber ich hab mich einfach in ne Art selige Ausgeglichenheit geflüchtet, vielleicht zählt das ja auch als Durchdrehen.
Aber ich glaub, ich fang einfach mal an, von Anfang an zu erzählen.
Wie gesagt, ich heiße Paul Dreitzfelder, und von Beruf bin – oder war – ich Mikrobiologe. Biologie studiert, mit relativ guten Noten, nichts überdurchschnittliches, aber halt relativ gut, und dann in die Mikrobiologie gegangen, Virenforschung und so ein Zeug. Das ist auch alles ganz gut gegangen, wir haben hier am virologischen Institut in Frankfurt ja hervorragende Sicherheitsvorkehrungen, gab eigentlich nie wirkliche Unfälle oder Vorfälle.
Naja, angefangen hat alles so etwa vor fünf Monaten – ich weiß nicht genau, welches Datum wir haben. Wir haben die jährlichen Grippemutationen untersucht und dabei einen neuen Untertyp entdeckt, nichts großartiges, eins der Phosphorgruppenstäbchen hat einfach in die andere Richtung geguckt, das hat uns eigentlich sogar ziemlich gefreut, weil dadurch konnten wir effektiver Antibiotika einsetzen. Um dieses Phänomen dann richtig zu untersuchen, brauchten wir natürlich ne Genehmigung und entsprechende Mittel, also haben wir in einer Fachzeitschrift nen kurzen Artikel darüber veröffentlicht, und wie das alles funktionieren könnte und wie wir vielleicht sogar über diesen Untertyp die Medikamente gegen andere Typen effektiver machen könnten.
Eigentlich hätten wir es wissen müssen. Hätten wir das? Ich weiß es gar nicht. Wahrscheinlich hätte niemand es wissen können, aber im Nachhinein ist man ja immer schlauer. Es gab grad nichts Wichtiges zu berichten, Robert Wilhelms hatte ne Pause gemacht, Promis haben sich keine geschieden und die Bundesliga war total unspektakulär... Naja, wir hätten es wohl nicht wissen können, dass plötzlich irgendein Schmierjournalist aus Karlsruhe den Artikel in die Finger kriegt und sich ne Panikstory daraus bastelt. „Labor in Frankfurt entdeckt mutierten Virus“ und so ein blah, und dazu halt alle möglichen Spekulationen und vagen Anspielungen an die Spanische Grippe und so ein Zeugs. Wir hätten ja dementiert, aber das Ganze ist nur in so nem kleinen Schmierblatt erschienen, wir haben den Artikel erst Wochen später in die Hände gekriegt.
Naja, und da haben sich wohl die anderen Zeitungen gedacht, hey, wenn die daraus ne Story machen können, können wir das auch. Drei Tage später hat die BOLD-Zeitung das Thema rausgekramt und 'Experten' dazu befragt und ist zu dem Ergebnis gekommen, dass der Virus eine gigantische Gefahr für Deutschland bedeutet. Und als hätte das nicht gereicht, haben sie auch noch angedeutet, dass wir im virologischen Institut daran herumdoktern würden, aus Wissensdurst oder was auch immer. Naja, den Forschungszuschuss konnten wir erstmal vergessen.
Kam dann auch direkt zwei Tage später ein Brief des Bundesministeriums, dass wir auf der Stelle alle Forschungen an dem Ding einzustellen haben, von wegen öffentlicher Aufmerksamkeit und so, dass wir eigentlich vorhatten, ein Gegenmittel zu finden, davon natürlich kein Wort. Naja, das Ding hätte auch auf normale Medikamente reagiert, also haben wir etwas säuerlich mit den Schultern gezuckt und sind zum Tagesgeschäft übergegangen. Hatten ja noch andere neue Mutationen rumliegen.
Wenns denn damit mal getan gewesen wäre. Die nächsten Tage haben die Zeitungen sich immer mehr überschlagen mit Panikmeldungen vom Virus, was der angeblich alles tun würde und blah, haben dann getitelt, Fünfzig Grippetote in Deutschland, dass das die normalen Grippetoten waren, die jedes Jahr auftauchen, davon natürlich kein Wort, aber was auch immer. Richtig schlimm wurde es aber erst, als Ärzte angefangen haben, die neue Grippe zu diagnostizieren, keine Ahnung, wie, denn die Symptome waren genau die selben wie bei ner normalen Grippe. Aber plötzlich war es irgendwie uncool oder so, ne Grippe zu haben – neiiiiin, es musste die 'Frankfurter Mutantengrippe' sein, oder wie die Presse sie zieltreffend genannt hat, die 'Bankengrippe'.
Da fing es schon an, dass auch andere Abteilungen hier im Institut etwas unruhig wurden und sich gefragt haben, was wir hier eigentlich machen, ist ja auch klar, wenn man täglich von so ner Panikmache bombardiert wird. Tom, mein Vorgesetzter, hat ganz gute Arbeit geleistet, die Leute zu beruhigen, aber irgendwie hatte ich trotzdem das Gefühl, dass sich die anderen in der Mensa ein, zwei Bankreihen von uns entfernt etwas wohler fühlten.
Ein befreundeter Arzt, Colin, hat mir erzählt, dass einige Patienten echt angekommen sind und wollten, dass sie Bankengrippe haben, weil das 'in' war und man damit in die Schlagzeilen kommt und alles. Und dann wurden natürlich Vorwürfe laut, in den Zeitungen und so und alles, warum wir nicht schon längst an nem Gegenmittel forschen und alles. Harr, harr.
Wir haben dann ne Pressekonferenz gegeben wo wir erklärt haben, dass der Virus gar nicht so verbreitet sein kann, wie die behauptet haben, und dass er nicht einmal so gefährlich ist wie die normale Grippe und dass uns die Gelder für ein Gegenmittel gestrichen wurden. Oder, eigentlich wollten wir das erklären. Ist uns dann diese Aktionsgruppe dazwischen gekommen, irgendwelche Greenpeace-Hippies, denen nach den achten Joint das Walfänger kapern zu langweilig wurde und die jetzt meinten, sich mit gerechtem Zorn auf die bösen Wissenschaftler stürzen zu müssen.
Wir hatten kaum zwei Sätze gesagt, da kamen schon die ersten faulen Tomaten geflogen, zwei Dutzend Leute sind aufgesprungen, haben uns als 'Frankensteins' beschimpft und was weiß ich nicht alles, einer fand es wohl witzig, mit seinen Schuhen nach uns zu werfen, sollte wohl ne Anspielung auf diesen Zwischenfall mit Gregor V. Butch sein.
Wie auch immer, wir wollten dann Ruhe schaffen, aber die Saalordner haben weggeguckt, fanden es wohl ganz okay, dass diese Horror-Docs, so hat die BOLD getitelt, auch mal ihr Fett weg bekommen. So würdevoll, wie es eben ging, wenn man mit faulen Obst beworfen wird und unter Buhrufen sind wir dann aus dem Saal marschiert, einer der Saalordner hat mir noch 'ausversehen' eins mit dem Knie verpasst, ich war nich der einzige, wie sich später rausgestellt hat. Draußen wollten wir dann zum Auto, also wir vier, ich, Tom, Cindy und Stefan, da hatten die da doch tatsächlich ne Dampfwalze organisiert und sind übers Auto drübergefahren.
Ich dachte echt, mich tritt ein Hirsch, Tom hat nur leise gekeucht, war ja immerhin seins, da steht da so ein selbstgefälliger Irrer mit diesem Aktions-Button auf der Brust, 'Engagierte Bürger gegen Viren-Terror', und informiert uns betont förmlich, dass wenn wir der Meinung sind, die Gefahr abzuwiegeln und Millionen Deutsche einem tödlichen Virus auszuliefern, dass wir dann die Konsequenzen tragen müssen. Sprichts und plötzlich kommen nochmal drei Dutzend Leute aus den Hecken auf dem Parkplatz und fangen an, mit Steinen nach uns zu schmeißen, ich dachte echt, ich bin in nem falschen Film.
Wir sind natürlich gerannt wie die Hasen, da war echt Hass dabei, ich glaub, wenn die uns gekriegt hätten, hätten die uns gelyncht oder sowas. Haben alles mögliche gebrüllt, von Verwandten, die an dem Virus schwer erkrankt wären über Vergleiche mit Doktor Mengele bis hin zu 'Ihr seid die Nächsten'. Nach zwei Kilometern konnten wir dann grad so in ne U-Bahn springen und haben die Irren abgehängt, und haben uns sofort geschworen, dass wir Pressekonferenzen nur noch über Video abhalten.
Naja, was am nächsten Tag in den Zeitungen stand, muss ich wohl nicht nochmal groß aufkochen – sie erinnern sich sicherlich noch, der Konsens war eben, dass wir uns geweigert hätten, auf die Fragen zu antworten und wir nur billigste Abwiegelei und Volksverdummung praktiziert hätten, bis wir dann unter Buhrufen abgehauen sind. So kann mans natürlich auch sehen, dachten wir. Langsam hatten wir echt keinen Bock mehr.
Die Kanzlerin, Angelina Mercelli, hat dann auch die Renten gekürzt und davon 1,5 Millarden zur Verfügung gestellt, um dem Virus entgegenzuwirken. Keine Ahnung, wo das hin ist, wir haben jedenfalls nix davon gesehen, wahrscheinlich in die Taschen der Hauptaktionäre der Pharmaunternehmen. Die Medikamente waren ja alle da, aber was sind schon 1,5 Millarden, wenn sich die Wähler sicher fühlen?
Naja, immerhin haben sie sich sicher gefühlt, und...“
…
(Geräusch einer Tür, leises Murmeln)
…
(Unverständliche Stimme im Hintergrund, dann wieder Paul)
…
„Nein, ich hab dir... Nein, Andi, ich hab dir gesagt, ich hab keine Stühle mehr, tut mir leid. … Achso, Linda ist immer noch... ja, okay, verstehe... aber... hm, warte...“
…
(Sich entfernende Schritte)
…
„Nein, sorry... Aspirin sind alle, vorgestern hat Olga die letzten mitgenommen, tut mir wirklich leid, vielleicht sind im Sekretariat noch welche? Ja, frag da mal. Tut mir wirklich leid.“
…
(Näher kommende Schritte, jemand setzt sich ächzend)
…
„Das war Andi, Linda, seine Tochter ist schwer krank und wir haben keine Medikamente mehr. Aber dazu mehr später. Also, wo war ich... Ja, genau, es sah eigentlich so aus, als hätte sich die Situation dadurch einigermaßen entschärft. Die angeblichen Neuerkrankungen sind runtergegangen, Flugpassagiere wurden nicht mehr beobachtet wie Schwerverbrecher, die Zeitungen haben sich wieder anderen Themen gewidmet, die Todesrate stagnierte bei geschätzten 50-60 Toten – geschätzt natürlich, weil wirkliche Tests durchzuführen hat sich ja niemand getraut, das hätte die Seifenblase ja platzen lassen.
Aber es wurde ja besser, sogar Melissa aus der Cholera-Abteilung hat wieder mit mir geredet, hat mich ziemlich gefreut. So zwei, drei Wochen war das Thema wirklich gegessen, aber dann kam Zoey, dieses verfluchte Gör.
Zoey kennt heute jeder, besser bekannt als „BankFluGirl1994“. Verflucht sei ihr Name. Ein 14jähriges Gör aus Colorado, die plötzlich aus heiterem Himmel einen Videoblog auf Youtube gestartet hat, von wegen ihr Dad war in Deutschland und hat sich mit der Bankengrippe angesteckt und jetzt hat sie die auch und die Ärzte geben ihr nicht mehr lang zu leben und diese Mitleidsschiene eben. Die Symptome haben nicht ansatzweise mit denen der Grippe übereingestimmt, ich meine, sie hatte rote Flecken im Gesicht und zwar Fieber, aber weder Husten noch Schnupfen, sondern hat nur immer abgekämpft und müde ausgesehen... Und ich würde wetten, dass nichtmal die roten Flecken echt waren.
Jedenfalls hatte sie diesen Videoblog und hat auf herzerweichende Art und Weise die Leute an ihrem Passionsweg teilhaben lassen. Die amerikanischen Medien haben sich natürlich drauf gestürzt, immerhalb einer Woche war sie weltweit bekannt und die Panik ist wieder aufgeflammt. Die Flughäfen wurden teilweise komplett dichtgemacht, der Aktienkurs der Lüfthansel ist um 54% gefallen, Ballack Okami, der amerikanische Präsident, hat direkt mal 3 Millarden zur Seuchenbekämpfung locker gemacht – Himmel, wenn wir gewusst hätten, wie einfach das ist, hätten wir schon viel früher Panik gemacht und zwar so, dass WIR mal ein paar Forschungsgelder kriegen. Aber jetzt wars zu spät. Irgendwann hat Zoey eines Tages einfach nicht mehr gepostet, und jeder dachte natürlich, okay, sie ist tot. Jeden Tag bekamen wir hunderte Briefe mit Fotos von Zoey, alle im Stil von 'Wie könnt ihr nachts nur schlafen?' und so. Eines Morgens war dann ein Brief des Ministeriums unter den Fotos, in dem uns höflich erklärt wurde, dass uns sämtliche Unterstützung entzogen wurde und dass damit unsere Abteilung praktisch geschlossen wurde.
War natürlich ein ziemlicher Schock für uns, wir hatten drei Tage, um unsere Büros zu räumen. Die angebliche Todesquote war inzwischen auf knapp 65.000 Tote weltweit angewachsen, auch wenn diese Statistik mit bestechender Logik sämtliche Krankheitstode einberechnete, bei denen Fieber eine Rolle spielte, sowie Verkehrstote und Abtreibungen. Aber 65.000 klingt natürlich besser als 'Keine Ahnung, weil wir gar nicht mehr wissen, worum es eigentlich geht, aber wahrscheinlich gar keiner'. In Deutschland wurde dann der Notstand ausgerufen, Lokale geschlossen und niemand mehr auf die Straße nach neun Uhr und so. Die USA haben überlegt, was sie machen, um die Seuche weiter einzudämmen, und langsam schwappte der Hype auch in den Osten über, erste angebliche Fälle gabs in Polen und Tschechien und Bulgarien – heh, schon seltsam, die USA sind fast entvölkert und unsere Nachbarländer erwischts erst, sobald die Sportergebnisse dort langweilig werden.
Und dann kam der für uns so verhängnisvolle dritte Mai. Das war der Tag, an dem wir die Büros endgültig räumen sollten. Ich war grad fertig, die Medikamente rauszuräumen, bis auf meine kleine Büroapotheke, mit ein paar Hausmitteln und Aspirin, Pflaster, Desinfektionsmittel und so. Plötzlich klingelt alles, Sirenen, das Licht flackert und ich denk noch, was ist denn jetzt los. Ich also raus in den Flur, da steht auch Tom, total verwirrt, fragt mich was los ist. Ich natürlich auch keine Ahnung, also weiter, Andi hat die weinende Linda auf dem Arm, hatte sie mitgebracht, weil seine Frau grad auf Geschäftsreise war, jedenfalls Andi hat auch keinen Plan, Cindy erst recht nicht, und in der Haupthalle sehen wirs dann – irgendjemand hat den roten Knopf gedrückt, die Metalljalousien wurden runtergelassen. Eigentlich war das ein Schutzmechanismus gegen einen Seuchenausbruch, aber irgendwer hat die Nerven verloren und uns hier eingebunkert.
Eigentlich wäre jetzt ein Notruf rausgegangen an das Ministerium, damit die ein Aufräumteam schicken und uns rausholen, aber das Telefon hatte die ganze Zeit schon nicht funktioniert, Gerüchte gingen um, dass das ne Racheaktion der 'Engagierten Bürger' gewesen sein sollte, keiner wusste was genaueres. Später stellte sich dann heraus, dass die Telefongesellschaft dicht gemacht hatte, weil sich die Angestellten nicht mehr zur Arbeit getraut hatten, Joey aus der Ebola hatte noch ein Radio dabei, das noch funktionierte – über Batterien, denn nach zwei Tagen ging auch der Strom weg, da draußen war das öffentliche Leben wohl total zum Erliegen gekommen. Langsam kroch die gefühlte Seuche in Richtung Russland und China wurde sehr nervös, drohte mit militärischen Aktionen, wenn der Westen den Virus nicht unter Kontrolle brachte. Irgendein Kommentator hat in seiner Radiokolumne zwar noch satirisch bemerkt, dass niemand darüber bemerkt, dass Zoey vor zwei Tagen putzmunter in einem Einkaufszentrum gesichtet wurde, aber auf mysteriöse Weise wurde seine Kolumne dann abgesetzt.
Bei uns drinnen war die Stimmung natürlich auch nicht die Beste, tage-, wochenlang gabs nur aufgetaute Mensanahrung, davon hatten wir zum Glück genug, Wasserreservoirs auch, Medikamente auch, auch wenn dann plötzlich in der Choleraabteilung auch die Bankengrippe ausbrach, obwohl ich ja allen immer wieder zu sagen versucht hab, dass es die normale Grippe ist, und wir sie nicht behandeln durften, weil uns niemand mehr vertraut hat. 'Ich spiel nicht dein verfluchtes Versuchkaninchen' hat mich Melissa angebrüllt und mir die Tabletten aus der Hand geschlagen. Gut, dann eben nicht. Ne Woche später ist sie dann an Lungenentzündung gestorben, mangels Begräbnismöglichkeit haben wir sie und die anderen Opfer mit Bunsenbrennern eingeäschert.
Inzwischen macht es keinen Unterschied mehr. Die Grippe ist ziemlich weit rumgegangen, wir in der Grippeabteilung sind nahezu die einzigen Überlebenden, weil wir als Einzige die Medikamente dagegen eingenommen haben. Der kleinen Linda gehts ziemlich dreckig, wir hatten halt nicht mehr besonders viele Medikamente, das meiste war halt schon geräumt. Aber das Einbunkern hatte auch Vorteile – die dicken Bleijalousien schützen uns vor der Strahlung, von als China austickte und eine präventive Atombombe auf Frankfurt geworfen hat und gleich ein weiteres Dutzend auf ganz Europa, in der Hoffnung, den Virus so einzudämmen. Die USA haben natürlich zurückgeworfen, aber wie die Sache ausgegangen ist, wissen wir nicht, wir kriegen keinen Sender mehr rein. Die Gasreserven gehen langsam zur Neige, das heißt, bald haben wir auch kein Licht und keine Heizung mehr, und dann funktionieren auch die Luftfilter nicht mehr. Das macht aber nichts, weil Nahrung und Wasser gibt’s auch nicht mehr so viel.“
…
(Resigniertes Seufzen)
…
„Wenn das Telefon noch funktioniert hätte, hätte ich zumindest irgendwem da draußen Bescheid geben können, dass der Messkopf verunreinigt war, es gab gar keine Mutation mit verdrehter Phosphorgruppe. Messfehler. Passiert. Wir konnten es doch echt nicht ahnen, wie das ausgeht, oder? Naja, immerhin haben die Zeitungen jetzt was zu berichten, wenn es da draußen noch Zeitungen gibt.
Wir sind jetzt seit fünf Wochen hier eingeschlossen, die Reserven reichen noch zwei oder drei Tage. Deshalb spreche ich das hier auf Band, falls doch jemand überlebt, um es sich anzuhören, um zu erfahren, was damals, beim großen Blackout 2009 wirklich passiert ist. Wenn jemand überlebt, wird es wohl das neue Jahr Null werden, Year Zero oder was auch immer. Möget ihr in besseren Zeiten leben. Naja, und jetzt sitz ich hier also und überleg mir, ob ich irgendwas hätte tun können, das...“
…
(Geräusch einer Tür, leises Schluchzen)
…
„Andi, was ist los... Andi? Oh nein, sag mir nicht... Linda... Oh nein, Andi, es tut mir so leid, hatten... Andi, was hast du da? Verdammt, nein... Andi... Mach keinen Scheiß, Andi, nimm die Waffe runter, Andi, mach keinen Schei...“
…
(Zwei Schüsse)
…
(Stille)
(Klackendes Geräusch)
…
(Geräusch einer einrastenden Taste, zurückspulendes Band)
…
(Geräusch einer einrastenden Taste, kurzes Rauschen, dann in schlechter Qualität eine männliche Stimme)
„Hey, ja, also... wenn sie das hier hören, bin ich wahrscheinlich tot. Ja. Heh... ich wollte das immer schonmal sagen, aber leider stimmt es wahrscheinlich, ich sitz hier auf dem Boden meines Büros, die Stühle und Tische haben sie vor zwei Tagen abgeholt, zum zusätzlichen Heizen, das Gas wird knapp. Nicht, dass es noch viel ausgemacht hätte, denn raus kommen wir hier eh nicht mehr.
Mein Name ist Paul Dreitzfelder, und ich bin praktisch ein toter Mann. Ich bin 38 Jahre alt, geschieden, habe eine vier Jahre alte Tochter, oder hatte, weiß nicht, ob sie noch lebt irgendwo da draußen, aber eigentlich bezweifle ich das.
Heh, komisch, wie leicht mir das von den Lippen geht. Ich glaub, ich hab abgeschlossen irgendwie. Alle hier haben das. Viele sind total durchgedreht, aber ich hab mich einfach in ne Art selige Ausgeglichenheit geflüchtet, vielleicht zählt das ja auch als Durchdrehen.
Aber ich glaub, ich fang einfach mal an, von Anfang an zu erzählen.
Wie gesagt, ich heiße Paul Dreitzfelder, und von Beruf bin – oder war – ich Mikrobiologe. Biologie studiert, mit relativ guten Noten, nichts überdurchschnittliches, aber halt relativ gut, und dann in die Mikrobiologie gegangen, Virenforschung und so ein Zeug. Das ist auch alles ganz gut gegangen, wir haben hier am virologischen Institut in Frankfurt ja hervorragende Sicherheitsvorkehrungen, gab eigentlich nie wirkliche Unfälle oder Vorfälle.
Naja, angefangen hat alles so etwa vor fünf Monaten – ich weiß nicht genau, welches Datum wir haben. Wir haben die jährlichen Grippemutationen untersucht und dabei einen neuen Untertyp entdeckt, nichts großartiges, eins der Phosphorgruppenstäbchen hat einfach in die andere Richtung geguckt, das hat uns eigentlich sogar ziemlich gefreut, weil dadurch konnten wir effektiver Antibiotika einsetzen. Um dieses Phänomen dann richtig zu untersuchen, brauchten wir natürlich ne Genehmigung und entsprechende Mittel, also haben wir in einer Fachzeitschrift nen kurzen Artikel darüber veröffentlicht, und wie das alles funktionieren könnte und wie wir vielleicht sogar über diesen Untertyp die Medikamente gegen andere Typen effektiver machen könnten.
Eigentlich hätten wir es wissen müssen. Hätten wir das? Ich weiß es gar nicht. Wahrscheinlich hätte niemand es wissen können, aber im Nachhinein ist man ja immer schlauer. Es gab grad nichts Wichtiges zu berichten, Robert Wilhelms hatte ne Pause gemacht, Promis haben sich keine geschieden und die Bundesliga war total unspektakulär... Naja, wir hätten es wohl nicht wissen können, dass plötzlich irgendein Schmierjournalist aus Karlsruhe den Artikel in die Finger kriegt und sich ne Panikstory daraus bastelt. „Labor in Frankfurt entdeckt mutierten Virus“ und so ein blah, und dazu halt alle möglichen Spekulationen und vagen Anspielungen an die Spanische Grippe und so ein Zeugs. Wir hätten ja dementiert, aber das Ganze ist nur in so nem kleinen Schmierblatt erschienen, wir haben den Artikel erst Wochen später in die Hände gekriegt.
Naja, und da haben sich wohl die anderen Zeitungen gedacht, hey, wenn die daraus ne Story machen können, können wir das auch. Drei Tage später hat die BOLD-Zeitung das Thema rausgekramt und 'Experten' dazu befragt und ist zu dem Ergebnis gekommen, dass der Virus eine gigantische Gefahr für Deutschland bedeutet. Und als hätte das nicht gereicht, haben sie auch noch angedeutet, dass wir im virologischen Institut daran herumdoktern würden, aus Wissensdurst oder was auch immer. Naja, den Forschungszuschuss konnten wir erstmal vergessen.
Kam dann auch direkt zwei Tage später ein Brief des Bundesministeriums, dass wir auf der Stelle alle Forschungen an dem Ding einzustellen haben, von wegen öffentlicher Aufmerksamkeit und so, dass wir eigentlich vorhatten, ein Gegenmittel zu finden, davon natürlich kein Wort. Naja, das Ding hätte auch auf normale Medikamente reagiert, also haben wir etwas säuerlich mit den Schultern gezuckt und sind zum Tagesgeschäft übergegangen. Hatten ja noch andere neue Mutationen rumliegen.
Wenns denn damit mal getan gewesen wäre. Die nächsten Tage haben die Zeitungen sich immer mehr überschlagen mit Panikmeldungen vom Virus, was der angeblich alles tun würde und blah, haben dann getitelt, Fünfzig Grippetote in Deutschland, dass das die normalen Grippetoten waren, die jedes Jahr auftauchen, davon natürlich kein Wort, aber was auch immer. Richtig schlimm wurde es aber erst, als Ärzte angefangen haben, die neue Grippe zu diagnostizieren, keine Ahnung, wie, denn die Symptome waren genau die selben wie bei ner normalen Grippe. Aber plötzlich war es irgendwie uncool oder so, ne Grippe zu haben – neiiiiin, es musste die 'Frankfurter Mutantengrippe' sein, oder wie die Presse sie zieltreffend genannt hat, die 'Bankengrippe'.
Da fing es schon an, dass auch andere Abteilungen hier im Institut etwas unruhig wurden und sich gefragt haben, was wir hier eigentlich machen, ist ja auch klar, wenn man täglich von so ner Panikmache bombardiert wird. Tom, mein Vorgesetzter, hat ganz gute Arbeit geleistet, die Leute zu beruhigen, aber irgendwie hatte ich trotzdem das Gefühl, dass sich die anderen in der Mensa ein, zwei Bankreihen von uns entfernt etwas wohler fühlten.
Ein befreundeter Arzt, Colin, hat mir erzählt, dass einige Patienten echt angekommen sind und wollten, dass sie Bankengrippe haben, weil das 'in' war und man damit in die Schlagzeilen kommt und alles. Und dann wurden natürlich Vorwürfe laut, in den Zeitungen und so und alles, warum wir nicht schon längst an nem Gegenmittel forschen und alles. Harr, harr.
Wir haben dann ne Pressekonferenz gegeben wo wir erklärt haben, dass der Virus gar nicht so verbreitet sein kann, wie die behauptet haben, und dass er nicht einmal so gefährlich ist wie die normale Grippe und dass uns die Gelder für ein Gegenmittel gestrichen wurden. Oder, eigentlich wollten wir das erklären. Ist uns dann diese Aktionsgruppe dazwischen gekommen, irgendwelche Greenpeace-Hippies, denen nach den achten Joint das Walfänger kapern zu langweilig wurde und die jetzt meinten, sich mit gerechtem Zorn auf die bösen Wissenschaftler stürzen zu müssen.
Wir hatten kaum zwei Sätze gesagt, da kamen schon die ersten faulen Tomaten geflogen, zwei Dutzend Leute sind aufgesprungen, haben uns als 'Frankensteins' beschimpft und was weiß ich nicht alles, einer fand es wohl witzig, mit seinen Schuhen nach uns zu werfen, sollte wohl ne Anspielung auf diesen Zwischenfall mit Gregor V. Butch sein.
Wie auch immer, wir wollten dann Ruhe schaffen, aber die Saalordner haben weggeguckt, fanden es wohl ganz okay, dass diese Horror-Docs, so hat die BOLD getitelt, auch mal ihr Fett weg bekommen. So würdevoll, wie es eben ging, wenn man mit faulen Obst beworfen wird und unter Buhrufen sind wir dann aus dem Saal marschiert, einer der Saalordner hat mir noch 'ausversehen' eins mit dem Knie verpasst, ich war nich der einzige, wie sich später rausgestellt hat. Draußen wollten wir dann zum Auto, also wir vier, ich, Tom, Cindy und Stefan, da hatten die da doch tatsächlich ne Dampfwalze organisiert und sind übers Auto drübergefahren.
Ich dachte echt, mich tritt ein Hirsch, Tom hat nur leise gekeucht, war ja immerhin seins, da steht da so ein selbstgefälliger Irrer mit diesem Aktions-Button auf der Brust, 'Engagierte Bürger gegen Viren-Terror', und informiert uns betont förmlich, dass wenn wir der Meinung sind, die Gefahr abzuwiegeln und Millionen Deutsche einem tödlichen Virus auszuliefern, dass wir dann die Konsequenzen tragen müssen. Sprichts und plötzlich kommen nochmal drei Dutzend Leute aus den Hecken auf dem Parkplatz und fangen an, mit Steinen nach uns zu schmeißen, ich dachte echt, ich bin in nem falschen Film.
Wir sind natürlich gerannt wie die Hasen, da war echt Hass dabei, ich glaub, wenn die uns gekriegt hätten, hätten die uns gelyncht oder sowas. Haben alles mögliche gebrüllt, von Verwandten, die an dem Virus schwer erkrankt wären über Vergleiche mit Doktor Mengele bis hin zu 'Ihr seid die Nächsten'. Nach zwei Kilometern konnten wir dann grad so in ne U-Bahn springen und haben die Irren abgehängt, und haben uns sofort geschworen, dass wir Pressekonferenzen nur noch über Video abhalten.
Naja, was am nächsten Tag in den Zeitungen stand, muss ich wohl nicht nochmal groß aufkochen – sie erinnern sich sicherlich noch, der Konsens war eben, dass wir uns geweigert hätten, auf die Fragen zu antworten und wir nur billigste Abwiegelei und Volksverdummung praktiziert hätten, bis wir dann unter Buhrufen abgehauen sind. So kann mans natürlich auch sehen, dachten wir. Langsam hatten wir echt keinen Bock mehr.
Die Kanzlerin, Angelina Mercelli, hat dann auch die Renten gekürzt und davon 1,5 Millarden zur Verfügung gestellt, um dem Virus entgegenzuwirken. Keine Ahnung, wo das hin ist, wir haben jedenfalls nix davon gesehen, wahrscheinlich in die Taschen der Hauptaktionäre der Pharmaunternehmen. Die Medikamente waren ja alle da, aber was sind schon 1,5 Millarden, wenn sich die Wähler sicher fühlen?
Naja, immerhin haben sie sich sicher gefühlt, und...“
…
(Geräusch einer Tür, leises Murmeln)
…
(Unverständliche Stimme im Hintergrund, dann wieder Paul)
…
„Nein, ich hab dir... Nein, Andi, ich hab dir gesagt, ich hab keine Stühle mehr, tut mir leid. … Achso, Linda ist immer noch... ja, okay, verstehe... aber... hm, warte...“
…
(Sich entfernende Schritte)
…
„Nein, sorry... Aspirin sind alle, vorgestern hat Olga die letzten mitgenommen, tut mir wirklich leid, vielleicht sind im Sekretariat noch welche? Ja, frag da mal. Tut mir wirklich leid.“
…
(Näher kommende Schritte, jemand setzt sich ächzend)
…
„Das war Andi, Linda, seine Tochter ist schwer krank und wir haben keine Medikamente mehr. Aber dazu mehr später. Also, wo war ich... Ja, genau, es sah eigentlich so aus, als hätte sich die Situation dadurch einigermaßen entschärft. Die angeblichen Neuerkrankungen sind runtergegangen, Flugpassagiere wurden nicht mehr beobachtet wie Schwerverbrecher, die Zeitungen haben sich wieder anderen Themen gewidmet, die Todesrate stagnierte bei geschätzten 50-60 Toten – geschätzt natürlich, weil wirkliche Tests durchzuführen hat sich ja niemand getraut, das hätte die Seifenblase ja platzen lassen.
Aber es wurde ja besser, sogar Melissa aus der Cholera-Abteilung hat wieder mit mir geredet, hat mich ziemlich gefreut. So zwei, drei Wochen war das Thema wirklich gegessen, aber dann kam Zoey, dieses verfluchte Gör.
Zoey kennt heute jeder, besser bekannt als „BankFluGirl1994“. Verflucht sei ihr Name. Ein 14jähriges Gör aus Colorado, die plötzlich aus heiterem Himmel einen Videoblog auf Youtube gestartet hat, von wegen ihr Dad war in Deutschland und hat sich mit der Bankengrippe angesteckt und jetzt hat sie die auch und die Ärzte geben ihr nicht mehr lang zu leben und diese Mitleidsschiene eben. Die Symptome haben nicht ansatzweise mit denen der Grippe übereingestimmt, ich meine, sie hatte rote Flecken im Gesicht und zwar Fieber, aber weder Husten noch Schnupfen, sondern hat nur immer abgekämpft und müde ausgesehen... Und ich würde wetten, dass nichtmal die roten Flecken echt waren.
Jedenfalls hatte sie diesen Videoblog und hat auf herzerweichende Art und Weise die Leute an ihrem Passionsweg teilhaben lassen. Die amerikanischen Medien haben sich natürlich drauf gestürzt, immerhalb einer Woche war sie weltweit bekannt und die Panik ist wieder aufgeflammt. Die Flughäfen wurden teilweise komplett dichtgemacht, der Aktienkurs der Lüfthansel ist um 54% gefallen, Ballack Okami, der amerikanische Präsident, hat direkt mal 3 Millarden zur Seuchenbekämpfung locker gemacht – Himmel, wenn wir gewusst hätten, wie einfach das ist, hätten wir schon viel früher Panik gemacht und zwar so, dass WIR mal ein paar Forschungsgelder kriegen. Aber jetzt wars zu spät. Irgendwann hat Zoey eines Tages einfach nicht mehr gepostet, und jeder dachte natürlich, okay, sie ist tot. Jeden Tag bekamen wir hunderte Briefe mit Fotos von Zoey, alle im Stil von 'Wie könnt ihr nachts nur schlafen?' und so. Eines Morgens war dann ein Brief des Ministeriums unter den Fotos, in dem uns höflich erklärt wurde, dass uns sämtliche Unterstützung entzogen wurde und dass damit unsere Abteilung praktisch geschlossen wurde.
War natürlich ein ziemlicher Schock für uns, wir hatten drei Tage, um unsere Büros zu räumen. Die angebliche Todesquote war inzwischen auf knapp 65.000 Tote weltweit angewachsen, auch wenn diese Statistik mit bestechender Logik sämtliche Krankheitstode einberechnete, bei denen Fieber eine Rolle spielte, sowie Verkehrstote und Abtreibungen. Aber 65.000 klingt natürlich besser als 'Keine Ahnung, weil wir gar nicht mehr wissen, worum es eigentlich geht, aber wahrscheinlich gar keiner'. In Deutschland wurde dann der Notstand ausgerufen, Lokale geschlossen und niemand mehr auf die Straße nach neun Uhr und so. Die USA haben überlegt, was sie machen, um die Seuche weiter einzudämmen, und langsam schwappte der Hype auch in den Osten über, erste angebliche Fälle gabs in Polen und Tschechien und Bulgarien – heh, schon seltsam, die USA sind fast entvölkert und unsere Nachbarländer erwischts erst, sobald die Sportergebnisse dort langweilig werden.
Und dann kam der für uns so verhängnisvolle dritte Mai. Das war der Tag, an dem wir die Büros endgültig räumen sollten. Ich war grad fertig, die Medikamente rauszuräumen, bis auf meine kleine Büroapotheke, mit ein paar Hausmitteln und Aspirin, Pflaster, Desinfektionsmittel und so. Plötzlich klingelt alles, Sirenen, das Licht flackert und ich denk noch, was ist denn jetzt los. Ich also raus in den Flur, da steht auch Tom, total verwirrt, fragt mich was los ist. Ich natürlich auch keine Ahnung, also weiter, Andi hat die weinende Linda auf dem Arm, hatte sie mitgebracht, weil seine Frau grad auf Geschäftsreise war, jedenfalls Andi hat auch keinen Plan, Cindy erst recht nicht, und in der Haupthalle sehen wirs dann – irgendjemand hat den roten Knopf gedrückt, die Metalljalousien wurden runtergelassen. Eigentlich war das ein Schutzmechanismus gegen einen Seuchenausbruch, aber irgendwer hat die Nerven verloren und uns hier eingebunkert.
Eigentlich wäre jetzt ein Notruf rausgegangen an das Ministerium, damit die ein Aufräumteam schicken und uns rausholen, aber das Telefon hatte die ganze Zeit schon nicht funktioniert, Gerüchte gingen um, dass das ne Racheaktion der 'Engagierten Bürger' gewesen sein sollte, keiner wusste was genaueres. Später stellte sich dann heraus, dass die Telefongesellschaft dicht gemacht hatte, weil sich die Angestellten nicht mehr zur Arbeit getraut hatten, Joey aus der Ebola hatte noch ein Radio dabei, das noch funktionierte – über Batterien, denn nach zwei Tagen ging auch der Strom weg, da draußen war das öffentliche Leben wohl total zum Erliegen gekommen. Langsam kroch die gefühlte Seuche in Richtung Russland und China wurde sehr nervös, drohte mit militärischen Aktionen, wenn der Westen den Virus nicht unter Kontrolle brachte. Irgendein Kommentator hat in seiner Radiokolumne zwar noch satirisch bemerkt, dass niemand darüber bemerkt, dass Zoey vor zwei Tagen putzmunter in einem Einkaufszentrum gesichtet wurde, aber auf mysteriöse Weise wurde seine Kolumne dann abgesetzt.
Bei uns drinnen war die Stimmung natürlich auch nicht die Beste, tage-, wochenlang gabs nur aufgetaute Mensanahrung, davon hatten wir zum Glück genug, Wasserreservoirs auch, Medikamente auch, auch wenn dann plötzlich in der Choleraabteilung auch die Bankengrippe ausbrach, obwohl ich ja allen immer wieder zu sagen versucht hab, dass es die normale Grippe ist, und wir sie nicht behandeln durften, weil uns niemand mehr vertraut hat. 'Ich spiel nicht dein verfluchtes Versuchkaninchen' hat mich Melissa angebrüllt und mir die Tabletten aus der Hand geschlagen. Gut, dann eben nicht. Ne Woche später ist sie dann an Lungenentzündung gestorben, mangels Begräbnismöglichkeit haben wir sie und die anderen Opfer mit Bunsenbrennern eingeäschert.
Inzwischen macht es keinen Unterschied mehr. Die Grippe ist ziemlich weit rumgegangen, wir in der Grippeabteilung sind nahezu die einzigen Überlebenden, weil wir als Einzige die Medikamente dagegen eingenommen haben. Der kleinen Linda gehts ziemlich dreckig, wir hatten halt nicht mehr besonders viele Medikamente, das meiste war halt schon geräumt. Aber das Einbunkern hatte auch Vorteile – die dicken Bleijalousien schützen uns vor der Strahlung, von als China austickte und eine präventive Atombombe auf Frankfurt geworfen hat und gleich ein weiteres Dutzend auf ganz Europa, in der Hoffnung, den Virus so einzudämmen. Die USA haben natürlich zurückgeworfen, aber wie die Sache ausgegangen ist, wissen wir nicht, wir kriegen keinen Sender mehr rein. Die Gasreserven gehen langsam zur Neige, das heißt, bald haben wir auch kein Licht und keine Heizung mehr, und dann funktionieren auch die Luftfilter nicht mehr. Das macht aber nichts, weil Nahrung und Wasser gibt’s auch nicht mehr so viel.“
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(Resigniertes Seufzen)
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„Wenn das Telefon noch funktioniert hätte, hätte ich zumindest irgendwem da draußen Bescheid geben können, dass der Messkopf verunreinigt war, es gab gar keine Mutation mit verdrehter Phosphorgruppe. Messfehler. Passiert. Wir konnten es doch echt nicht ahnen, wie das ausgeht, oder? Naja, immerhin haben die Zeitungen jetzt was zu berichten, wenn es da draußen noch Zeitungen gibt.
Wir sind jetzt seit fünf Wochen hier eingeschlossen, die Reserven reichen noch zwei oder drei Tage. Deshalb spreche ich das hier auf Band, falls doch jemand überlebt, um es sich anzuhören, um zu erfahren, was damals, beim großen Blackout 2009 wirklich passiert ist. Wenn jemand überlebt, wird es wohl das neue Jahr Null werden, Year Zero oder was auch immer. Möget ihr in besseren Zeiten leben. Naja, und jetzt sitz ich hier also und überleg mir, ob ich irgendwas hätte tun können, das...“
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(Geräusch einer Tür, leises Schluchzen)
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„Andi, was ist los... Andi? Oh nein, sag mir nicht... Linda... Oh nein, Andi, es tut mir so leid, hatten... Andi, was hast du da? Verdammt, nein... Andi... Mach keinen Scheiß, Andi, nimm die Waffe runter, Andi, mach keinen Schei...“
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(Zwei Schüsse)
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(Stille)