Warum der Sperrmüll den Wecker mitnahm

    • Warum der Sperrmüll den Wecker mitnahm

      Gerne wäre Raphael an diesem Abend unter Menschen gewesen.
      Mit dem Hauch eines kalten Lächelns, mimisch illustrierter Zynik par excellence, quittierte er das eben Festgestellte: Der leere Email-Account, das stumme Telefon, die verstaubte Türklinke - trotz kontinuierlicher Untätigkeit waren diese zu Fixpunkten seines täglichen Wirkens geworden. Ihnen behagte ihre Rolle, so gut sogar, dass sie fleißig darauf bedacht zu sein schienen, sie auf ewig inne zu haben. Dazu erwählten sie die konservative Weise der Pflichterfüllung, das Motto des japanischen Fließbandarbeiters: So wie es ist, ist es gut.
      Während also das apathisch zustaubende Dreiergrüppchen Gott einen guten Mann sein ließ und sich nicht weiter rührte, wurde ihm Aufmerksamkeit zuteil. Raphaels Aufmerksamkeit. Oft, in letzter Zeit immer öfter. Stündlich, minütlich huschte sein Blick zur Pforte, jedes schrille Geräusch riss seinen Kopf in Richtung des Telefones, eilig und unermüdlich wurde die längst einprogrammierte Motorik der Passworteingabe zur Nutzung des Servers abgerufen.
      Alles stagnierte. Sogar die Zeit stand still, nach Uhren spähte man vergebens. Raphael hatte sie vor einiger Zeit als enervierendes, zermürbendes Teufelswerk aus seiner Welt verbannt, sich selbst sagte er später wieder und wieder, das Ticken zerstöre Ideen und Gedankenkonstrukte, weshalb er es umgehend hatte entfernen müssen.
      In Wahrheit resultierte dieser temporale Genozid aus purer Panik.


      "Rackatackatackata!" >>Die Uhr, sie tickt! Einmal, zweimal!<<
      "Rackazack!" Raphael starrt sie an.
      Dreimal! "Tackatack!" >>Die Zeit, sie rennt und du musst mit!<<
      Viermal! Er verdeckt seine Ohren.
      >>Der Zeiger knarrt, er ächzt und stöhnt! Hurtig hüpft er - nur nach vorne, weiter, weiter!<<
      Fünfmal! Raphael schlägt die Hände vor seinem Gesicht zusammen, sein Kiefer krampft.
      >>Schnippeschnappe! Zähne sägen! Schnippeschnapp die Zunge ab!<<
      Er spuckt den ekelerregenden Fetzen aus. Widerlich!
      Sechsmal, sechsmal! "Rackatack!"
      Raphael ahnt es, er sieht ihn, den Feind. Der Bastard ist da, verborgen. Er kennt ihn. Er kriegt ihn.
      "KUCKUCK!" Waaaaaah!! "KUCKUCK!" Waaaaaah!!!
      Mit einem gellenden Schrei drischt der Feind gegen das versiegelte Portal der Zwischenwelt, er reißt es auf! Arglistig funkelt sein Blick, sein markerschütterndes Brüllen dröhnt wie eine Presslufthammerbrigade in Raphaels Schädel.
      "KUCKUCK!"
      Raphael reißt die Hände vom Gesicht, blickt zur Decke als erwarte er einen Vollmachtsbescheid von oben.
      Er fokussiert den Feind, perfide bohrt sich sein Blick durch dessen despotisch glitzernde, schwarze Knopfaugen. Er liest ihn, er erkennt ihn. Er versteht ihn.
      "Du willst sie mir also nehmen?"
      Nonchalant spricht er den Satan an. Überlegen und voller Sarkasmus, angespannt und voller Kraft, gewappnet für die finale Schlacht.
      Der Endsieg ist nah!
      Hysterisch kreischend stürzt sich Raphael auf die jaulende Kreatur. "KUCK..."
      Er packt den Feind, erstickt dessen Kampfgeschrei. Er würgt ihn, fleddert ihn, hämmert den gottverdammten Geier auf's Parkett bis... bis er endgültig schweigt.


      Weil die Uhr endlich aufhörte zu ticken, erhob sich Raphael, räumte die kaputten Reste zusammen, nahm noch einen Wecker und stellte beides vor die Tür seiner Wohnung. Dann schaute er nach, ob ihm jemand eine Email geschickt hatte.
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      Stört euch bitte nicht am Präsens im Mittelteil, dies soll nämlich Teil eines Hörspiels werden. Wenn die Komposition dazu endlich steht und ein Aufnahmegerät aufzutreiben ist, kann ich eventuell sogar eine mp3-Datei etwaigen Interessenten zukommen lassen!

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    • Großartig, in meinen Augen. Mehr davon

      Eventuell mag es an meiner gnadenlos überzogenen Assoziationssucht liegen, aber dein Werk liest sich angenehmerweise wie eine Mischung aus der Tineoidea und Alice im Wunderland.
      Ausführliche Kommentare können folgen, wenn ich mehr davon gelesen und das bisher Vorhandene verdaut habe. Alles andere als leichte Lektüre, trotzdem alltagsnah, sehr reizvoll insgesamt.
      Falls mehr vorhanden - immmer her damit, ich bin sehr neugierig. Auch auf das Hörspiel.

      dead girls dry each others eyes
      and pretend for a while
      that we're still alive.


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    • Ein neuer Teil. Bezüglich Chronologie mache ich mir später Gedanken. Ich bin gespannt, was davon gehalten wird, Sirius Assoziation da oben machte mich jedenfalls vor Glück Purzelbäume schlagen. Im übertragenen Sinne ^^'.





      Heute Abend saß Raphael auf seinem Canapé und hörte Radio.
      Angespannt und in freudiger Erwartung warf er einen Blick auf die Kuckucksuhr, die über dem Radio an der Wand hing. Wie schön sie doch war! Vergleichsweise schlicht, einzig zwei geschnitzte Singvögel zierten ihre Front. Eichenlaub umflocht den Korpus der Uhr, rankte efeugleich hinan und hielt in Höhe eines kleinen Türchens inne.
      Hier saß der bunte Kuckuck, der fröhliche Bewohner der Uhr. Ihn zeichnete eine helle, kehlige Stimme aus. Akurate Pünktlichkeit war ein weiteres liebenswertes Attribut des Piepmatzes.
      Heute allerdings ließ sich der Vogel Zeit, er schien mitbekommen zu haben, wie sehr Raphael hoffte, ihn endlich hören und sehen zu dürfen. Dies war sicher eine Freude für den Kuckuck, auch er mochte es, begehrt zu werden. Dass Raphaels Anspannung jedoch allein dem Zeitpunkt galt, den kundzutun des Kuckucks Pflicht war, erkannte dieser aufgrund seiner Neigung zu leichter Hybris nicht.

      Eine Frau sang. Jedenfalls musste man davon ausgehen, denn eine Geburt von Drillingen wurde wohl nicht live im Radio übertragen, auch wenn es sehr danach klang. Da bereits das Gitarrensolo einsetzte und die Gute nun zu jodeln begann, war Raphael angesichts des baldigen Endes dieser künstlerischen Darbietung im Bereich Pop guter Dinge.
      Christina Aguilera verstummte, die Uhr schlug zehn.
      Etwas zögerlich öffnete der Kuckuck sein Türchen und spitzte hinaus. Er linste kurz durch den Raum, erblickte den auf der Couch sitzenden Raphael und schleuderte ihm einen gellenden Gruß entgegen, nicht ohne mit den Flügelchen zu schlagen.
      Dabei zwinkerte er Raphael vergnügt zu, was dieser seinerseits mit einem wissenden Lächeln bedachte.

      Raphael erhob sich und strich über sein Gewand um es von Falten und Staub zu befreien. In der Tat hatte sich hiervon einiges angesammelt, immerhin verharrte Raphael drei lange Wochen in strenger Askese auf dem Canapé und unterhielt sich einzig durch sein altes Kofferradio.
      Die Uhr hatte ihn gerufen, die Zeit war nun reif.
      Bei der letzten, intensiven Betrachtung, der er sein Domizil unterwarf, ignorierte er den deutlichen Gesäßabdruck, der die dreiwöchige Dauerbelastung des Canapés bezeugte, denn er erfüllte ihn mit Scham. Er wollte nichts hinterlassen; sein Körper tat es dennoch.
      Raphael wandte sich nun der Uhr zu, durchschritt das Portal und betrat die Anderswelt.

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    • okay sehr guter und auch sehr komplexer Schreibstil ;)
      Außerdem denke ich das es beabsichtigt ist, dass man am anfang nicht allzu viel kapiert, deshalb sage ich dazu nichts...

      ich jedenfalls bin gespannt auf das hörspiel und den nächsten teil der geschichte, auch wenn ich zurzit viel damit beschäftigt bin, mein eigenes werk weiterzuführen ;)
    • Deine Story ähnelt hochprozentiger (=bitterer) Schokolade: Wem sie schmeckt, der wird sie wahrlich genießen, kann und muss sie sich ganz langsam auf der Zunge zergehen lassen. Wer Kakao in dieser Konzentration nicht ausstehen kann, würde sie wohl sofort wieder ausspucken. ^^

      Ich habe den Anfang des zuerst geschriebenen Teils nicht ganz verstanden, aber beim Weiterlesen wurde das alles klarer. Wenn die Story vorgelesen wird, sollte dies auf alle Fälle ganz langsam geschehen. *g* Dein Schreibstil erinnert mich ein wenig an "Die Blechtrommel". xD

      Ark
    • interessant was du da schreibst. lustig zu lesen, eine alltagsgeschichte und dennoch ziemlich komplex. vorallem der erste teil ist bewundernswert. xD
      ich möchte auch gerne wissen wo du wörter wie "hybris" her hast, das hört man ja nicht alle tage.
      Geistreiche Zitate einer geistreichen Zeit #39


      Lem: ihr iq war 75
      mechanicbird: omg
      mechanicbird: woher weißt du das überhaupt? xD
      Lem: hat sie mal erzählt
      mechanicbird: sowas erzählt man doch nicht öffentlich...
      Lem: tja nur wenn man dumm ist
      mechanicbird: xD
      Lem: LMAO
      mechanicbird: HAHAHAHA
      mechanicbird: oh mann, shit xDDDDD
    • Zwei neue Texte von mir. Ersterer ist uralt (mehrere Jahre) und hat hier eigentlich auch nur der in meinen Augen interessanten conclusio wegen so etwas wie "Existenzberechtigung"; der zweite existiert erst seit wenigen Wochen. Wer will, darf mit beinharter, grenzenaufzeigender Kritik nicht sparen!

      Mein Traum

      Dunkel war's, die Glühbirne, die an einem schlecht isolierten Kabel von der Decke hing, schien helle...So finge die Geschichte, welche im Folgenden erzählt wird, an, sei sie eine lustige, eine schöne, eine gute Geschichte. Ob sie das ist, darf im Nachhinein jeder für sich selbst entscheiden - den Protagonisten dieses Stückes jedenfalls hat der damalige, nahezu allgegenwärtige Horror für sein Leben gezeichnet - in Form von Narben. Nun verstünde der geneigte Leser eben erwähnte Narben sicherlich gerne als solche, die er kennt:
      Schrammen, dünne Fäden, die sich durch fahle Helligkeit von der sie umgebenden Haut unterscheiden, aufgekratzte Windpocken. Viele Narben sind jedoch rein psychischer Natur, wie sie so oft beschrieben, analysiert und katalogisiert wurden und schon so manchem Psychologen eine Promotion nebst nachfolgendem Job auf oder neben einer Couch bescherten.

      Nein, die folgende Geschichte ist keine gute - es ist eine Geschichte voller Paradoxien, voller Zweifel und Kuriositäten. Es ist eine traurige, eine bestürzende, doch immerhin eine wahre Geschichte, und das können Sie mir glauben, denn ich habe schon viele Geschichten erzählt, und ich bin auch gerne bereit, Sie wieder an der Hand zu nehmen und durch surrealistische Szenarien führen, durch wirre Gedankengänge und zu seltsamen Menschen, die gefährliche Dinge tun. Gefährliche Dinge, jedoch auch böse Dinge.



      Ich.
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      Atlantis

      Ein lauter Donnerhall ließ die Mauern der Millionenstadt erzittern, verklang und wurde vom tosenden Prasseln der Wassermassen, die sich aus fast schwarzen Wolkenburgen ergossen, übertönt. Doch auch diese, aufgrund ihrer Kontinuität für das Ohr nicht mehr wesentliche Geräuschkulisse wurde bald unterbrochen: nach wenigen Sekunden erfolgte ein erschauderndes , unwirklich scheinendes Erhellen des Himmels durch silberne Blitze, was wiederum einen sofortigen Kanonendonner nach sich zog.
      Dieses infernalische audiovisuelle Schauspiel der Superlative wiederholte sich ununterbrochen minütlich, stündlich, täglich und nun schon seit fast drei Wochen.
      Wo die Straßen zu jener Tageszeit normalerweise ein Ort des fröhlichen Zusammenkommens verschiedener Händler und Wirte, Musikanten, Porträtisten und allerlei Fahrenden Volks waren, umgarnt von den angeregten und neugierigen Blicken der Bürger der Stadt, wurde der Mensch entmachtet, wurde Entfremdung vernichtet, wurde Kultur von Natur überrollt.
      Der fröhliche Flax und die heiteren Wortfetzen, die ab und an aus dem Stimmengewühl aufzuschnappen waren, wichen Tristesse und den sensiblen Geist zerrüttender, akustischer Traktierung; das malerische Ideal einer belebten, Glück, Erfolg und Zukunft verheißenden Metropole einer dem unvermeidbaren Untergang geweihten Stadt, derer Bürger hehrstes Ziel es noch sein konnte, so schnell wie möglich ihr Heil in der Flucht zu finden.
      Einzelne, kaum wahrnehmbare Türme ragten nun, fahlen Mahnmalen gleich, wie den Himmel stützende Säulen zur Wolkendecke hinan als verlassene Bastionen der Menschheit gegen die sich auflehnende Allmacht, die zuvor selbstherrlich und schonungslos gegeißelt und entartet wurde.

      Das Wasser tropfte von den einst stolzen Dächern und sammelte sich in zahllosen Rinnsälen auf dem Pflaster der leeren Straßen, fand sich zusammen in den vielen, doch unzureichenden Öffnungen der Kanalisation. Überfordert und lächerlich schwach wirkten sie, suchten sie doch der Fluten Herr zu werden, jedoch vergebens. Sie scheiterten, scheiterten im Ernstfall wie alles andere, was der Mensch der Natur zwecks Selbstschutz und Arterhaltung entgegen zu setzen vermochte, gaben sich letztendlich ihrem Schicksal hin indem sie, kapitulierend gluckernd, das einzudringen versuchende Wasser abwiesen und überstrapaziert der Versuchung erlagen, den angestauten Frust auf die Straßen zu speien.
      Müll, ertrunkene Ratten und Fäkalien fanden ihren Weg aus den Kanälen, wurden hinauf gerissen und stanken, das komplette Spektrum der widerwärtigsten Gerüche abdeckend, als brechreizerregendes Gesamtkonstrukt zum Himmel.
      Ein letzter Protest der sterbenden Zivilisation, der wohl irgendwo zwischen Selbstaufgabe und Trotzreaktion anzusiedeln war.

      Der Mensch an sich protestierte nicht mehr. Er war entweder tot oder auf der Flucht – Atlantis' Gemäuer jedenfalls waren bar jeder Menschenseele und einzig mit bräunlichem Schlamm und sie stetig durchschwemmendem Wasser angereichert. In gewisser Weise ähnelten sie den letzten verbleibenden Stumpen im geifernden, verfaulten Gebiss eines alten, verreckenden Mannes im klaren Strom des täglich konsumierten Pennerglücks.
      Wie leere Augenhöhlen blickten die Häuser umher, teils klagend, teils ihrem Schicksal ergeben trauernd, während sich die reißenden Fluten sowohl von außen als auch im Inneren durch sie hindurch fraßen. Bis in die ersten Etagen reichte der Wasserspiegel zur Zeit und der Sturmwind peitschte höhnisch jaulend ein ums andere Mal gegen die Wände, zerschmetterte die Fenster und zerpflügte die Dächer. Ziegel lösten sich und stürzten in die Tiefe, wo sie vom alles verschlingenden Sog des Wassers sozusagen als pars pro toto unwiederbringlich hinunter gezerrt wurden.

      Im Garten
      Raphael schaltete den Fernseher aus. „Blubb“, bemerkte er während er dem goldenen Etui eine weitere Zigarette entnahm, sie anzündete und genüsslich weihrauchte.
      „Das beschreibt es relativ treffend, ja. Aber seien wir ehrlich: Wir wussten es. Übermotiviert hat der eitle Alte die Stadt aus dem Boden gestampft, völlig konzeptfrei.“
      Gabriel griff nach einer güldenen Karaffe und ließ einen großen Schluck vom Blute des Allmächtigen in sich hinein gluckern, anschließend hickste er. Um das sperrige Teil loszuwerden beugte er sich nach vorne und ächzte myrrhisch. Klirrend fand der edel eingefäßte, flüssig gewordene Herr seinen Platz unter dem Gartenmobiliar. Gabriel lümmelte sich wieder in den Korbsessel. Er zog die Stirn in Falten und blickte prüfend in Raphaels Augen.
      „Raph, wenn Mike Recht behält, wenn der Verrückte...“
      Ein lautes Ploppenl ließ Getränke überschwappen und Zigaretten vom Tisch rollen, Michael manifestierte sich gegenüber der Sitzgruppe. Euphorisch und mit vor Glück zuckenden Lippen starrte er Raph und Gabe eindringlich an. Sein Mund formte ein Lächeln, glücklich und erfüllt hauchte er:
      „Die Menschen sind tot. Gott ist tot.“

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