Ja, lange meldete ich mich nicht, und nun bin ich wieder hier.
In der Zwischenzeit, während meiner inaktiven Phase, schrieb ich einige Geschichten, die ich in Zukunft in diesem Thread präsentieren werde.
Den Anfang macht dieses Werk:
Im uralten Gestein der Gebirge lässt sich so manche wundersame als auch faszinierende Geschichte nachlesen. Es sind Geschichten, die oft Wehmut, Sehnsucht und Verlangen nach einer bestimmten Eigenschaft oder Sache widerspiegeln. Einige dieser Geschichten finden ein gutes Ende, andere wiederum besitzen eine Melancholie, die uns verzweifeln lässt.
Man sagt sich, dort, wo das Gestein und der Fels so hell leuchten wie ein Kristall, seien Orte, an denen sich das Gute befand. Positive Erlebnisse sind das, die trotz ihrer scheinbaren Hoffnungslosigkeit ein Verlangen nach Wahrheit in uns wecken. Eines davon soll hier nun erzählt werden.
Es geschah im Jahre 1899. Man freute sich auf das bevorstehende Jahrhundert, denn es sollte Fortschritt und Entwicklung bedeuten, die Menschheit sollte über sich hinauswachsen und die Technik immer mehr das Leben eines Individuums bestimmen. Das allgemeine Stadtbild war geprägt von gigantischen Fabriken, eine höher als die andere, von Hektik und Gedränge sowie von Euphorie. Diese war wie eine Krankheit, die man gerne hatte, wenn man von der Arbeit zu Hause bleiben wollte: Sie war ansteckend und man glaubte sich als Held, wenn man sie spürte. Man bekam sie ungewollt, und genauso unbeabsichtigt ging sie auch wieder.
Einige jedoch waren dem abgeneigt und gingen ungestört ihrem Geschäft nach. Für sie war die Euphorie nicht existent und sie wehrten sich noch nicht einmal dagegen. In diesen Menschen lebte eine Sehnsucht nach etwas Mystischem, nach Abenteuern und freier Natur. Diese Affinität besaß auch ein Mann namens Theodor Sigiswald. Er war 22 Jahre jung und seit einem Jahr mit seiner Frau Kathrina, ehemalige Walldorf, verheiratet. Sie führten bis dato eine glückliche und zufriedene Ehe. Theodor liebte sie wie einen Schatz; er glaubte sich stets als Pirat, der seine Schatztruhe vor einem anderen Mann verteidigen müsse. Diese Eigenschaft äußerte sich glücklicherweise nicht sehr stark, sondern auf eine liebenswürdige Art und Weise, die Katharina so mochte und weswegen sie ihn überhaupt liebte.
Seit geraumer Zeit jedoch plagten Theodor Selbstzweifel und Depressionen. Er begab sich nicht aus dem Hause, hielt sich von jeder gesellschaftlichen Veranstaltung fern und verhielt sich ganz und gar merkwürdig. Sogar die Liebe zu seiner Frau schien darunter zu leiden, denn ihr gegenüber wurde er kalt und unleidlich. Anstatt das auf sich zu beziehen, wusste Katharina, dass es nichts mit ihr zu tun hatte, denn sie spürte, tief in seinem Inneren verborgen, die gleiche Zuneigung zu ihr, dieselbe Stärke an Persönlichkeit, die er in seinem Normalzustand zutage legte. Doch wusste sie nicht, woher diese Sinneswandlung kam; es war ihr unbegreiflich und unverständlich, weswegen sie mit ihm sprach:
„Theodor, ich mache mir Sorgen um dich. Du hast dich sehr verändert und ich fürchte um deine Gesundheit. Magst du denn nicht zum Arzt gehen?“
„Ach, was ist denn anders an mir? Das bildest du dir sicherlich nur ein. Ich fühle mich gut und es ist wie immer. Verleide mir nicht durch solche Fragen den Tag!“
„Ich liebe dich nun schon seit drei Jahren und merke es, wenn du dich veränderst, eher als du es je tun wirst. So glaube mir, du hast dich verändert, sehr zu Ungunsten deiner Mitmenschen. Besuche einen Arzt, er wird dir helfen können“. Bei diesen Worten weinte sie, was sie selten tat. Trotz seiner seit Wochen andauernden emotionalen Kälte wurde er davon berührt, denn er wusste, was dies bedeutete. Deshalb sagte er:
„Nun gut, wenn du es willst, werde ich einen Doktor aufsuchen und mich dort therapieren lassen“. Sie wusste, dass er diese Tat ihr zu liebe machte und nicht wegen seiner vertauschten Persönlichkeit.
Am nächsten Tage erwachte er früh in seinem Bett und begab sich sogleich auf den Weg zu einem Arzt. Da er keine körperlichen Beschwerden hatte, ging er zum von ihm getauften ‚Seelendoktor’. Es war sein Glück, zu dieser Jahreszeit gab es kaum Nervenkranke und solche, die seelische Schwierigkeiten und Probleme hatten, weswegen er schnell in Behandlung geriet. Der Doktor, ein seltsamer Mann namens Kalzikow (er redete in einem russischen Akzent, weshalb seine Abstammung leicht zurückzuführen war), diagnostisierte ihm eindeutig, was ihm fehlte.
„Mein Herr, sie haben weder ein Gesundheits- noch ein anderes körperliches Problem, in diesem Falle können sie beruhigt sein. Das, was ihnen fehlt, ist sogleich viel banaler als auch ernstlicher: Sie haben Selbstfindungsprobleme, besitzen den Drang nach etwas, das sie nicht mit dem subjektiven Verstand erfassen können.“ Theodor, dem diese Erklärung durchaus verständlich war, dachte nach und macht sich schwerlich Sorgen.
„Und welche Maßnahme raten sie mir zu ergreifen?“
„Begeben sie sich ein paar Tage, noch besser ein paar Wochen, von Zuhause weg. Es ist wichtig, dass sie keinerlei Kontakt zu ihrer Familie haben, damit sie nicht in ihrer Selbstfindungsphase abgelenkt werden.“
„Es ist ein schweres Los, meine geliebte Frau verlassen zu müssen, aber es bleibt mir nichts anderes übrig, wenn ich ihrer Schlussfolgerung lausche.“
Stark besorgt und wie mit Steinen beladen verließ er das Zimmer und begab sich auf direktem Weg nach Hause. Seine Frau, die sich freilich um ihn sorgte, stand bereits am Eingang und empfing ihn mit einer Freude, die ihre Ungewissheit ob seines Zustandes nicht verbergen konnte. Bevor er irgendetwas über seinen Zustand erzählen konnte, sagte sie schnell:
„Sprich, Theodor, was meinte der Doktor zu deiner Gesundheit?“
„Ich muss zugeben, du hattest Recht: Ich habe mich verändert. Nach den Aussagen Kalzikows habe ich ein Selbstfindungsproblem: Mir ist meine eigene Identität abhanden gekommen, so merkwürdig sich es auch anhören mag. Er rät mir, mich mehrere Tage, vielleicht sogar Wochen, von meinem lieben Zuhause zu trennen...“
Katharina verstand den für ihn schweren Entschluss und sagte schließlich, nach einer kürzeren Schweigezeit (ihr bereitete folgender Satz Schmerzen, da ihr diese Worte entgegen ihrer eigenen Überzeugung über den Mund kamen): „Liebster, wenn es denn notwendig ist... so verlasse unser Heim und kehre auf bald wieder zurück. Wenn du alleine bist, denke immer an mich, ich liebe dich und werde es auf immer und ewig tun“. Stummes Einverständnis zeichnete sich auf den Gesichtern der Eheleute ab. Beide wussten, dass nichts mehr zu sagen war.
In Theodor erwachte nach der darauf folgenden Nacht eine ungeheure Motivation, diesem Dämon (so nannte er fortan das Fehlen seiner eigenen Identität), den Gar aus zu machen. Er entschied sich deshalb, schon an ein und demselben Tage das Haus zu verlassen und in die Natur zu gehen, denn dorthin zog es ihn unterbewusst und wie durch Magie. Katharina, die seinen plötzlichen Fortgang ahnte, tat absichtlich so, als ob sie schlief, denn sie wollte ihn nicht durch ihr Erscheinen aufhalten. Es fiel ihr nicht leicht, doch nachdem er kurz in ihr Schlafzimmer kam, ihr einen kaum spürbaren, sanften Kuss, dessen Zärtlichkeit und zugleich Bitterkeit den ganzen Raum auszufüllen schien, auf die Wangen drückte, atmete sie erleichtert auf, als wenn eine zentnerschwere Last von ihren Schultern gefallen wäre. Sie begab sich aus dem Bett in das Wohnzimmer, sortierte ihre Gedanken, blieb dabei auf einem Fleck stehen und lauschte aufmerksam den Schritten außerhalb des Hauses...
Nun war er schon seit vier Stunden unterwegs, der anfängliche Tatendrang, etwas zu unternehmen, wich einer Abenteuerlust, die seine komplette Seele ausfüllte. In Erwartung dessen, was wohl geschehen mag, rieb er sich, vor Freude zitternd, die Hände und ging in Richtung der Berge, die sich nur unweit des kleinen Städtchens befanden, in welchem er seit seiner Geburt lebte. Das Zurücklassen der Stadt kam ihm gleich wie das Verlassen seines Geistes und es erschien ihm, als ob er in manchen Momenten, die er mit dem Betrachten der von weißlichen Wolken umschlossenen Berggipfel verbrachte, auch die eigene Identität, die er doch eigentlich suchen sollte, vergaß. Das Streben nach diesem verlorenen Gegenstand gewann zunehmend an Unwichtigkeit und Irrelevanz: Das Gebirge mit seiner klaren Luft und seiner unverfälschten, weil unberührten Natur nahmen seine Gedanken und sein Handeln in Beschlag; es war wie eine Armee, die in ein Land eindrang und es sich zu Eigen machte; jedoch keine böse Armee, sondern eine, deren Erscheinen gewollt war und deren Existenz die Hoffnung auf Befreiung beinhaltete. Dieses freundliche Land war seine Seele, und er ließ sie vom Gebirge besetzen und damit auch befreien.
Zuerst waren die Wege breit und zugänglich, doch mit zunehmender Entfernung geriet er auf immer dünnere Pfade, die sich teils in einem kleinen Wäldchen verloren, sich teils auch in Richtung der unzähligen Gipfel entgegen wanden. Im Komplex des gesamten Gebirges betrachtet wirkten sie wie Schlangen in der Wüste, die ihre unscheinbaren und kurvigen Spuren im Sand hinter sich her zogen, und trotz ihrer Unwichtigkeit im Gebilde waren sie von Bedeutung, denn sie führten zu unbekannter Natur.
Theodor wurde es leicht mulmig, als er die kaum sichtbaren Pfade betrachtete; er wollte vor Einbruch der Nacht in einem Rasthaus unterkommen, um nicht von etwaigem Regen oder einem anderen Unwetter überrascht zu werden. Doch die Abenteuerlust ließ seinen Orientierungssinn verkümmern, weshalb er die Hütte vor Nacht nicht fand und gezwungener Maßen in der Wildnis schlafen musste. Er wusste es nicht, doch er befand sich schon in 1.000 Metern Höhe, ein Ende war nicht in Sicht. Mit dem Absinken der Abendsonne wurde es auch kälter, und Theodor war froh, dass er ausreichend warme Kleidung mitnahm. Ein Wollschal, eine Decke aus Schafsfell, eine gefütterte Ledermütze und dicke Schuhe, die er über seine normalen Wanderschuhe zog, verhinderten, dass er fror. Ihm wurde es sogar stellenweise warm, sodass er sich um Überlebensfragen keine Gedanken machen brauchte. Es erschienen einige Wolken. Sie sahen aus, als ob sie etwas verbergen wollten, doch darum machte er sich (noch) keine Gedanken. Vor dem Dunkeln war er so klug, Feuerholz aus dem nur wenige Minuten entfernten Wäldchen zu sammeln. Im Wald begegnete ihm ein Reh, ein Tier der Schnelle, dessen zaghafte Gestalt verschwand, als es ihn hörte. Dieses Reh war für ihn von so großer Faszination, dass er nach dem Verzehr des mitgebrachten Vorrats und dem anschließenden Nachteinbruch nur daran dachte und mit diesem Gedanken einschlief...
Ich bin ein Reh, zwar klein, dafür aber schnell und wendig. Ich fresse Grün und liebe den Wald, er ist meine Heimat. Andere Gegenden kenne ich nicht, sie sind mir unheimlich, so voller Lärm und Schmutz. In meinem Wäldchen aber ist nichts davon zu merken, hier ist es sauber und rein, und die frische Waldluft am Morgen, vermischt mit den Böen aus den oberen Regionen des Gebirges, ist so gut, dass hier keine Krankheit lange besteht. Ich mag den Wald, mit den dicken Baumstämmen, den flinken Eichhörnchen, die in den Kronen der Tannen herumspringen, der weichen Erde und dem zarten Moos, auf dem ich stehe. Er verändert sich nicht, und das ist gut so, denn nur Gutes hat lange Bestand. Ich würde meinen Wald nie verlassen wollen!
Als er aufwachte und des Nachts diesen Traum hatte, war ihm wohlig zumute. Er fühlte sich verändert, als er – in seinen Träumen – im Körper des Rehs war. Sein Verständnis für das Heim und dem Guten, dass er dort hatte, keimte erneut in ihm auf. Er rief laut aus:
„Das war es also, was Katharina und Kalzikow meinten. Ich wusste nicht, wohin mit mir, doch nun bin ich mir sicher: Zuhause ist mein Herz und mein Heim, und nirgendwo anders soll es sein!“
Das Gesagte hallte wie zur Bestätigung seiner Worte einige Male wieder, bevor es sich in den endlosen Weiten der steinigen Gebirgswelt verlor. An Stärke hingegen gewann sein Wille, auch noch den Rest zu finden, denn er fühlte, dass die Gewissheit, ein Heim zu haben, in dem er seinen Lebensabend verbringen wollte, nicht das Einzige zu Findende war. Demnach begab er sich noch weiter in die Berge. Er ging Tag auf Tag, Nacht auf Nacht, von Hütte zu Hütte und von Rastplatz zu Rastplatz, bestrebt, sein Ziel zu suchen und zu finden. Er war bereits eine volle Woche unterwegs und hatte nicht den Drang, nach Hause zurück zu kehren.
Es war der 8. Tag seiner Wanderung und seine Abenteuerlust verlor sich an diesem Tage gänzlich, da es mittags anfing, in einer nie gesehenen Stärke zu regnen. Er flüchtete sich zu einem nahe gelegenen Felsvorsprung und verbrachte dort den Rest des Tages. Mit der Beendigung des Regens erwachte auch seine Motivation wieder, das andere zu finden, dessen er habhaft werden wollte. Er lief weiter und genoss den Geruch des Gebirges, das durch den Regen wie gereinigt erschien. Nicht nur die Luft schien es zu reinigen, auch seine Gedanken, denn er hatte nun denselben klaren Kopf wie am Anfang seines Abenteuers.
Jetzt hielt er sich in einer Region auf, die durch ihre Abgeschiedenheit gefürchtet war; niemand wagte sich dorthin, denn nur durch wenige Pfade und Wege gelangte man zu ihr. Theodor, der nicht wusste, dass er sich in besagter Region befand, fand sie jedoch, die verschlungenen Routen dahin. Und auf einmal - er blickte in den Himmel, um die Tageszeit abschätzen zu können – sah er in der Nähe das majestätischste aller freien Tiere, denen man in der Wildnis eines Blickes habhaft werden konnte: Einen Adler mit weit ausgebreiteten Schwingen, der in den abendlichen Himmel zu fliegen schien. Er flog Kreis um Kreis und wartete auf Beute; seine Schreie drückten die Glückseligkeit aus, in einer endlosen Freiheit zu sein, die nur durch die äußeren Schichten der Atmosphäre und dem Erdboden begrenzt wurde. Der Adler, ein wahrlich prächtiges Tier, brauchte seine Flügel nur einmal zu bewegen, rauf und runter, um einen Antrieb zu erhalten, mit dem es keine technische Errungenschaft der Menschheit aufnehmen konnte. Der Vogel selber bemerkte Theodor vorerst nicht, doch mit einem Mal wurde er ihm mit seinem Auge, das bis weit in die Ferne sehen kann, Gewahr. Er heftete seinen Blick auf das kleine Menschlein. Theodor spürte den Blick, für einen Augenblick verschmolz er mit dem Tier...
Ich bin ein Adler und fliege frei durch die Lüfte, ich kenne keine Grenzen, nur meine eigenen; meine Schwingen sind stark und mein Schnabel kräftig. Die Schnelligkeit, die ich an den Tag lege, wird von keinem anderen Lebewesen in meiner Umgebung überboten. Ich bin der König des Windes und werde es auf immer bleiben. Mich kümmert nicht, was in der Ferne los ist, und habe ich Interesse daran, so fliege ich einfach dorthin. Jegliche Entfernung ist ein Kinderspiel für mich. Wenn ich Beute sehe, wenn mein weit reichendes Auge eines kleinen Hasen Leben erspäht, so schnelle ich wie ein Pfeil gen Boden entgegen und spieße mein Opfer mit meinen festen Krallen auf und verzehre es mit Genuss.
Ein gewaltiger Donner, wie von Thors Hammer aus der Stille herausgeschlagen, riss ihn aus dem intimen Moment, den er mit dem Adler verbrachte. Er hielt Ausschau nach dem Tier, doch es war weg. „Er wird in Sicherheit geflogen sein; auch wenn ich nicht zum Fliegen fähig bin, sollte ich das Selbige tun, nämlich mich von hier weg begeben!“
Kurz nach dem ersten Donner folgte ein Blitz, der Himmel schien entzwei zu bersten. Kilometerweit wurde die Umgebung erhellt. Der einsetzende Regen gab ihm endgültig die Gewissheit, dass er es mit einem ausgewachsenen Gewitter zu tun hatte, welches in einem Gebirge tödlich verlaufen und enden kann. Automatisch fing er an zu rennen und flüchtete dem nächsten Unterschlupf entgegen, doch in dieser Region gab es rein gar nichts, was ihn retten konnte. Er lief, ohne irgendeine Orientierung, wie ein gejagtes Tier Hin und Her, wusste weder Aus noch Ein. Panik, aus den ureigensten aller Sinne geboren, der Angst, ergriff ihn und machte seine Flucht noch orientierungsloser. Der Regen prasselte mit der Wucht kleiner Steine auf ihn hernieder, die Blitze und der Donner waren kaum mehr zu sehen und zu hören, so dicht und laut fiel der Regen aus den höchsten Regionen des Himmels auf die Erde. Er wusste, dass es sinnlos war zu rennen, denn er würde nirgendwo Unterschlupf finden. Die Hoffnung verlierend, kauerte er sich auf dem glitschigen und nassen Boden zusammen und verharrte dort, leb- und bewegungslos wie eine Götzenstatue. Es war ein Bildnis, das aussah, als ob die Natur einen Menschen für seinen naiven Frevel, für seine Leichtgläubigkeit gegenüber der Wildnis, für seinen Übermut bestrafen wollte. So jedenfalls erging es Theodor...
Es mögen Stunden, Tage oder Wochen vergangen sein, als Theodor aus seinem komatösen Verharrungszustand erwachte. Er öffnete langsam die Augen, blinzelte vorsichtig und sein Blick erstarrte: Er sah auf ein endloses Meer von Wasser, jegliches Gestein schien unter dieser himmlischen Urgewalt verborgen zu sein. Hatte es soviel geregnet, war er so lange in seinem kauernden Zustand gewesen, dass er nicht mitbekommen hatte, wie sich die schüsselförmige Region, in die niemand sich hineinwagte, langsam aber stetig mit Wasser füllte? Er jedoch befand sich nicht im Wasser, denn wie durch eine göttliche Fügung war er auf einer kleinen Anhöhe, die nun umgeben vom Nass des Lebens war. Theodor atmete tief durch und erkannte, in welch misslicher Lage er war. Inmitten eines ausgewachsenen Sees, der schon groß war, umgeben von einem noch viel gigantischeren Gebirge, stand er, Theodor Sigiswald, alleine da. Es war tief in der Nacht, am Himmel war es, ebenso wie in seinem Gemüt, bewölkt, und selbst der letzte Funke Hoffnung wich aus ihm, sodass er seinen Emotionen freien Lauf ließ und in die pechschwarze, nur von den Felswänden erhellte Nacht hinausschrie:
„In welches Unglück bin ich nur hineingeraten? Jetzt werde ich nie wieder meine Liebste sehen, nie einen Sohn oder eine Tochter in den Armen halten können. Schicksal, du hast mich besiegt, ich ergebe mich. Ich habe Niemanden etwas getan, niemals etwas Beleidigendes oder Unfrevelhaftes gesagt oder auch nur gedacht. Einzig und alleine suchte ich mich selbst, und nun bin ich der, der gesucht wird. Welch ironische Fügung!“
Doch plötzlich (er erinnerte sich in seinem späteren Leben gerne an diesen Augenblick) geschah etwas ganz und gar Wunderbares, etwas, dass in dieser Konstellation nie mehr auftreten sollte: Es wehte ein von Westen aufkommender Wind, welcher exakt die richtige Stärke besaß, um die Wolken wegzuwehen, und zwar in einer solchen Geschwindigkeit, dass man meinte, eine große unsichtbare Hand schob sie beiseite. Zum Vorschein kam ein Anblick, der sich für immer in den Tiefen seines Bewusstseins verankerte, den er stets in seinem Herzen trug und dessen er sich immer dann erinnerte, wenn er etwas Gutem bedarf:
Hinter der Wolkendecke, die diesen Anblick wohl am Anfang seiner Reise verschleiern wollte, kam der ansehnlichste Sternenhimmel hervor, der auf der großen weiten Welt existierte. Tausende, nein, Zehntausende von kleinen und großen, schwach leuchtenden und hellen Sternen kämpften um einen Platz am Firmament, einer prächtiger als der andere, und jeder war in seiner Größe und Form etwas Besonderes. Sie hatten schon viel gesehen und zeigten sich nur den Wesen, die rein in ihren Herzen sind, die am Ende jeglicher Hoffnung stehen. Theodor Sigiswalds Augen wurden groß und wollten noch größer werden, denn sie waren gefangen genommen von dem wunderbaren Licht der Sterne. Wie um dieses perfekt harmonierende Gebilde am nächtlichen Gebirgshimmel zu unterstreichen, leuchtete der Vollmond in seiner vollen ihm zur Verfügung stehenden Stärke. Die Strahlen bedeckten den Berghang, den See, der sich um seine Füße gebildet hatte und die kleine Anhöhe, auf der er stand, wobei diese besonders hell beleuchtet wurde, als ob der Mond wusste, dass Theodor alles Licht braucht, um nicht erneut in die Hoffnungslosigkeit zu verfallen, die er noch vor diesem prächtigen Anblick besaß; doch all das, so schön und wunderbar es auch war, verlosch gegen einen Gegenstand, der die stärkste aller Auren inne hatte und der besonders eine Augenweide war, denn er vertrieb in vielen Menschen die Resignation und wies schon in den altertümlichsten Zeiten den Weg in die Sicherheit und Geborgenheit: Der Stella Polaris oder ganz einfach nur Polarstern. Er, der Alpha-Stern des kleinen Wagens und hellster Stern am Himmel, er, der schon beim Sonnenuntergang zu sehen ist, zeigte sich in einer nur von wenigen Menschen bisher gesehenen Pracht. Theodor war einer dieser Menschen, den dieser Anblick gegönnt wurde; er spürte das und fühlte sich für den Zeitraum, in welchen er fasziniert seine Augen auf den Nordstern heftete, als der glücklichste Mensch auf Erden. Diese Schönheit, kombiniert mit dem Gedanken an die unendlich erscheinende Freiheit des Adlers, erfasste seine Seele und er war zufrieden mit sich selbst und seinem Leben.
Stella Polaris gab Wanderern, die sich in einem Gebirge verirrten, die sich selbst suchten, Zuversicht. Er wies schon vielen Menschen den Weg und rettete sie, wenn er sie denn für würdig hält; sie müssen rein sein, frei von jeder Sünde, denn nur den Guten auf dieser Welt zeigt er sich. Und Theodor war einer von diesen Menschen, die das Leben anderer vor ihr eigenes stellten. Deshalb sah nur er ihn, und niemand wird ihm glauben, wenn er erzählt, den Polarstern gesehen zu haben, denn für alle anderen war es bewölkt und regnerisch.
Phoenice, so nannten ihn die alten Griechen, schickte seine weißlich schimmernden Strahlen auf die kleine Anhöhe zu Theodor. Sie schienen ihn zu betäuben, er schlief ein und träumte von den seltsamsten und zugleich wunderlichsten Dingen...
Es verging ein ganzer Tag, ehe er erwachte. Er befand sich immer noch auf der Anhöhe und meinte in den ersten Minuten, das Wasser sei noch vorhanden, doch dem war nicht so. Wie durch einen mächtigen Zauber war es versiegt, die einsame Region war nun nicht mehr davon bedeckt. Er jubelte innerlich ob seines Glückes und marschierte sofort los. Alpha Ursae Majoris leuchtete immer noch, und es erschien Theodor, als wollte er ihm den Weg weisen, den Weg nach Hause, dorthin, wo sein Herz nun endgültig war. Er ging schnell und ausdauernd, trotz der großen Schritte, die er hinlegte, verlor er nicht die Kondition. Er wanderte die ganze Nacht, stets dem hell illuminierten Polarstern folgend. Nach mehreren Stunden gelangte er zu den ersten Anzeichen seiner Stadt: Die Pfade wurden breiter, die Wege wieder zugänglicher. Je näher er dem Städtchen kam, desto schneller wurden seine Schritte, und seine Seele wollte zu ihr, der geliebten Ehefrau. Beim Betreten der Stadt (er betrachtete das nächtliche Firmament seit einer gewissen Zeit nicht) richtete er seinen Blick kurz gen Himmel, doch dieser war wieder bewölkt. Ausschließlich ein kurzes, kaum wahrnehmbares Leuchten an der Stelle des Nordsterns bemerkte er, das auch sofort verlosch. Er nahm es als Abschiedsgruß wahr, als Zeichen seines bestandenen und hiermit abgeschlossenen Abenteuers, dass ihn zwar beinahe das Leben gekostet hätte, ihn aber um eine wichtige Erkenntnis reicher machte: Gebe dich mit dem zufrieden, was du hast und versuche nur, im Rahmen deiner Möglichkeiten nach Größerem zu streben. Dieses Streben von Theodor befand sich im jetzigen Moment im Haus, öffnete wie selbstverständlich die Tür und umarmte sowie überdeckte ihn mit den allerherzlichsten Küssen und Glücksbekundigungen, die es gab und geben wird. Seine Seele war damit bis ans Ende der Tage zufrieden und sollte nie wieder aus dem Gleichgewicht gebracht werden.
In der Zwischenzeit, während meiner inaktiven Phase, schrieb ich einige Geschichten, die ich in Zukunft in diesem Thread präsentieren werde.
Den Anfang macht dieses Werk:
Polarstern
Eine Geschichte, die Hoffnung machen soll
Im uralten Gestein der Gebirge lässt sich so manche wundersame als auch faszinierende Geschichte nachlesen. Es sind Geschichten, die oft Wehmut, Sehnsucht und Verlangen nach einer bestimmten Eigenschaft oder Sache widerspiegeln. Einige dieser Geschichten finden ein gutes Ende, andere wiederum besitzen eine Melancholie, die uns verzweifeln lässt.
Man sagt sich, dort, wo das Gestein und der Fels so hell leuchten wie ein Kristall, seien Orte, an denen sich das Gute befand. Positive Erlebnisse sind das, die trotz ihrer scheinbaren Hoffnungslosigkeit ein Verlangen nach Wahrheit in uns wecken. Eines davon soll hier nun erzählt werden.
Es geschah im Jahre 1899. Man freute sich auf das bevorstehende Jahrhundert, denn es sollte Fortschritt und Entwicklung bedeuten, die Menschheit sollte über sich hinauswachsen und die Technik immer mehr das Leben eines Individuums bestimmen. Das allgemeine Stadtbild war geprägt von gigantischen Fabriken, eine höher als die andere, von Hektik und Gedränge sowie von Euphorie. Diese war wie eine Krankheit, die man gerne hatte, wenn man von der Arbeit zu Hause bleiben wollte: Sie war ansteckend und man glaubte sich als Held, wenn man sie spürte. Man bekam sie ungewollt, und genauso unbeabsichtigt ging sie auch wieder.
Einige jedoch waren dem abgeneigt und gingen ungestört ihrem Geschäft nach. Für sie war die Euphorie nicht existent und sie wehrten sich noch nicht einmal dagegen. In diesen Menschen lebte eine Sehnsucht nach etwas Mystischem, nach Abenteuern und freier Natur. Diese Affinität besaß auch ein Mann namens Theodor Sigiswald. Er war 22 Jahre jung und seit einem Jahr mit seiner Frau Kathrina, ehemalige Walldorf, verheiratet. Sie führten bis dato eine glückliche und zufriedene Ehe. Theodor liebte sie wie einen Schatz; er glaubte sich stets als Pirat, der seine Schatztruhe vor einem anderen Mann verteidigen müsse. Diese Eigenschaft äußerte sich glücklicherweise nicht sehr stark, sondern auf eine liebenswürdige Art und Weise, die Katharina so mochte und weswegen sie ihn überhaupt liebte.
Seit geraumer Zeit jedoch plagten Theodor Selbstzweifel und Depressionen. Er begab sich nicht aus dem Hause, hielt sich von jeder gesellschaftlichen Veranstaltung fern und verhielt sich ganz und gar merkwürdig. Sogar die Liebe zu seiner Frau schien darunter zu leiden, denn ihr gegenüber wurde er kalt und unleidlich. Anstatt das auf sich zu beziehen, wusste Katharina, dass es nichts mit ihr zu tun hatte, denn sie spürte, tief in seinem Inneren verborgen, die gleiche Zuneigung zu ihr, dieselbe Stärke an Persönlichkeit, die er in seinem Normalzustand zutage legte. Doch wusste sie nicht, woher diese Sinneswandlung kam; es war ihr unbegreiflich und unverständlich, weswegen sie mit ihm sprach:
„Theodor, ich mache mir Sorgen um dich. Du hast dich sehr verändert und ich fürchte um deine Gesundheit. Magst du denn nicht zum Arzt gehen?“
„Ach, was ist denn anders an mir? Das bildest du dir sicherlich nur ein. Ich fühle mich gut und es ist wie immer. Verleide mir nicht durch solche Fragen den Tag!“
„Ich liebe dich nun schon seit drei Jahren und merke es, wenn du dich veränderst, eher als du es je tun wirst. So glaube mir, du hast dich verändert, sehr zu Ungunsten deiner Mitmenschen. Besuche einen Arzt, er wird dir helfen können“. Bei diesen Worten weinte sie, was sie selten tat. Trotz seiner seit Wochen andauernden emotionalen Kälte wurde er davon berührt, denn er wusste, was dies bedeutete. Deshalb sagte er:
„Nun gut, wenn du es willst, werde ich einen Doktor aufsuchen und mich dort therapieren lassen“. Sie wusste, dass er diese Tat ihr zu liebe machte und nicht wegen seiner vertauschten Persönlichkeit.
Am nächsten Tage erwachte er früh in seinem Bett und begab sich sogleich auf den Weg zu einem Arzt. Da er keine körperlichen Beschwerden hatte, ging er zum von ihm getauften ‚Seelendoktor’. Es war sein Glück, zu dieser Jahreszeit gab es kaum Nervenkranke und solche, die seelische Schwierigkeiten und Probleme hatten, weswegen er schnell in Behandlung geriet. Der Doktor, ein seltsamer Mann namens Kalzikow (er redete in einem russischen Akzent, weshalb seine Abstammung leicht zurückzuführen war), diagnostisierte ihm eindeutig, was ihm fehlte.
„Mein Herr, sie haben weder ein Gesundheits- noch ein anderes körperliches Problem, in diesem Falle können sie beruhigt sein. Das, was ihnen fehlt, ist sogleich viel banaler als auch ernstlicher: Sie haben Selbstfindungsprobleme, besitzen den Drang nach etwas, das sie nicht mit dem subjektiven Verstand erfassen können.“ Theodor, dem diese Erklärung durchaus verständlich war, dachte nach und macht sich schwerlich Sorgen.
„Und welche Maßnahme raten sie mir zu ergreifen?“
„Begeben sie sich ein paar Tage, noch besser ein paar Wochen, von Zuhause weg. Es ist wichtig, dass sie keinerlei Kontakt zu ihrer Familie haben, damit sie nicht in ihrer Selbstfindungsphase abgelenkt werden.“
„Es ist ein schweres Los, meine geliebte Frau verlassen zu müssen, aber es bleibt mir nichts anderes übrig, wenn ich ihrer Schlussfolgerung lausche.“
Stark besorgt und wie mit Steinen beladen verließ er das Zimmer und begab sich auf direktem Weg nach Hause. Seine Frau, die sich freilich um ihn sorgte, stand bereits am Eingang und empfing ihn mit einer Freude, die ihre Ungewissheit ob seines Zustandes nicht verbergen konnte. Bevor er irgendetwas über seinen Zustand erzählen konnte, sagte sie schnell:
„Sprich, Theodor, was meinte der Doktor zu deiner Gesundheit?“
„Ich muss zugeben, du hattest Recht: Ich habe mich verändert. Nach den Aussagen Kalzikows habe ich ein Selbstfindungsproblem: Mir ist meine eigene Identität abhanden gekommen, so merkwürdig sich es auch anhören mag. Er rät mir, mich mehrere Tage, vielleicht sogar Wochen, von meinem lieben Zuhause zu trennen...“
Katharina verstand den für ihn schweren Entschluss und sagte schließlich, nach einer kürzeren Schweigezeit (ihr bereitete folgender Satz Schmerzen, da ihr diese Worte entgegen ihrer eigenen Überzeugung über den Mund kamen): „Liebster, wenn es denn notwendig ist... so verlasse unser Heim und kehre auf bald wieder zurück. Wenn du alleine bist, denke immer an mich, ich liebe dich und werde es auf immer und ewig tun“. Stummes Einverständnis zeichnete sich auf den Gesichtern der Eheleute ab. Beide wussten, dass nichts mehr zu sagen war.
In Theodor erwachte nach der darauf folgenden Nacht eine ungeheure Motivation, diesem Dämon (so nannte er fortan das Fehlen seiner eigenen Identität), den Gar aus zu machen. Er entschied sich deshalb, schon an ein und demselben Tage das Haus zu verlassen und in die Natur zu gehen, denn dorthin zog es ihn unterbewusst und wie durch Magie. Katharina, die seinen plötzlichen Fortgang ahnte, tat absichtlich so, als ob sie schlief, denn sie wollte ihn nicht durch ihr Erscheinen aufhalten. Es fiel ihr nicht leicht, doch nachdem er kurz in ihr Schlafzimmer kam, ihr einen kaum spürbaren, sanften Kuss, dessen Zärtlichkeit und zugleich Bitterkeit den ganzen Raum auszufüllen schien, auf die Wangen drückte, atmete sie erleichtert auf, als wenn eine zentnerschwere Last von ihren Schultern gefallen wäre. Sie begab sich aus dem Bett in das Wohnzimmer, sortierte ihre Gedanken, blieb dabei auf einem Fleck stehen und lauschte aufmerksam den Schritten außerhalb des Hauses...
Nun war er schon seit vier Stunden unterwegs, der anfängliche Tatendrang, etwas zu unternehmen, wich einer Abenteuerlust, die seine komplette Seele ausfüllte. In Erwartung dessen, was wohl geschehen mag, rieb er sich, vor Freude zitternd, die Hände und ging in Richtung der Berge, die sich nur unweit des kleinen Städtchens befanden, in welchem er seit seiner Geburt lebte. Das Zurücklassen der Stadt kam ihm gleich wie das Verlassen seines Geistes und es erschien ihm, als ob er in manchen Momenten, die er mit dem Betrachten der von weißlichen Wolken umschlossenen Berggipfel verbrachte, auch die eigene Identität, die er doch eigentlich suchen sollte, vergaß. Das Streben nach diesem verlorenen Gegenstand gewann zunehmend an Unwichtigkeit und Irrelevanz: Das Gebirge mit seiner klaren Luft und seiner unverfälschten, weil unberührten Natur nahmen seine Gedanken und sein Handeln in Beschlag; es war wie eine Armee, die in ein Land eindrang und es sich zu Eigen machte; jedoch keine böse Armee, sondern eine, deren Erscheinen gewollt war und deren Existenz die Hoffnung auf Befreiung beinhaltete. Dieses freundliche Land war seine Seele, und er ließ sie vom Gebirge besetzen und damit auch befreien.
Zuerst waren die Wege breit und zugänglich, doch mit zunehmender Entfernung geriet er auf immer dünnere Pfade, die sich teils in einem kleinen Wäldchen verloren, sich teils auch in Richtung der unzähligen Gipfel entgegen wanden. Im Komplex des gesamten Gebirges betrachtet wirkten sie wie Schlangen in der Wüste, die ihre unscheinbaren und kurvigen Spuren im Sand hinter sich her zogen, und trotz ihrer Unwichtigkeit im Gebilde waren sie von Bedeutung, denn sie führten zu unbekannter Natur.
Theodor wurde es leicht mulmig, als er die kaum sichtbaren Pfade betrachtete; er wollte vor Einbruch der Nacht in einem Rasthaus unterkommen, um nicht von etwaigem Regen oder einem anderen Unwetter überrascht zu werden. Doch die Abenteuerlust ließ seinen Orientierungssinn verkümmern, weshalb er die Hütte vor Nacht nicht fand und gezwungener Maßen in der Wildnis schlafen musste. Er wusste es nicht, doch er befand sich schon in 1.000 Metern Höhe, ein Ende war nicht in Sicht. Mit dem Absinken der Abendsonne wurde es auch kälter, und Theodor war froh, dass er ausreichend warme Kleidung mitnahm. Ein Wollschal, eine Decke aus Schafsfell, eine gefütterte Ledermütze und dicke Schuhe, die er über seine normalen Wanderschuhe zog, verhinderten, dass er fror. Ihm wurde es sogar stellenweise warm, sodass er sich um Überlebensfragen keine Gedanken machen brauchte. Es erschienen einige Wolken. Sie sahen aus, als ob sie etwas verbergen wollten, doch darum machte er sich (noch) keine Gedanken. Vor dem Dunkeln war er so klug, Feuerholz aus dem nur wenige Minuten entfernten Wäldchen zu sammeln. Im Wald begegnete ihm ein Reh, ein Tier der Schnelle, dessen zaghafte Gestalt verschwand, als es ihn hörte. Dieses Reh war für ihn von so großer Faszination, dass er nach dem Verzehr des mitgebrachten Vorrats und dem anschließenden Nachteinbruch nur daran dachte und mit diesem Gedanken einschlief...
Ich bin ein Reh, zwar klein, dafür aber schnell und wendig. Ich fresse Grün und liebe den Wald, er ist meine Heimat. Andere Gegenden kenne ich nicht, sie sind mir unheimlich, so voller Lärm und Schmutz. In meinem Wäldchen aber ist nichts davon zu merken, hier ist es sauber und rein, und die frische Waldluft am Morgen, vermischt mit den Böen aus den oberen Regionen des Gebirges, ist so gut, dass hier keine Krankheit lange besteht. Ich mag den Wald, mit den dicken Baumstämmen, den flinken Eichhörnchen, die in den Kronen der Tannen herumspringen, der weichen Erde und dem zarten Moos, auf dem ich stehe. Er verändert sich nicht, und das ist gut so, denn nur Gutes hat lange Bestand. Ich würde meinen Wald nie verlassen wollen!
Als er aufwachte und des Nachts diesen Traum hatte, war ihm wohlig zumute. Er fühlte sich verändert, als er – in seinen Träumen – im Körper des Rehs war. Sein Verständnis für das Heim und dem Guten, dass er dort hatte, keimte erneut in ihm auf. Er rief laut aus:
„Das war es also, was Katharina und Kalzikow meinten. Ich wusste nicht, wohin mit mir, doch nun bin ich mir sicher: Zuhause ist mein Herz und mein Heim, und nirgendwo anders soll es sein!“
Das Gesagte hallte wie zur Bestätigung seiner Worte einige Male wieder, bevor es sich in den endlosen Weiten der steinigen Gebirgswelt verlor. An Stärke hingegen gewann sein Wille, auch noch den Rest zu finden, denn er fühlte, dass die Gewissheit, ein Heim zu haben, in dem er seinen Lebensabend verbringen wollte, nicht das Einzige zu Findende war. Demnach begab er sich noch weiter in die Berge. Er ging Tag auf Tag, Nacht auf Nacht, von Hütte zu Hütte und von Rastplatz zu Rastplatz, bestrebt, sein Ziel zu suchen und zu finden. Er war bereits eine volle Woche unterwegs und hatte nicht den Drang, nach Hause zurück zu kehren.
Es war der 8. Tag seiner Wanderung und seine Abenteuerlust verlor sich an diesem Tage gänzlich, da es mittags anfing, in einer nie gesehenen Stärke zu regnen. Er flüchtete sich zu einem nahe gelegenen Felsvorsprung und verbrachte dort den Rest des Tages. Mit der Beendigung des Regens erwachte auch seine Motivation wieder, das andere zu finden, dessen er habhaft werden wollte. Er lief weiter und genoss den Geruch des Gebirges, das durch den Regen wie gereinigt erschien. Nicht nur die Luft schien es zu reinigen, auch seine Gedanken, denn er hatte nun denselben klaren Kopf wie am Anfang seines Abenteuers.
Jetzt hielt er sich in einer Region auf, die durch ihre Abgeschiedenheit gefürchtet war; niemand wagte sich dorthin, denn nur durch wenige Pfade und Wege gelangte man zu ihr. Theodor, der nicht wusste, dass er sich in besagter Region befand, fand sie jedoch, die verschlungenen Routen dahin. Und auf einmal - er blickte in den Himmel, um die Tageszeit abschätzen zu können – sah er in der Nähe das majestätischste aller freien Tiere, denen man in der Wildnis eines Blickes habhaft werden konnte: Einen Adler mit weit ausgebreiteten Schwingen, der in den abendlichen Himmel zu fliegen schien. Er flog Kreis um Kreis und wartete auf Beute; seine Schreie drückten die Glückseligkeit aus, in einer endlosen Freiheit zu sein, die nur durch die äußeren Schichten der Atmosphäre und dem Erdboden begrenzt wurde. Der Adler, ein wahrlich prächtiges Tier, brauchte seine Flügel nur einmal zu bewegen, rauf und runter, um einen Antrieb zu erhalten, mit dem es keine technische Errungenschaft der Menschheit aufnehmen konnte. Der Vogel selber bemerkte Theodor vorerst nicht, doch mit einem Mal wurde er ihm mit seinem Auge, das bis weit in die Ferne sehen kann, Gewahr. Er heftete seinen Blick auf das kleine Menschlein. Theodor spürte den Blick, für einen Augenblick verschmolz er mit dem Tier...
Ich bin ein Adler und fliege frei durch die Lüfte, ich kenne keine Grenzen, nur meine eigenen; meine Schwingen sind stark und mein Schnabel kräftig. Die Schnelligkeit, die ich an den Tag lege, wird von keinem anderen Lebewesen in meiner Umgebung überboten. Ich bin der König des Windes und werde es auf immer bleiben. Mich kümmert nicht, was in der Ferne los ist, und habe ich Interesse daran, so fliege ich einfach dorthin. Jegliche Entfernung ist ein Kinderspiel für mich. Wenn ich Beute sehe, wenn mein weit reichendes Auge eines kleinen Hasen Leben erspäht, so schnelle ich wie ein Pfeil gen Boden entgegen und spieße mein Opfer mit meinen festen Krallen auf und verzehre es mit Genuss.
Ein gewaltiger Donner, wie von Thors Hammer aus der Stille herausgeschlagen, riss ihn aus dem intimen Moment, den er mit dem Adler verbrachte. Er hielt Ausschau nach dem Tier, doch es war weg. „Er wird in Sicherheit geflogen sein; auch wenn ich nicht zum Fliegen fähig bin, sollte ich das Selbige tun, nämlich mich von hier weg begeben!“
Kurz nach dem ersten Donner folgte ein Blitz, der Himmel schien entzwei zu bersten. Kilometerweit wurde die Umgebung erhellt. Der einsetzende Regen gab ihm endgültig die Gewissheit, dass er es mit einem ausgewachsenen Gewitter zu tun hatte, welches in einem Gebirge tödlich verlaufen und enden kann. Automatisch fing er an zu rennen und flüchtete dem nächsten Unterschlupf entgegen, doch in dieser Region gab es rein gar nichts, was ihn retten konnte. Er lief, ohne irgendeine Orientierung, wie ein gejagtes Tier Hin und Her, wusste weder Aus noch Ein. Panik, aus den ureigensten aller Sinne geboren, der Angst, ergriff ihn und machte seine Flucht noch orientierungsloser. Der Regen prasselte mit der Wucht kleiner Steine auf ihn hernieder, die Blitze und der Donner waren kaum mehr zu sehen und zu hören, so dicht und laut fiel der Regen aus den höchsten Regionen des Himmels auf die Erde. Er wusste, dass es sinnlos war zu rennen, denn er würde nirgendwo Unterschlupf finden. Die Hoffnung verlierend, kauerte er sich auf dem glitschigen und nassen Boden zusammen und verharrte dort, leb- und bewegungslos wie eine Götzenstatue. Es war ein Bildnis, das aussah, als ob die Natur einen Menschen für seinen naiven Frevel, für seine Leichtgläubigkeit gegenüber der Wildnis, für seinen Übermut bestrafen wollte. So jedenfalls erging es Theodor...
Es mögen Stunden, Tage oder Wochen vergangen sein, als Theodor aus seinem komatösen Verharrungszustand erwachte. Er öffnete langsam die Augen, blinzelte vorsichtig und sein Blick erstarrte: Er sah auf ein endloses Meer von Wasser, jegliches Gestein schien unter dieser himmlischen Urgewalt verborgen zu sein. Hatte es soviel geregnet, war er so lange in seinem kauernden Zustand gewesen, dass er nicht mitbekommen hatte, wie sich die schüsselförmige Region, in die niemand sich hineinwagte, langsam aber stetig mit Wasser füllte? Er jedoch befand sich nicht im Wasser, denn wie durch eine göttliche Fügung war er auf einer kleinen Anhöhe, die nun umgeben vom Nass des Lebens war. Theodor atmete tief durch und erkannte, in welch misslicher Lage er war. Inmitten eines ausgewachsenen Sees, der schon groß war, umgeben von einem noch viel gigantischeren Gebirge, stand er, Theodor Sigiswald, alleine da. Es war tief in der Nacht, am Himmel war es, ebenso wie in seinem Gemüt, bewölkt, und selbst der letzte Funke Hoffnung wich aus ihm, sodass er seinen Emotionen freien Lauf ließ und in die pechschwarze, nur von den Felswänden erhellte Nacht hinausschrie:
„In welches Unglück bin ich nur hineingeraten? Jetzt werde ich nie wieder meine Liebste sehen, nie einen Sohn oder eine Tochter in den Armen halten können. Schicksal, du hast mich besiegt, ich ergebe mich. Ich habe Niemanden etwas getan, niemals etwas Beleidigendes oder Unfrevelhaftes gesagt oder auch nur gedacht. Einzig und alleine suchte ich mich selbst, und nun bin ich der, der gesucht wird. Welch ironische Fügung!“
Doch plötzlich (er erinnerte sich in seinem späteren Leben gerne an diesen Augenblick) geschah etwas ganz und gar Wunderbares, etwas, dass in dieser Konstellation nie mehr auftreten sollte: Es wehte ein von Westen aufkommender Wind, welcher exakt die richtige Stärke besaß, um die Wolken wegzuwehen, und zwar in einer solchen Geschwindigkeit, dass man meinte, eine große unsichtbare Hand schob sie beiseite. Zum Vorschein kam ein Anblick, der sich für immer in den Tiefen seines Bewusstseins verankerte, den er stets in seinem Herzen trug und dessen er sich immer dann erinnerte, wenn er etwas Gutem bedarf:
Hinter der Wolkendecke, die diesen Anblick wohl am Anfang seiner Reise verschleiern wollte, kam der ansehnlichste Sternenhimmel hervor, der auf der großen weiten Welt existierte. Tausende, nein, Zehntausende von kleinen und großen, schwach leuchtenden und hellen Sternen kämpften um einen Platz am Firmament, einer prächtiger als der andere, und jeder war in seiner Größe und Form etwas Besonderes. Sie hatten schon viel gesehen und zeigten sich nur den Wesen, die rein in ihren Herzen sind, die am Ende jeglicher Hoffnung stehen. Theodor Sigiswalds Augen wurden groß und wollten noch größer werden, denn sie waren gefangen genommen von dem wunderbaren Licht der Sterne. Wie um dieses perfekt harmonierende Gebilde am nächtlichen Gebirgshimmel zu unterstreichen, leuchtete der Vollmond in seiner vollen ihm zur Verfügung stehenden Stärke. Die Strahlen bedeckten den Berghang, den See, der sich um seine Füße gebildet hatte und die kleine Anhöhe, auf der er stand, wobei diese besonders hell beleuchtet wurde, als ob der Mond wusste, dass Theodor alles Licht braucht, um nicht erneut in die Hoffnungslosigkeit zu verfallen, die er noch vor diesem prächtigen Anblick besaß; doch all das, so schön und wunderbar es auch war, verlosch gegen einen Gegenstand, der die stärkste aller Auren inne hatte und der besonders eine Augenweide war, denn er vertrieb in vielen Menschen die Resignation und wies schon in den altertümlichsten Zeiten den Weg in die Sicherheit und Geborgenheit: Der Stella Polaris oder ganz einfach nur Polarstern. Er, der Alpha-Stern des kleinen Wagens und hellster Stern am Himmel, er, der schon beim Sonnenuntergang zu sehen ist, zeigte sich in einer nur von wenigen Menschen bisher gesehenen Pracht. Theodor war einer dieser Menschen, den dieser Anblick gegönnt wurde; er spürte das und fühlte sich für den Zeitraum, in welchen er fasziniert seine Augen auf den Nordstern heftete, als der glücklichste Mensch auf Erden. Diese Schönheit, kombiniert mit dem Gedanken an die unendlich erscheinende Freiheit des Adlers, erfasste seine Seele und er war zufrieden mit sich selbst und seinem Leben.
Stella Polaris gab Wanderern, die sich in einem Gebirge verirrten, die sich selbst suchten, Zuversicht. Er wies schon vielen Menschen den Weg und rettete sie, wenn er sie denn für würdig hält; sie müssen rein sein, frei von jeder Sünde, denn nur den Guten auf dieser Welt zeigt er sich. Und Theodor war einer von diesen Menschen, die das Leben anderer vor ihr eigenes stellten. Deshalb sah nur er ihn, und niemand wird ihm glauben, wenn er erzählt, den Polarstern gesehen zu haben, denn für alle anderen war es bewölkt und regnerisch.
Phoenice, so nannten ihn die alten Griechen, schickte seine weißlich schimmernden Strahlen auf die kleine Anhöhe zu Theodor. Sie schienen ihn zu betäuben, er schlief ein und träumte von den seltsamsten und zugleich wunderlichsten Dingen...
Es verging ein ganzer Tag, ehe er erwachte. Er befand sich immer noch auf der Anhöhe und meinte in den ersten Minuten, das Wasser sei noch vorhanden, doch dem war nicht so. Wie durch einen mächtigen Zauber war es versiegt, die einsame Region war nun nicht mehr davon bedeckt. Er jubelte innerlich ob seines Glückes und marschierte sofort los. Alpha Ursae Majoris leuchtete immer noch, und es erschien Theodor, als wollte er ihm den Weg weisen, den Weg nach Hause, dorthin, wo sein Herz nun endgültig war. Er ging schnell und ausdauernd, trotz der großen Schritte, die er hinlegte, verlor er nicht die Kondition. Er wanderte die ganze Nacht, stets dem hell illuminierten Polarstern folgend. Nach mehreren Stunden gelangte er zu den ersten Anzeichen seiner Stadt: Die Pfade wurden breiter, die Wege wieder zugänglicher. Je näher er dem Städtchen kam, desto schneller wurden seine Schritte, und seine Seele wollte zu ihr, der geliebten Ehefrau. Beim Betreten der Stadt (er betrachtete das nächtliche Firmament seit einer gewissen Zeit nicht) richtete er seinen Blick kurz gen Himmel, doch dieser war wieder bewölkt. Ausschließlich ein kurzes, kaum wahrnehmbares Leuchten an der Stelle des Nordsterns bemerkte er, das auch sofort verlosch. Er nahm es als Abschiedsgruß wahr, als Zeichen seines bestandenen und hiermit abgeschlossenen Abenteuers, dass ihn zwar beinahe das Leben gekostet hätte, ihn aber um eine wichtige Erkenntnis reicher machte: Gebe dich mit dem zufrieden, was du hast und versuche nur, im Rahmen deiner Möglichkeiten nach Größerem zu streben. Dieses Streben von Theodor befand sich im jetzigen Moment im Haus, öffnete wie selbstverständlich die Tür und umarmte sowie überdeckte ihn mit den allerherzlichsten Küssen und Glücksbekundigungen, die es gab und geben wird. Seine Seele war damit bis ans Ende der Tage zufrieden und sollte nie wieder aus dem Gleichgewicht gebracht werden.
Ende