Gedanken

    • Gedanken auf einer nächtlichen Autofahrt
      ODER
      Gedanken, die einfach raus mussten, für die mir aber kein besserer Titel eingefallen ist.

      Mit einem leisen Keuchen erwacht der Motor zum Leben, als ich den Schlüssel im Zündschloss herumdrehe, genauso wie das Radio. Das letzte Lied der CD fängt dort an, wo ich das letzte Mal ausgemacht hatte. Placebo. Die Scheinwerfer zerschneiden die Nacht, der Regen rinnt die Scheiben herunter, ich schalte die Scheibenwischer an – wo anfangen?
      Ich fahre die Landstraße entlang, dunkel alles, der Motor ist nicht leise, wird aber von der Musik übertönt. Ich denke nach. Wieder einmal. Über die Vergangenheit, über alles. Über unseren Krieg. Wie er angefangen hat, ohne dass ich es wollte, wie ich ihn beenden wollte, ohne dass du es wolltest. Was soll das alles? Was kann ich noch tun? Was hätte ich noch tun können?
      Ich weiß, dass diese Überlegungen nichts bringen, aber sie wirbeln doch immer wieder in meinem Kopf herum, immer wieder, Tag für Tag, Fahrt für Fahrt. Das Radio schaltet auf das nächste Lied. „I can’t tell the way I feel, these are wounds that never heal.“ Ein Wagen überholt mich links, obwohl ich an der Geschwindigkeitsgrenze bin. Ich überlege zu hupen, zumindest mit Licht, aber ich lasse es. Wofür? Wozu ist das alles gut?
      Wozu sich noch beschweren, wozu das alles? Ich verstehe es nicht, habe es nie verstanden. Kann man sich nicht einfach akzeptieren? Es wird immer weitergehen. Du wirst nicht aufgeben, bevor ich nicht am Boden liege, und ich werde jedes einzelne Mal wieder aufstehen. Wie ich es immer getan habe. Jedes einzelne verdammte Mal.
      Wozu das alles? Wir beide wissen, dass wir nicht gewinnen können, so wie es ist. Aber wie kann man etwas ändern? Wer den Mund aufmacht, wird angespuckt. Wer die Hand hebt, wird verhöhnt. Wer aufsteht, wird erschossen. So einfach ist das.
      Aber trotzdem stehe ich immer wieder auf. Jedes einzelne verdammte Mal. Warum eigentlich? Was ist es wert, einen Kampf zu kämpfen, von dem man von Anfang an weiß, dass man ihn nicht gewinnen kann? Nur für die Genugtuung, „es wenigstens versucht zu haben“? Selbst wenn der Ausgang von vornherein klar ist? Selbst wenn es einen so viel mehr kostet, als man wollte? Wie viel bist du bereit, dafür zu zahlen? Wie viel bin ich bereit, dafür zu zahlen?
      Ich schrecke aus meinen Überlegungen auf, als vor mir ein Reh über die Straße läuft. Weit vor mir, keine Gefahr. Keine Veränderung an meinem Tempo. Das Radio spielt das letzte Lied aus. Ich weiß, dass nach etwa zehn Minuten ein Retake käme. Das obligatorische „überraschende Retake nach dem letzten Lied“. Wer hat es zuerst erfunden? Wer hat es zuerst geklaut? Bis wann war es noch überraschend? Gelangweilt drücke ich auf den Vor-Knopf, das erste Lied beginnt wieder. Restart. Also noch einmal von vorne. Wieder und wieder, ich habe es satt.
      Ich habe die Lügen und Halbwahrheiten aus gegenseitiger Vorsicht satt, ich habe das vorsichtige Herantasten an die Überzeugung Dritter satt, ich habe diesen Krieg satt, den ich nie wollte. Ich habe es satt, vorsichtige Distanz zu wahren, umeinander herumzuschleichen, weil man nicht weiß, wie der andere reagiert. Ich habe das unterschwellige Gift satt, dass aus jedem Wort sickert. Und ich habe es satt, immer wieder aufzustehen, jedes Wort auf die Goldwaage legen zu müssen und niemandem mehr vertrauen zu können. Warum muss immer alles so verworren sein? Gibt es in diesem Krieg keine Klarheit?
      Wir haben uns gegenseitig getötet, aber irgendwie bin nur ich wieder zum Leben erwacht, du nicht. So bin ich zum Mörder geworden. Ist es mein Verbrechen, am Leben zu sein? Sonst wären wir quitt. Ist es meine Pflicht, seelisch tot zu sein? Zu hassen? Zu vernichten?
      Ich kann nicht hassen, weder dich noch die Lügen noch diesen Krieg. Ich wünschte nur, es wäre endlich alles vorbei. Vorsichtig lege ich meine Hand an die Windschutzscheibe und stelle die Scheibenwischer ab. Sofort strömen Regenbäche über die Scheibe, an meiner Hand vorbei. Außen. Außerhalb meiner Reichweite. Ich kann die ganze Situation etwa so viel beeinflussen wie diesen Regen da draußen mit meiner Hand. Genervt schalte ich den Scheibenwischer wieder ein. Ich sehe nichts mehr.
      Was gibt es zu sehen? Dunkelheit, vor mir beleuchtet der Scheinwerfer die Mittelstreifen, die an mir vorbeihuschen. Würde ich das Licht ausschalten, wäre es komplett dunkel. Warum nicht? Es gibt nichts zu sehen. Existieren Dinge, von denen niemand weiß? Wenn ich das Licht ausschalten würde, vielleicht würde ich dann niemals von der Straße abkommen, sondern immer weiterfahren, in die endlose Dunkelheit…
      Ich lasse das Licht an. Die Dunkelheit hatte mich lange genug, ich bin wieder aufgestanden. Wie immer. Und wie immer hat es mich zu viel gekostet. Wie oft noch? Ich kenne die Antwort. Immer wieder. Ich weiß nur nicht, warum. Nur nicht, wozu.
      Wie immer merke ich auch, dass diese Gedanken zu nichts führen, keine Substanz haben, sie bringen nichts, sie verändern nichts. Sie kosten nur Energie, kosten Kraft. Aber was könnte überhaupt etwas verändern? Was könnte etwas verändern? Das ist die Frage, die mich quält. Was könnte ich tun? Wie könnte ich etwas verändern?
      Meine Stimme verhallt ungehört, der Rest übt sich gekonnt in betretenem Schweigen. Nur deine Stimme hallt in meinem Kopf wieder, ich habe sie noch nie so gehört, aber ich weiß, wie sie klingen würde. Voller Hass. Verachtung. Mit dem Wunsch, mich zu zerstören.
      Das Schlimmste ist, ich kann den Hass verstehen. Vor mir huscht eine Katze über die Straße, vielleicht auch ein Dachs, zu weit vorne. Wie immer verändert es nichts. Ich weiß, dass sowohl deine Seite der Geschichte als auch meine unwahr sind. Die Wahrheit liegt irgendwo dazwischen.
      Ich wüsste gerne, was die Wahrheit ist.
      Ich seufze leise, als das Autoradio wieder einmal ein Lied weiterschaltet. Wie würde ich eigentlich meinen Geisteszustand beschreiben? Depressiv nicht, vielleicht melancholisch. Hilflos. Resigniert? Das passt. Hilflos resigniert. „Helpless Resignation“ – vielleicht mache ich da mal ein Lied draus. Oder ein Gedicht. Oder auch nicht. Würde es etwas ändern? Wozu denke ich das alles überhaupt? Ich könnte genauso gut mein Gehirn abschalten, einfach nur ins Leere starren. Bringen würde es genauso viel, ich würde nur nicht so viel Kraft verschwenden. Wer hält mein Gehirn an?
      Es geht mir nicht darum, die Vergangenheit wiederzuholen. Es geht mir nicht um Versöhnung, ich will nur einfach keinen Krieg mehr. Vielleicht ist es auch eine Verzweiflungsaktion. Ich bin zermürbt, müde, kraftlos. Vielleicht kann ich nicht mehr lange weitermachen, vielleicht breche ich bald zusammen. Habe ich davor Angst? Vielleicht, und das ist wahrscheinlicher, mache ich aber doch weiter, stehe immer wieder auf und es geht endlos so weiter, immer und immer wieder, ohne Ende. Habe ich nicht vielmehr davor Angst?
      Ich habe dir gesagt, ich hätte aufgegeben, aber ich habe dich da belogen, genau wie mich selbst. Ich könnte nie aufgeben, könnte nie liegen bleiben, nie aufhören zu kämpfen. Warum?
      Jetzt könnte man wieder den Gedankengang mit dem Kämpfen für „es zumindest versucht zu haben“ einbringen. Ich habe keine Lust mehr. Aber wie hört man auf, wenn man erstmal angefangen hat, nachzudenken? Wie kann ich ausbrechen? Teufelskreis. Wie komme ich raus?
      Wieder eine Katze, die vor mir über die Straße huscht, der Regen ist etwas besser geworden. Routiniert fahre ich durch das Dorf, das andere Leute meine Heimat schimpfen. Routiniert, wie ich es gewohnt bin. Linke Hand wischt über Blinker, Blinker an, Außenspiegel, Schulterblick, schalten, weiter, Blinker auswischen, Gas. Wie immer. Es geht immer so weiter, es wird nie anders. Ist der Krieg auch schon Routine geworden? Können wir überhaupt noch anders? Ist es noch anders vorstellbar?
      Mit einer routinierten Bewegung – ich fange an, das Wort routiniert zu hassen – lenke ich den Wagen in meine Parklücke. Mit einer routinierten Handbewegung, ein wohlbekanntes Knirschen, die Handbremse, dann ein kurzes Wischen mit der Hand und der Motor erstirbt, das Radio verstummt, die Lichter gehen aus. Ich sehe hinauf zu dem Haus, das ich gleich betreten werde. Kein Licht brennt. Warum auch?
      Jetzt, wo die Geräusche verstummt sind, höre ich den Regen um mich herum prasseln. Irgendwoher das leise Dröhnen eines Flugzeugs. Ich zögere noch, auszusteigen, es wäre schon wieder etwas so Endgültiges. Wenigstens symbolisch gesehen. Kann ich es verändern? Kann ich zurück? Kann ich den Regen aufhalten, den Krieg beenden? Hilflosigkeit. Sie macht sich nicht breit in mir, sie ist da. Die ganze Zeit über. Ich will nicht mehr.
      Mit einer routinierten Handbewegung öffne ich die Autotür und ziehe den Schlüssel. Was hat sich verändert?
    • Sehr schön
      Wirklich, es gefällt mir. Endlich mal wieder ein Text ohne übermäßige Rechtschreibfehler, endlich mal wieder etwas mit Niveau ^^ (bitte nicht persönlich nehmen @andere)

      Sehr geschickter Einsatz von rhetorischen Fragen, gekonntes Anwenden des "Stream of conciousness" und des inneren Monologs.
      Besonders der Schluss gefällt mir.
      Daran, dass er nämlich aussteigt - wie immer, wie noch betont wird, durch das "... mit einer routinierten Handbewegung... " - hat sich nichts verändert.
      Sehr schön Astartus ^^
      senfsamen (22:58): außerdem gebe ich nichts, ich nehme nur. deine würde, deinen stolz, dein gefühl, eine privatssphäre zu haben 8D

      Ein wenig Drama zum Whine?
      ... aber ich mag doch den Keks ... T_T
      Geh in die Küche und wein.