Es war einmal Avellino
~ Part1: Keine Langeweile ~
Es regnete schon drei Tage lang ununterbrochen und es war kein Ende in Sicht. Das Szenario glich einem Weltuntergang, dachte Antonio, der aus dem Fenster starrte. Der Wind bahnte sich seinen Weg durch die Häuserschluchten. Der Regen peitschte gegen die Fensterscheiben. Einige Straßen wurden in reißende Ströme verwandelt. Die ganze Welt schien umhüllt von dieser tiefschwarzen Wolkendecke. Der Anblick war Furcht erregend. Noch vor drei Tagen lachte die Sonne durch das Fenster in sein Apartment in der Atlantic Avenue hinein, doch vollkommen unerwartet schlug das Wetter um. Es war beinahe so, als würde Antonio einen Blick in sein Inneres werfen. Tausend Gedanken schwirrten chaotisch durch seinen Kopf. Wann wird das alles ein Ende haben? Wird er jemals wieder ein ruhiges Leben führen können? Zusammen mit seiner Frau …
Vor drei Tagen, es war der Tag als das Wetter eine rasante Wende nahm, führte er ein Telefonat mit einem gewissen Mr. Harris. Antonio ahnte nicht, woher dieser Mr. Harris seine Nummer und seinen derzeitigen Aufenthaltsort wusste. Antonio hatte niemanden über seine Flucht nach Ocean City im Süden von New Jersey informiert und dachte, er könne unbemerkt New York verlassen. Dieser Mr. Harris hatte gemeint, dass Antonio nirgendwo sicher sei. Er hatte ihm seine Hilfe angeboten. Antonio wusste nicht, welche Rolle dieser Mr. Harris in diesem Durcheinander spielte. War er Polizist? War er Journalist? Er wusste es nicht. Sie hatten beide ein Treffen auf den Rainbow Islands in der Great Egg Harbor Bay für den heutigen Tag vereinbart. Was würde ihn erwarten? War es diesem Mr. Harris wirklich möglich, Antonio zu schützen? Vielleicht war dies aber auch nur ein Vorwand, um Antonio endgültig zu beseitigen. Auszuschließen war es nicht. Antonio entschied sich, seinen Revolver zu Sicherheitszwecken mitzuführen. Er kehrte dem Fenster den Rücken und wandte sich seiner Armbanduhr mit dunkelbraunem Lederband, goldenem Ziffernblatt und mit Diamantenstaub versehenen Uhrzeigern zu. Es war ein Geschenk, das er von seiner Frau Carmella zum fünften Hochzeitstag erhielt. Es war eine Uhr von Rolex. Ein Erbstück. Wunderschön und so teuer wie ein Mercedes der S-Klasse. Der ideelle Wert jedoch war nicht in Ziffern zu beschreiben. Vierzehnuhr dreißig. Für Antonio war es Zeit zu gehen. Schweren Herzens zog sich Antonio einen Regenmantel über und verließ das Schlafzimmer in Richtung Korridor. Kurz bevor er die Wohnungstür erreichte, harrte er einen Augenblick aus und blickte auf eine dunkelbraune Holzkommode, öffnete die rechte Schublade und holte ein Foto hervor. Es war ein Abbild seiner Frau, mit der er siebzehn Jahre verheiratet war und die ihn vor wenigen Monaten nach einem heftigen Streit verlassen hat.
Sie war wunderschön. Ein süßes Mädchen. Ihr Haar war schulterlang und schwarz wie die Marmorsäulen im Foyer des Palazzo Abadessa in Venezia. In der Frühlingssonne glänzte es wie das Meer im Golfo di Salerno. Ihre bezaubernden Augen waren grün und glitzerten wie zwei Smaragde. Ihre weiche Haut war weiß wie der Schnee auf dem Adamello und ihr Mund rot wie Blut.
Ihr Vater ist vor Jahren aus Palermo in die Vereinigten Staaten gekommen und nahm eine Amerikanerin zur Frau. Er und seine Frau hatten ein Restaurant eröffnet und verdienten sich mit italienischen Spezialitäten eine goldene Nase. So konnten sie Carmella ein Studium auf der Eliteuniversität in Princeton finanzieren, wo sie einen Abschluss in Jura gemacht hat.
Nach der Trennung zwischen Antonio und Carmella ist sie nach Chicago gegangen, wo sie fortan in einer Anwaltskanzlei arbeitete.
Der Verlust seiner Frau schmerzte Antonio sehr. Sie meinte, sie sei nicht geschaffen für seine Welt. Damit hatte sie wohl Recht, dachte Antonio. Aber er hoffte, dass sie beide noch einmal zusammen kämen, wenn dies alles vorbei sei. Nichts wünschte sich Antonio mehr als eine richtige Familie.
Er legte das Foto sanft zurück in die Schublade, schob sie zurück, öffnete die linke Schublade, holte seine S & W Magnum hervor, steckte sie in seine linke Manteltasche und verließ die Wohnung.
Antonios Weg führte die Straße runter zu einer Bushaltestelle. Die sonst so weißen Bürgersteige waren grau. Das Wasser spülte eine Menge Dreck und Schlamm mit sich. Der Wind riss die Blätter von den Bäumen. Einige Stromleitungen die über der Straße gespannt wurden, waren gerissen. Die sonst so freundlich wirkende Stadt mit ihren hellblau und weiß gestrichenen Häusern kam einer Geisterstadt gleich. Ein kleiner Getränkemarkt zog Antonios Aufmerksamkeit auf sich. Er zog es vor, seinen Durst zu löschen und kaufte sich eine Flasche Orangensaft. Orangen aus Italien, angebaut in den Plantagen Siziliens. Schweigend reichte er dem Kassierer das Geld. Antonio schwelgte in Gedanken an das Land seiner Vorfahren. Ein Land das er nie zu Gesicht bekommen hatte und nur aus Erzählungen kannte.
Sein Großvater - Alessandro Enrico Gulliano – verließ mit seiner gesamten Familie seine Heimatstadt Avellino in Italien und kam dann nach New York City. Er sei dort Leiter einer Firma gewesen, hieß es. Mehr wusste Antonio nicht über seinen Nonno.
Antonio ging langsamen Schrittes in Richtung Ausgang des Kaufhauses. Draußen angekommen, öffnete er die Flasche und nahm einen Schluck des Orangensaftes. Antonio senkte sein Haupt und sein Blick verfolgte das fließende Wasser am Straßenrand.
Aus der Ferne hörte ein Antonio ein tiefes Geräusch, blieb aber regungslos und starrte weiter auf die Straße. Es wurde lauter. Es war ein Motorengeräusch, welches sich näherte. Antonio erhob seinen Kopf, drehte ihn nach rechts und warf einen Blick über die Schulter und sah einen tiefschwarzen 7er BMW an ihm vorbeirasen. Antonio erschrak und drehte sich schnell nach links. Der BMW fuhr etwa hundert Meter, nachdem er auf selber Höhe wie Antonio gewesen war. Plötzlich machte der Wagen eine Hundertachtziggrad-Drehung, die Reifen quietschten, schlitterten durch eine Pfütze und Wasser spritzte auf. Der Motor heulte auf und der BMW nahm Kurs auf Antonio. Antonio hingegen griff instinktiv mit der rechten Hand in seine linke Manteltasche und umfasste den Revolver. Der Wagen bremste. Antonio harrte aus. Eine Sekunde später öffnete sich die Beifahrertür und ein schwarzhaariger Mann um die vierzig mit einer schwarzen Sonnenbrille stieg aus, zog eine chromfarbene Beretta und richtete sie auf Antonio. Ehe Antonio reagieren konnte, fiel ein Schuss. Das Projektil traf die Glasflasche mit dem Orangensaft, die Antonio in der linken Hand festhielt. Die Glasflasche zerplatzte und Glassplitter bohrten sich tief in Antonios linke Hand. Antonio schrie auf, zog seinen Revolver, feuerte auf den schwarzen BMW und traf den Schützen mit der Sonnenbrille direkt zwischen die Augen. Der Hinterkopf platze auf und Blut schoss durch die Gegend. Dann sackte der leblose Körper zusammen. Es öffnete sich die Fahrertür und ein weiterer Kerl mit Sonnenbrille - ungefähr im selben Alter wie Antonio – stieg aus, richtete eine ebenfalls eine Beretta auf Antonio und feuerte gleich mehrere Male. Antonio verspürte einen stechenden Schmerz im Oberkörper, ließ seinen Revolver fallen, verlor das Gleichgewicht und fiel zu Boden. Antonio spürte, wie Blut aus seinen Mundwinkeln floss. Es bildete sich eine Blutlache um Antonios Körper, die sich mit dem Regenwasser vermischte. Plötzlich sah er die Silhouette eines Mannes, der neben ihm stand und auf ihn herab blickte. Antonios Sinne begannen zu schwinden und er konnte nicht erkennen, wer da auf ihn herab starrte. Dann hörte er diesen Mann etwas sagen. Er sagte irgendetwas wie: Gelangweilt haben wir uns noch nie, was?
Antonio konnte es nicht genau verstehen. Doch plötzlich erschrak er und riss seinen Mund und seine Augen auf. Ehe er reagieren konnte, hörte er einen Schuss.
…
Dann verschluckte ihn die Dunkelheit. In der Ferne sah er ein weißes Licht.
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