Liebe Freunde der Sonne und des Mondes,
es ist so weit, hurra hurra, die Geschichten der 10. BFS-Runde (ZEHNTE!) sind da und bereit, von euch verschlungen zu werden!+
Ihr kennt das Spiel:
Lest, freut euch, gebt Feedback und stimmt ab für die 2 Storys, die euer Blut am meisten in Wallung gebracht haben.
Die Umfrage läuft bis Samstag, 2. August, 23:59 Uhr.
Natürlich dürfen alle abstimmen und feedbacken, nicht nur die fleißigen Schreiberlinge!
Und nun, without further ado, die Hauptakteure des heutigen Abends, die Geschichten:
ePub und PDF
Special thanks:
@BadBadJellyBean fürs Sammeln der Geschichten, Formatieren und Bereitstellen von PDF und ePub
@Abbel fürs Vorwort
@pondo fürs Nachwort
Crèx' 'Die Hülle bleibt'
Die Hülle bleibt
20/20 Assos
Ich glaube, ich habe einen Fehler gemacht.
Das verlassene Krankenhaus stand auf einem Hügel, eingeklemmt zwischen toten Tannen und den dicken, schweren Nebelwolken am Sternenhimmel. Ich war nicht allein. Das wusste ich mit unangenehmer Gewissheit, noch bevor ich durch das rostige Drehkreuz trat, das sich nur widerwillig bewegte, als würde es meine Anwesenheit verweigern.
Ich war gekommen, weil niemand sonst zuhören wollte. Kein Arzt, keine Notaufnahme, kein Spezialist, der mir glaubte, dass die Zyste in meinem Uterus… lebte. Ich hatte sie gespürt, wochenlang. Nicht nur als Schmerz, sondern als wachsende Präsenz. Als eigenständiges Denken. Als wilde Bewegung unter meiner Haut.
Durch ein altes Online-Forum für seltene medizinische Fälle war ich auf einen gewissen Dr. Edelbauer gestoßen. Ein Pathologe, ehemaliger Spezialist für Entwicklungsanomalien. Laut Forum lebte er seit Jahren in einem stillgelegten Krankenhaus im Nirgendwo. Keine offiziellen Sprechstunden. Kein Telefon. Nur Koordinaten.
Ich wollte keine Hilfe mehr. Ich wollte Antworten.
Der Korridor, den ich betrat, war mit einer Staubschicht bedeckt, dick wie Rosenasche. Alles roch nach vergorener Schokolade und Reinigungsmitteln aus den Neunzigern. Es gab keine Stromversorgung, doch irgendwo surrte schwaches Licht. Als hätte jemand kürzlich Generatoren angeworfen – oder als würde das Gebäude selbst atmen.
Ich rief mehrfach:
„Dr. Edelbauer?“
Keine Antwort. Nur Echo. Ein Echo, das zu lange brauchte, um zurückzukommen.
Ich ging weiter. Meine Schritte hallten auf dem Linoleum wie Fremdkörper, und mit jedem Flur, den ich passierte, fühlte ich mich tiefer eingesogen. Dieses Krankenhaus war kein Ort mehr – Es war ein Zustand.
Ein Zustand von Verlassenheit. Von Erinnerung. Von etwas, das nicht vergessen werden wollte.
Ich fand schließlich ein Behandlungszimmer. Oder das, was davon übrig war. Ein alter WC-Stuhl stand in der Mitte, mit Flecken, die aussahen wie eingetrocknetes Konzentrat von etwas Biologischem. Neben dem Stuhl: ein medizinisches Regal, darin ein alter Glasbehälter mit etwas, das aussah wie ein deformierter Fötus. Oder ein Gesicht. Ich konnte nicht genau hinsehen. Ich wollte es auch nicht.
Das war der Moment, in dem ich es wieder spürte – die Bewegung in mir. Kein Schmerz. Ein Drücken. Ein… Kratzen.
Ich setzte mich auf eine Liege im Raum, legte die Hand auf meinen Bauch. Mein Unterleib spannte sich, als wäre da etwas, das gegen die Decke drückte. Ich wollte mich zusammenrollen, weinen, schreien – doch stattdessen starrte ich auf eine medizinische Lupe, die auf einem Verbandswagen lag.
Etwas in mir flüsterte:
„Schau genau hin.“
Ich richtete das Licht auf meinen Unterbauch und betrachtete die Haut. Unter der Lupe erkannte ich feine, dunkle Linien, die sich wie Kapillaren verzweigten – aber zu regelmäßig, zu symmetrisch. Es waren keine Adern. Es war Schrift, unbekannt, eingebrannt unter meine Haut wie ein geheimes Tattoo.
Ich warf die Lupe weg. Keuchte.
Anschließend hörte ich es. Etwas kratzte von unten an der Liege. Fingernägel die an Stahl rieben.
Ich verließ zügig den Raum, aber der Flur schien nun länger als zuvor. Die Neonröhren summten leise, einige flackerten in einem Rhythmus, der mich an einen schmerzhaft langsamen Puls erinnerte. Am Ende des Flurs war eine Tür, die ich zuvor nicht bemerkt hatte. Kein Schild, kein Hinweis – nur abgeplatzter Lack und eine rostige Türklinke.
Neugier oder etwas Tieferes, Unbewusstes, zwang mich näher.
Der Raum dahinter wirkte wie ein Lager. Metallregale, alte Geräte, ein Rollstuhl mit eingerissenem Leder. In der Ecke stand ein Monitor, vom Stromnetz getrennt, doch das Bild flackerte leicht. Ein einziger Stuhl stand vor ihm, als hätte jemand gerade erst dagesessen. Die Luft roch scharf, nach altem Jod und etwas anderem – metallisch, süßlich.
Ich spürte wieder das Drücken in meinem Bauch. Diesmal begleitet von einem Ziehen, als würde sich etwas in mir verschieben, neu sortieren. Nicht zufällig. Zielgerichtet.
Ich sank auf die Knie und hielt den Atem an. Irgendwo im Innern meines Körpers… kratzte etwas.
Ich war weitergegangen, obwohl ich es besser hätte wissen müssen. Das Flackern der Neonröhren wurde rhythmischer, fast wie ein künstlich erzeugter Herzschlag. Ich bog in einen Korridor ein, den ich beim ersten Durchqueren des Trakts nicht bemerkt hatte. Eine Tür war halb geöffnet. Ich trat ein.
Es war ein Besprechungsraum, vielleicht ein ehemaliger Gruppenraum dieser Station. Zwölf Stühle im Kreis. Alle leer. Kein Tisch. Keine Fenster. Nur dieser unfassbar stickige Geruch nach altem Kunstleder und gammligem Abflussrohr.
Die Stille war beunruhigend perfekt. Kein Kratzen, kein Stromsummen. Nur mein Atem – unruhig und flach.
Ich setzte mich.
Unmittelbar, als mein Rücken den Stuhl berührte, zuckte mein Bauch. Als hätte etwas darin mit mir zusammen gezuckt.
Mir wurde schwindlig.
Und dann sah ich sie.
Vor meinem inneren Auge, als wäre der Raum aufgeschlitzt worden, tauchten Silhouetten auf – sitzend. Regungslos. Kein Spiegelbild, sondern etwas anderes. Eine Projektion. Sie sahen aus wie ich. Oder besser gesagt: wie Versionen von mir. Ähnlich, aber fremd. Eine trug ein zu breites Lächeln, eine andere hatte keinen Mund. Eine dritte war haarlos.
Sie bewegten sich nicht. Aber ich spürte ihre Gedanken.
Ein geschlossenes System.
Ein Panoptikum aus mir selbst.
Ich wollte aufstehen, aber meine Glieder waren träge. Mein Bauch krampfte sich zusammen – das Ziehen war stärker, fordernder. Mein Körper fühlte sich nicht mehr zentral gesteuert an, sondern… dezentralisiert.
Ich hatte das Gefühl, dass etwas in mir begann, die Kontrolle zu übernehmen.
Ich blickte auf meine Hände. Sie zitterten.
Mein Gehirn schien sich zurückzuziehen.
Ich dachte an all die Diagnosen, die man mir verweigert hatte.
An die Ärzte, die mich belächelt hatten.
Prätentiöse Arschköpfe.
Ich hatte sie alle gehasst. Nicht, weil sie mir nicht helfen wollten – sondern weil sie davon überzeugt waren, dass sie bereits alles verstanden. Dass ich bloß hysterisch war.
Ein Rauschen in meinem Ohr wurde lauter. Ich hörte es knistern, wie eine entladene Leitung. Und dann: Stimmen.
„Hier beginnt dein Pandemonium.“
Ich weiß nicht, ob es mein Inneres war oder das Ding in mir, das sprach. Aber die Worte schoben sich wie Splitter ins Bewusstsein.
Ich sprang auf. Fast panisch. Etwas lief aus mir heraus – kein Blut, sondern Hitze. Schweiß, Angst.
Ich wankte zur Tür, wollte zurück, einfach zurück.
Doch der Korridor war anders als zuvor.
Ein Schatten huschte am Ende vorbei, lautlos, unscharf. Wie ein zu schnell gerendertes Spielmodell in einem Glitch.
Mojang-Hölle.
Warum kam mir dieses Wort plötzlich in den Sinn?
Diese Umgebung hier…
Blockhaft, strukturiert, aber seelenlos. Als wäre das Krankenhaus eine Simulation. Und irgendjemand hatte das Texture-Pack vergessen zu laden.
Nur der Horror war echt geblieben.
Etwa schlug in meinem Bauch.
Ich stürzte gegen die Wand.
Alles drehte sich.
Da war es wieder – dieses Kratzen unter meiner Haut.
Ich stolperte weiter, zurück in die Richtung des Raums mit dem flackernden Monitor.
Ich weiß nicht, wie lange ich dort auf dem Boden kauerte.
Vielleicht Minuten. Vielleicht eine Stunde. Die Zeit fühlte sich im Inneren dieses Gebäudes anders an – gedehnt, wie altes Gummi, das unter der Hitze der Neonlichter schmilzt. Alles schien mir entglitten. Der Monitor in der Ecke flackerte weiter, obwohl er nicht angeschlossen war. Er zeigte nichts – nur schmutzig-graues Rauschen wie das weiße Bild eines kaputten Fernsehers. Doch manchmal, wenn ich den Blick senkte, glaubte ich für einen Sekundenbruchteil Gesichter zu sehen. Oder vielmehr: Fragmente von Gesichtern. Als wäre das Bild ein zerbrochenes Mosaik aus Blicken, die nicht zu mir gehörten.
Ich stand auf. Mein Bauch spannte sich hart. Ich konnte kaum atmen. Etwas darin… bewegte sich.
Nein, nicht wie ein Baby.
Nicht rhythmisch.
Nicht natürlich.
Es war, als würde ein kleiner Körper versuchen, sich umzudrehen – mit bewusster Kraft. Ich legte die Hände auf meinen Unterleib. Die Stelle war warm. Zu warm. Als würde da ein eigener Kreislauf arbeiten, unabhängig von meinem. Mein Gehirn rebellierte, ein dumpfer Schmerz breitete sich über meine Stirn aus. Ich spürte Tränen, aber ich konnte nicht sagen, ob sie aus Angst kamen oder aus einem anderen, tieferen Gefühl: einem seltsamen, schwachen Stolz.
Als ich weiterging, spürte ich es stärker – ein eigenartiges Flirren im Flur. Wie Strom. Oder Gedanken, die nicht meine waren. Die Gänge des Krankenhauses hatten sich verändert. Türen, die ich passiert hatte, waren verschwunden. Andere standen nun offen. Hinter einer war ein altes Wartezimmer – völlig leer, bis auf eine einzelne Sitzreihe und einen Automaten mit zerkratzter Plexiglasscheibe. Darin: Ein Produkt, das mich sofort erstarren ließ.
Ein Plastik-Ei.
So eines, wie man es als Kind bekam – mit kleinen Überraschungen darin. Ich weiß nicht, warum ich den Knopf drückte. Vielleicht weil ich mir wünschte, dass irgendetwas in dieser Hölle noch banal war.
Das Ei fiel. Ich öffnete es.
Darin lag eine winzige Puppe.
Sie war nicht kindlich. Sie war… ähnlich. Weißer Kittel, starres Lächeln, glasige Augen. Eine Miniaturfigur, vielleicht vier Zentimeter groß. Und sie sah mir ähnlich. Viel zu ähnlich.
Ohne nachzudenken, warf ich sie fort. Sie prallte gegen die Wand und blieb sitzen, als hätte sie sich bewusst hingesetzt.
Ich musste raus. Weg. Irgendwohin.
Ich bog in einen neuen Flur, enger, dunkler, mit Türen an jeder Seite. Manche waren beschriftet:
„Isolierstation B“,
„Verhaltensmedizin“,
„Tumorarchiv“.
Ein Schild am Ende des Flurs war halb abgerissen. Nur ein Wort war noch vollständig lesbar:
„Zoo“.
Ich hielt inne. Spürte den Schweiß auf meiner Haut, den pochenden Druck unter meinem Rippenbogen. Es war nicht mehr nur Bewegung. Es war Formung. Ich spürte, wie sich meine Haut spannte, als würde darunter etwas wachsen, das versuchte, die Oberfläche zu erreichen. Es war kein Schmerz, sondern das Gefühl, dass meine Haut nicht mehr zu mir gehörte. Dass mein Körper langsam zu einem Käfig wurde – und das Ding darin ungeduldig war.
Ich griff nach meinem Unterleib. Und ich spürte es.
Nicht einfach Bewegung.
Ich spürte Finger.
Innen.
Ich stolperte in ein weiteres Behandlungszimmer. An der Wand hingen Röntgenbilder. Ich schaltete die Leuchtfläche ein, mehr aus Verzweiflung als aus Vernunft. Ein Bild war schon eingelegt. Ich erkannte den Umriss meines Beckens. Ich erkannte die Zyste. Doch sie war zu groß. Zu definiert.
Und da waren Zähne.
Ein Schädel mit eingewachsenen Haaren.
Ein halber Wirbelbogen.
Ich wich zurück. Mein Gehirn wollte das Bild löschen, doch meine Augen starrten weiter. Die Leuchtfläche flackerte. Eine neue Aufnahme erschien, ohne dass ich etwas getan hätte. Dieselbe Zyste – aber der Schatten darin hatte sich verändert.
Es war keine Masse mehr.
Es hatte Glieder.
Und ein Gesicht.
Meins.
Bevor ich zusammenbrach, verstand ich endlich, warum ich hier war.
Dr. Edelbauer hatte mich nicht getäuscht.
Er hatte mich studiert. Wie ein Biologe ein Terrarium beobachtet. Mit Geduld, mit System.
Seine erste Nachricht war nicht direkt gewesen, sondern vielmehr eine Art Einladung – ein Test.
„Du trägst nicht nur Zellen in dir. Du trägst eine Entscheidung.“
Dazu Koordinaten. Kein Name. Keine Adresse.
Ich hatte sie ignorieren wollen. Doch da war etwas in der Formulierung gewesen. Eine Kälte, die keinen Zweifel zuließ: Wer so etwas schreibt, weiß Dinge, die andere nicht mal aussprechen.
Er war bekannt dafür, sich mit Themen zu befassen, die man nicht mehr als medizinisch bezeichnen konnte. So wie manche eine Vorliebe für Verstümmelungen in Pornographie entwickeln.
Er interessierte sich nicht für Patienten, sondern für Prozesse.
Nicht für Heilung, sondern für Übergänge.
Und ich war einer.
Es hieß, er habe früher Vorlesungen gehalten – still, präzise, ohne Mimik. Sein Vokuhila, wie ein Relikt aus einer Zeit, in der die Menschen sich noch sicher waren, dass Form nichts mit Inhalt zu tun habe. Bei Edelbauer war das Gegenteil der Fall: alles war Form. Nichts war ohne Absicht. Nicht einmal sein Haar.
Er hatte keine Studien mehr veröffentlicht. Keine Papiere, keine Spuren im Internet. Nur Gerüchte.
Dass er Dinge wachsen ließ, die nicht wachsen sollten.
Dass er glaubte, in gewissen Zellstrukturen liege mehr als nur Mutation – eine Art Wille.
Eine Absicht.
Ich war nie zu ihm gegangen.
Ich war seinem Köder gefolgt.
Und nun saß ich in dem Kokon, den er gebaut hatte.
Nur Wände. Und das, was in mir wuchs.
In den Rohren knackte es.
In mir – ebenfalls.
Etwas regte sich.
Die Spannung unter meiner Haut wurde stärker. Kein Schmerz, nicht direkt. Eher das Gefühl, dass sich ein eigener Organismus unter der Oberfläche bewegte.
Ich hielt mir den Bauch. Die Stelle war hart, zu warm, unnatürlich.
Ein Druck stieg auf – aus dem Innersten.
Dann: Bewegung. Bewusst. Zielgerichtet.
Ich fiel auf die Knie. Das Knacken in den Wänden verstummte. Als würde das Gebäude selbst den Atem anhalten.
„Du bist nur die Verpackung.“
Ich weiß nicht, woher die Worte kamen. Aber sie waren da.
Nicht laut. Nicht leise.
In mir.
Ich kroch in einen Raum, dessen Tür halb aus den Scharnieren hing. Rollschränke, verstaubte Tische, ein rostiges Waschbecken. In der Ecke stand ein zerkratzter Spiegel.
Ich zwang mich hineinzusehen.
Mein Gesicht.
Doch… nicht mein Gesicht.
Die Proportionen stimmten, doch irgendetwas war verschoben.
Zu glatte Haut. Zu symmetrisch.
Als hätte jemand versucht, mich aus Erinnerung zu rekonstruieren – aber das Leben vergessen.
Ich trat einen Schritt zurück. Spürte wieder diesen Druck im Unterleib.
Diesmal begleitet von einem satten, langsamen Ziehen, als würde etwas in meinem Bauch eine Richtung wählen.
Nicht zufällig.
Nicht blind.
Mein Herz raste.
es schlug so laut in meiner Brust, dass ich jeden einzelnen Schlag spüren konnte – hämmernd, pochend, unaufhaltsam.
Die Luft war zu dünn.
Ich machte keine richtigen Atemzüge mehr, nur panische, kurze Stöße.
Etwas in mir bewegte sich. Nein, nicht etwas – es.
Ein lebendes, zappelndes Ding, das unter meiner Haut herumrutschte, kaltes Grauen, das mich zerriss.
Ich klammerte mich an die kalte Wand, doch mein Griff wackelte, meine Hände zitterten.
Schweiß rinn mir über die Stirn und vermischte sich mit dem Salz der Angst aus meinen Augen.
Die Schatten um mich herum flackerten, wurden lang und grotesk. Die Dunkelheit saugte alles auf, verschluckte den Verstand.
Das Ding in mir zog, zerrte, bewegte sich. Es wollte raus, es wollte sich ausbreiten – ich spürte es, wie es sich unter meiner Haut windete, wie eine lebendige Bestie, die keinen Frieden kannte.
Meine Gedanken rasten, stolperten über sich selbst. Ein Sturm aus Angst, Panik, Verzweiflung.
„Bitte… nicht… nicht jetzt…“
Ein Keuchen, ein Krampf in meiner Brust. Ich wollte fliehen, wollte schreien – doch mein Körper war gefangen in einem Käfig aus Schmerz und Terror.
Mein Magen zog sich zusammen, ein kalter, krampfartiger Knoten, der sich ausbreitete, bis in jede Faser meines Körpers.
Ich sah verschwommen – die Wände, die Decke, alles verschwamm zu einem Alptraum aus Schatten und Furcht.
Das Ding bewegte sich mit einem widerlichen, unfassbaren Kriechen, das mich zerstörte.
Ich verlor den Halt, stolperte, konnte mich kaum noch auf den Beinen halten. Jeder Atemzug wurde zum Kampf. Das Gewicht auf meiner Brust drückte mich zu Boden. Die Panik riss mich in den Abgrund.
Ich wusste, dass ich gleich zerbrechen würde.
Dieses Ding in mir – es war nicht nur da, es lebte, atmete, und es hörte nicht auf.
Ich wollte weg, doch wohin? Die Dunkelheit hatte mich schon verschlungen. Und das Monster in mir wuchs.
Ich versuchte zu schreien – aber es kam kein Laut. Mittlerweile fühlte es sich so an, als hätte sich mein Gehirn vom Rest getrennt.
Ein Bild raste durch mich. Kein klarer Gedanke – nur eine Abfolge aus verzerrten Eindrücken.
Ein Kaleidoskop des Grauens, flimmernd wie ein Alptraum durch milchiges Glas.
Ich sah mich selbst.
Mehrfach.
Zerlegt. Zusammengesetzt.
Ein Turm aus Varianten meiner selbst – manche kindlich, manche verdreht, manche zu perfekt.
Und ganz oben: ein Gesicht, das zu lange lächelte.
Endlich kam der Moment.
Ich spürte, wie sich mein Bauch nach außen wölbte.
Zuerst nur leicht. Dann mit Nachdruck.
Wie ein Puls, der zu groß geworden war.
Ich hielt den Atem an. Meine Hände zitterten.
Unter der Haut formte sich eine Erhebung.
Als würde etwas aus mir herauswollen.
Ein Ruck durchfuhr mich. Ich sackte zusammen. Mein Blick verschwamm.
Dann: Stille.
Ein dumpfer Moment der Leere.
Und danach… Geräusche.
Zuerst ein Kratzen. Wie Fingernägel, die an Stahl rieben.
Dann ein leises Schmatzen, feucht.
Und schließlich: Ein Atemzug.
Fremd.
Nahe.
Ich öffnete die Augen.
Etwas stand vor mir.
Nicht groß.
Nicht eindeutig menschlich.
Aber vertraut.
Zu vertraut.
Die Haut war blass und gespannt wie Papier. Die Arme dünn, die Bewegungen eigenartig fließend. Der Blick… durchdringend.
Die Augen – meine.
Es betrachtete mich. Legte den Kopf schräg.
Und dann: Ein Lächeln.
Milimetergenau.
Perfekt.
Künstlich.
„Ich bin nicht du,“ sagte es.
„Ich bin, was du nicht werden durftest.“
Ich konnte mich nicht rühren.
Nur atmen.
Zusehen.
Das Wesen ging langsam durch den Raum, betrachtete die Umgebung mit einer Art Erinnern.
Es wirkte nicht neugierig – sondern heimisch.
Als hätte es schon einmal hier gelebt.
Oder… immer.
„Ich bin dein Wandel,“ sagte es.
„Dein Schatten. Dein anderes Selbst. Deine Anderswelt.“
Es stand nun aufrecht. Ganz.
Ein fertiger Körper.
Unheimlich vertraut.
Unendlich falsch.
Es verließ den Raum.
Und ich – blieb zurück.
Leer.
Wie ein Ort nach einem Sturm.
Oder wie ein Kokon nach einer Metamorphose.
Eine Manege, in der das einzige Kunststück ich selbst war.
Ich weiß nicht, ob ich noch existiere.
Vielleicht bin ich nur ein Echo in den Wänden.
Vielleicht geht es jetzt hinaus – mit meinem Gesicht, meiner Stimme, meinem Namen.
Und niemand merkt es.
Denn es ist besser in allem.
Besser als ich.
Weil es mich losgeworden ist.
Wons' 'Armageddon'
Armageddon
20/20 Assos
Just leave me out on a limb
Pale as the day, bored as the rain
How high the answers
Laid us to waste
You are what you take
„Kapow!“
„Du weißt, dass du das nicht jedes Mal sagen musst, wenn du einen von den Wichsern abschießt, oder?“
Orion nickte nur, den Blick weiterhin fest auf die Scheibe vor ihr und alles, was dahinter lag, geheftet. „Macht aber Spaß!“, kommentierte sie, woraufhin ihr Co-Pilot nur den Kopf schütteln konnte. „Verleiht der ganzen Sache erst die Würze, weißt du?“
Wusste er nicht. Natürlich nicht, er war zu jung. Gewürze kannte er höchstens aus Alte-Welt-Büchern – und die hatte er offenbar nicht gelesen, warum auch?
Orion schickte einen weiteren Plasmastrahl in die unendlichen Weiten des Weltraums, von dem sie nur diese eine Glasscheibe zu trennen schien. Ihr Ziel löste sich vor ihren Augen auf in … Nichts. Nicht einmal Sternenstaub, einfach nur Nichts.
„Einen noch, dann sollten wir runtergehen“, bemerkte ihr Co-Pilot mit kritischem Blick auf das Navigationssystem. „Wir wollen nicht unbedingt hier oben an vorderster Front sein, wenn … du weißt schon.“ Er seufzte. „Hab mir wohl doch den falschen Job ausgesucht.“
„Quatsch!“, protestierte Orion aufrichtig und meinte es mit jeder Faser ihres Herzens. „Wir sind die letzte Bastion im wichtigsten Kampf, der je gekämpft wurde. Wir sind die, die den Kriegern den Rücken freihalten. Wir sind - “
„Ein Treck der Toten, nur ohne Ziel und Zukunft …“, murmelte der Junge und starrte verbittert auf seine Hände, die er in den Schoß gelegt hatte. „Wir sind keine strahlenden Helden, Orion. Nur, weil wir mit Plasmakanonen um uns schießen, sind wir noch lange keine Jedi, lass es einfach gut sein. Die benutzen dich doch nur. Die benutzen uns doch alle nur. Wir sind keine Weltraumpiraten, wir sind einfach nur Kanonenfutter, Bauernopfer, damit die da unten sich die Finger nicht dreckig machen müssen. Das Trope, dass die Guten am Ende immer irgendwie gewinnen, gibt es in Wirklichkeit halt einfach nicht.“
„Huh?“ Orion fuhr zu ihm herum und blickte ihn verwundert an. War er am Ende doch versiert in der Populärkultur der Alten Welt oder woher kam plötzlich dieser Überfluss an obskuren Referenzen?
„Vorsicht!“ Er warf sich halb über sie und riss das Steuer herum, gerade noch rechtzeitig vor der Kollision. „Pass doch auf, meine Fresse.“
„‘tschuldigung …“ Abwesend feuerte Orion ein letztes Mal die Kanone ab und starrte nachdenklich auf die Scheibe, hinter der jetzt wieder nur Schwärze und Nebel lagen.
In diesem Moment leuchtete der NavCom an ihrem Handgelenk auf. Ein Blick darauf und sie stöhnte frustriert auf, bevor sie den Anruf ihrer Eltern wegwischte. Wenn sie eins kurz vor dem Ende nicht brauchte, dann waren es dieselben alten Vorwürfe, die sie schon seit Jahren verfolgten und vor denen sie überhaupt erst ins Weltall geflohen war, wenn sie so darüber nachdachte. Nein, ihre Entscheidung war die richtige gewesen, und daran konnte kein Nörgeln ihrer Eltern etwas ändern, kein noch so furchteinflößender Feind, auch nicht der hundertste Vergleich mit ihrem Cousin, der angesehener Offizier auf einem der größten Schiffe war und einen Platz im Senat quasi sicher gehabt hätte, wenn nicht … na ja. Nicht einmal der schlimmste Streit mit ihrem Bruder hatte sie von der Überzeugung abbringen können, dass sie mit Leib und Seele das Richtige tat.
Es verbleiben zwölf (12) Stunden, meldete der Bordcomputer. Orion nagte an ihrer Lippe, den Blick weiter stur gerade aus gerichtet. Vielleicht war es Zeit, sich mit ihrem Bruder auszusprechen.
Mit dem Elan eines nassen Waschlappens wischte Sirius den kreischenden Wecker schnurstracks vom Nachttisch; das kleine Gerät fiel zu Boden und verstummte endlich. Grummelnd richtete er sich auf und starrte auf das Display an der Decke.
Es verbleiben zwölf (12) Stunden.
Hoffentlich kommt heute wenigstens der Nudelstand, dachte Sirius, während er sich die Augen rieb und sich langsam aufrichtete. Wenn er heute noch einmal die geschmacklose Pampe aus der Kantine essen müsste, ausgerechnet heute, er würde, er würde … ja, was würde er tun? Vermutlich einfach resignieren, die Pampe in sich reinschaufeln und sich nicht einmal in Gedanken ausmalen können, wie er eigentlich auf diesen Affront hätte reagieren sollen.
Ich hab keine Energie mehr für den Scheiß, dachte er und ignorierte die kleine Stimme in seinem Kopf, die ihm fies ins Ohr flüsterte, dass er noch nie Energie für irgendetwas gehabt hatte und einfach nur ein faules Stück Scheiße war, genau wie seine Eltern immer gesagt hatten. Ugh, seine Eltern … speaking of which, von denen hatte er nicht einen, nicht zwei, sondern gleich drei Holoanrufe in Abwesenheit. Beim letzten Anruf hatten sie sogar gnädigerweise eine Nachricht hinterlassen: „Sohn, ruf zurück.“ Als ob.
Er stand auf, streckte sich und gab auf dem Weg zum Fenster den Befehl, die Verdunklungsscheiben hochzufahren. Immerhin, dachte er. Vor seinem Fenster parkte, zuverlässig wie sonst nichts in seinem Leben, der Nudelstand.
„Einmal wie immer?“, fragte der Nudelmann, als Sirius das Fenster geöffnet hatte. Der nickte nur, korrigierte sich dann aber: „Mach heute doppelte Portion. Ist jetzt eh alles egal.“
„Deine Eltern wieder?“, fragte der Nudelmann mit mitleidigem Blick.
„Ist egal jetzt“, wiederholte Sirius und gähnte ausgiebig. Konnte der Nudelmann von hier aus seinen Anrufbeantworter sehen? Wahrscheinlich nicht. Sirius löschte trotzdem die Nachricht seiner Eltern. War sowieso egal jetzt.
Er nahm seine Nudelbox entgegen und dankte dem Nudelmann. Ein leises Ka-ching bestätigte die erfolgreiche Transaktion. Als er das Fenster wieder schließen wollte, streckte der Nudelmann schnell seine Hand durch und hielt ihm einen grünen Klops hin. „Ein Mochi aufs Haus für dich. Die waren wohl der heiße Scheiß in der Alten Welt.“, fügte er hinzu, als er Sirius’ fragenden Blick sah.„Probier einfach mal. Und Kopf hoch. Kommen auch wieder bessere Zeiten. Äh, also … ja, oder vielleicht auch nicht. Aber -“
„Ist egal jetzt. Danke.“ Er schloss das Fenster und sah zu, wie der rot lackierte, mit alten Schriftzeichen aus einer Zeit, als die Kontinente noch getrennt waren, verzierte Nudelstand davonflog. Dann schlang er seine Nudeln runter und merkte zu spät, dass er sich eigentlich vorgenommen hatte, diese letzte Mahlzeit zu genießen, achtsam zu essen. Zu spät. Er packte das Mochi aus und biss hinein. Schmeckte scheiße. Auch egal.
Es klingelte. Nicht an der Tür, stellte Sirius schnell fest, sondern am Holofon. Wer auch immer auf die bescheuerte Idee gekommen war, dass alles den gleichen Klingelton haben sollte. Wenn das schon wieder seine Eltern waren, er würde, er würde … vermutlich einfach drangehen und ihre Tiraden über sich ergehen lassen?
„Was?“, brummte er in Richtung des Geräts und würgte den klebrigen Reisklops herunter.
„Heeey.“
„Orion?“, fragte er und zeigte zum ersten Mal an diesem Tag eine Gefühlsregung – Ungläubigkeit, gemischt mit Genervtheit, einem kleinen Schimmer Hoffnung irgendwo ganz tief in ihm vergraben, Erleichterung, dass es immerhin nicht seine Eltern waren, und einer Prise ... irgendetwas Unidentifizierbares.
„Ich hab grad Feierabend gemacht. Also, Feiermorgen eher. Ist ja eigentlich auch egal.“ Seine Schwester hielt sich wie üblich nicht mit langen Begrüßungen und Smalltalk auf. Zu ihrer Verteidigung, seine Antwort auf „Wie geht’s?“ war vermutlich seit zwanzig Jahren irgendetwas in Richtung „Scheiße“ oder „Egal“, mit viel Variation war von seiner Seite aus also nicht zu rechnen.
„Jedenfalls“, fuhr Orion fort, „angesichts der, äh, Umstände dachte ich … also, dachte ich, dass wir uns aus-“ Sie stöhnte genervt auf. „Egal. Lass uns heute Abend einen trinken gehen.“
„Heute Abend?“, wiederholte Sirius mit einem Stirnrunzeln und einem Blick auf die Uhr.
„Ja, bevor … vor der Sache halt. Also?“
„Ich komm ganz bestimmt nicht da hoch“, sagte er. „Das hat uns die ganze Scheiße hier doch überhaupt erst eingebrockt. Wir hätten einfach nie - “
„Ich weiß, ich weiß“, unterbrach ihn Orion in einem Tonfall, der vermutlich beschwichtigend klingen sollte, ihn aber irgendwie nur noch mehr irritierte. „Du musst nicht hochkommen.“
„Als ob du runterkommen würdest.“
„Korrekt“, bemerkte Orion feierlich. „Wir treffen uns in der George-Lucas-Bar! Hey, ist doch ein guter Kompromiss!“
Das Wörterbuch definiert „Kompromiss“ als eine Übereinkunft durch gegenseitige Zugeständnisse. Ein Aufeinanderzugehen also. In diesem Sinne war Orions Vorschlag wohl tatsächlich ein Kompromiss. Die George-Lucas-Bar war die einzige Gaststätte der Neuen Welt, die weder auf der Erde noch im Weltall lag, sondern auf halber Strecke des Weltraumlifts, der Terra Omega mit der TSS verband. Auch in jeder anderen Hinsicht war die Kneipe ein einziger Kompromiss: Es gab zwar die gleiche geschmacklose Pampe wie überall sonst auch, aber dafür gute und günstige Getränke en masse („Trinkt euch STERNhagelvoll“, lautete der catchy Slogan); zwar wurde immer nur ein und dasselbe Lied gespielt, aber dafür von einer Liveband und der Song war irgendwie einfach ein Banger; das Innendesign war von einem Alte-Welt-Franchise inspiriert, aber immerhin von einem für damalige Verhältnisse futuristischen; es gab ein Gravitations- und ein Schwerelosigkeits-Zimmer. Mit anderen Worten: Die Kneipe war nichts Halbes und nichts Ganzes und hielt sich wahrscheinlich nur im Geschäft, weil sie keine Konkurrenz hatte, weil sie allein und unberührt vom Weltgeschehen auf halber Strecke mitten im Nichts schwebte, die letzte Zuflucht der Arschgesichter, die nicht wirklich wussten, was sie wollten. Also eigentlich der perfekte Ort für ihn. War jetzt eh alles egal. Er konnte jetzt auf Biegen und Brechen versuchen, sich eine Ausrede einfallen zu lassen. Oder er konnte es einfach hinter sich bringen und hingehen. Egal.
„Ok. Wann?“
Orion wippte mit den Füßen, irgendwie nervös, ganz entgegen ihrer sonst so souverän-optimistischen Art.
Es verbleibt eine (1) Stunde, verkündete ihr NavCom leise piepsend.
„Mach das bitte aus, diese Art von Negativität brauchen wir hier nicht“, wies ein Utility Bot sie im Vorbeigleiten hin.
„‘tschuldigung“, sagte sie hastig, wischte die Nachricht weg und schaltete das Gerät sicherheitshalber auf DnD.
Sie saß im Gravitationszimmer, ihrem Bruder zuliebe, obwohl sie nicht sicher war, ob er wirklich kommen würde, vor sich das zweite Bier, das auch schon fast leer war.
Ihre Eltern hatten zwischendurch noch einmal angerufen und sie hatte den Anruf aus Versehen entgegengenommen – die Gedankensteuerung ihres NavComs war wirklich nicht die präziseste, es wäre eigentlich mal Zeit für ein neues Modell, dachte sie, bevor ihr einfiel, dass das jetzt auch egal war.
Das Gespräch mit ihren Eltern hatte aus den üblichen Gesprächsbausteinen bestanden. „Hättest du mal“, „wärest du mal“, „hättest du mal nicht“ und „dein Cousin wiederum“, blah blah blah.
„Ich bin genau so ein Mitglied der Terranischen Flotte wie Steve“, hatte Orion wütend entgegnet. „Kürzlich sogar befördert worden!“ Der letzte Teil war zwar gelogen, aber darauf kam es jetzt auch nicht mehr an. Sollten ihre Eltern ruhig denken, dass -
„Die Intergalaktische Müllabfuhr ist ja nicht wirklich Teil der Terranischen Flotte“, hatte ihr Vater gesagt und ihre Mutter hatte zustimmend genickt.
Orion hatte schon angesetzt zu ihrem wohl einstudierten Monolog darüber, dass Weltraumschrott einer der größten Feinde in den Weiten des Alls war und ob sie, also ihre Eltern in dem Fall, überhaupt wüssten, wie viel davon um sie alle herumschwebte, nur darauf wartend, vorbeifahrende Schiffe oder Satelliten zu rammen oder sogar auf der Erde einzuschlagen (8.700 Tonnen! Das war das Gewicht von 45 Blauwalen!), aber sie hielt sich selbst davon ab. Sie war müde. Sie konnte nicht mehr. Sie wollte nicht mehr. Ihre Eltern hatten sie jahrzehntelang nicht verstanden, sie würden ganz sicher nicht in den letzten neunzig Minuten damit anfangen. Zum ersten Mal verstand sie ihren Bruder, der schon in Teenagerjahren den Kontakt mit den Eltern auf ein Minimum reduziert und sich komplett zurückgezogen hatte. In diesem Moment, hier in dieser zweitklassigen Bar irgendwo im Nirgendwo, seit zwanzig Minuten ein und dasselbe Lied in den Ohren und schon leicht angetrunken vom Sternenbier, fühlte sie sich Sirius so nah wie nie zuvor.
„Muss auflegen, hier darf man eigentlich nicht telefonieren“, log sie kurzerhand und wischte ihre Eltern zum letzten Mal in ihrem Leben weg. So einfach war das.
„Hey.“ Die schlaksige Gestalt ihres Bruder schob sich in ihr Sichtfeld und ihre Augen füllten sich unweigerlich mit ein paar Tränen, die sie hastig wegblinzelte. Er hatte sich gar nicht verändert.
„Hey.“ Awkward. Sie wusste nicht wirklich, was sie nach all der Zeit machen sollte. Aufstehen? Ihn umarmen? Ihn einfach bitten, sich zu setzen? Oder – ein Schauer der Fremdscham lief ihr über den Rücken – ihm die Hand schütteln? Sie stand auf.
„Ach, Scheiß drauf“, brummte er und zog sie in eine Umarmung. Dann saßen sie sich eine Weile schweigend gegenüber, bevor sie beim nächsten vorbeigleitenden Utility Bot Orions drittes, Sirius’ erstes Bier bestellten und das Hologramm mit der Schnapskarte aufriefen. Die Shots hier hatten alberne Namen wie Chewbacca, Hans olo (vermutlich ein Typo?), Imperialismus, Choke oder Relativitätstheorie. Man konnte unmöglich erahnen, was sich dahinter verbarg. Orion tippte wahllos auf einige davon und kurz darauf stellte der Utility Bot eine bunte Auwahl kleiner Gläser auf ihrem Tisch ab. Der Schnaps und das Bier lösten ihre Zungen und vertrieben die angespannte Stimmung zwischen ihnen; das gemeinsame Schwelgen in schlechten Erinnerungen und der über Jahrzehnte angestaute Frust über ihre Eltern taten das Übrige. Der Chewbacca-Shot schmeckte irgendwie muffig, Todesstern einfach nur nach Alkohol. Hexenverbrennung schmeckte genauso wie Lichtschwert, vielleicht war Orion aber auch einfach nur schon zu betrunken, um noch irgendwelche Nuancen schmecken zu können.
„Vielleicht hattest du Recht“, seufzte sie irgendwann. „Der Mensch hätte sich nie ins Weltall aufmachen sollen. Es gab genug Warnungen. Dunkler Wald, blah blah. Wir hätten einfach mit dem zufrieden sein sollen, was wir hatten. Vielleicht war die Alte Welt gar nicht so übel. Zumindest hätte uns die mintakische Flotte dann nicht entdeckt und dann hätten die auch nicht auf die Idee kommen können, uns auslöschen zu wollen.“
Zu ihrem Erstaunen winkte Sirius ab. Sie starrte ihn ungläubig an. Da kam sie einmal aus ihrer Comfort Zone raus, um einen Schritt auf ihn zuzugehen, da beschloss er offenbar, dasselbe zu tun. Der hatte vielleicht Nerven!
„Du hast gemacht, was du für richtig gehalten hast. Und irgendwie war’s das ja auch. Ich mein, 8.700 Tonnen Weltraumschrott – irgendwer musste doch was dagegen tun“, meinte er schulterzuckend. Sie schaute ihn gerührt an, während er fortfuhr: „Und letztendlich … was hätten wir als Normalos schon machen können. Die da unten haben halt gepokert und ihr Strategiespiel ging letztendlich nicht auf. Dass sie mit ihren Expansionsplänen die Aggressionen Außerirdischer auf sich ziehen würden, die sich daraufhin aufmachen, um die Erde zu zerstören, damit hätte ja - “ Er stutzte. „Na ja, ehrlich gesagt, damit hätte jeder Vollidiot rechnen können. Aber …“ Er exte den letzten Shot, Jabba Jelly. Schmeckte absolut scheiße. Aber das war jetzt „… auch egal.“
Es verbleiben sechzig (60) Sekunden, verkündete seine Armbanduhr.
„Mach das bitte aus, diese Art von Negativität brauchen wir hier nicht“, bat der Utility Bot, der die leeren Shotgläser abräumte.
„‘tschuldigung“, murmelte er und wischte die Warnung weg.
„Sirius …“, begann Orion.
Er winkte ab. Es gab noch so viel Ungesagtes zwischen ihnen, aber dafür war jetzt keine Zeit mehr. Vielleicht in einem anderen Leben. Glaubte er zwar nicht dran, aber egal.
„Alles vergeben und vergessen. Ok?“
„Ok“, flüsterte sie.
Noch zwanzig Sekunden; sie hatte mitgezählt. Um sie herum ging das Leben einfach weiter, als ob nichts sei. Die Band spielte immer noch dasselbe Lied und die Leute tranken immer noch dasselbe Bier.
Noch zehn Sekunden. Sie schloss die Augen. Wie sich sterben wohl anfühlte? Hoffentlich ging es wenigstens schnell.
Noch fünf Sekunden. Vier. Drei. Zwei. Eine -
Kein Twist. Kein Knall.
Es war vorbei. Einfach so.
CAMIRs 'Erna und die Mafia'
Erna und die Mafia
20/20 Assos
Leider ist es Erna am Ende nicht gelungen, nicht in Kontakt mit der organisierten Kriminalität zu geraten. Sie hatte bereits eine Menge Schwierigkeiten mit übernatürlichen Wesen gehabt, die sowohl ihr, als auch ihrer Tochter Edda an den Kragen wollten. Aber ironischerweise wusste Erna damit umzugehen, diese Wesen, auch wenn mächtig, entsprangen ihrer Heimat. Gewalttätige Menschen hingegen waren etwas, das ihr immer noch schwer fiel zu verstehen.
Bis eines Morgens die Mafia vor ihrer Tür stand. Beziehungsweise selbige mit einer Axt einschlug.
Erna war gerade dabei, Alexanders und ihre Wohnung zu putzen, den Staubsauger in der einen Hand, Alexanders Wanderschuhe in der anderen. Das Beste an Putzen der Wohnung war, dass Edda vom Rauschen des Staubsaugers so beruhigt wurde, dass sie tief und fest schlief. Sie war eben doch ein pflegeleichter Säugling und Erna genoss jede Minute mit ihr, wohl wissen, dass die Zeit begrenzt war. Als Teenager würde Edda bestimmt nicht mehr schlafen, wenn ein Staubsauger lief.
In diesem Moment jedoch zersplitterte die Wohnungstür in Tausend Teile und der Schaft eine Axt ragte durch das Holz.
Erna erschrak und ihr fielen beide Gegenstände aus der Hand. Die Axt bewegte sich noch einige Male mehr und sie war bereits darauf vorbereitet, erneut übernatürlichen Besuch zu erhalten. Dann jedoch standen zwei dunkel gekleidete Herren mit Schlapphüten in der Wohnung. Sie fragte sich, ob dies eine weitere kulturelle Eigenart der Menschen war, so in Wohnungen zu kommen, wenn die Klingel überhört wurde.
Erna bückte sich, um den Staubsauger auszuschalten.
„Wo ist das Moos?!“ begrüßte sie eine der Gestalten sobald eine angemessene Lautstärke herrschte.
„Wie bitte?“ sagte Erna freundlich. Wieso sollte hier in der Wohnung eine grüne Pflanze wuchern? Sie waren doch schließlich nicht im Urwald.
„Die Kohle? Die Knete?“ sagte der andere Herr etwas ungehalten. „Der Boss fordert Reparation!“
Nun war Erna vollends verwirrt. Was bitteschön hatten Moss, Kohle und Knete gemeinsam? Eins war eine Pflanze, eins war schwarz und hart und eins war ein Spielzeug für Kinder. Darüber überhörte sie den zweiten Satz.
„Kommen Sie doch herein? Vielleicht kann ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?“ sagte sie freundlich. Ihrer Erfahrung nach waren Menschen sofort viel zugänglicher, wenn man sie bewirtete und diese Herren schienen keine Ausnahme zu sein. Über die kaputte Tür konnte Erna sich später Gedanken machen.
„Wehe, du speist uns mit Fünf-Euro-Wodka ab,“ sagte der eine Herr. Er war klein und dick.
„Ja, davon haben wir genug. Billiges Zeug!“ sagte der andere Herr. Er war groß und schlank.
Erna drehte sich um. „Ich könnte Ihnen Wasser anbieten?“ sagte sie.
Die Männer fingen an, laut zu lachen. So laut, dass die Wohnung bebte. Und für einen kurzen Moment hatte Erna Angst, dass Edda aufwachen könnte. Das Kind war allerdings mit einem gesegneten Schlaf ausgestattet. Erna wollte nicht, dass Edda und diese Männer aufeinander trafen und war darüber sehr dankbar.
„Wir sind doch nicht in der Wüste, Süße!“ sagte der kleine dicke Mann. „Nein, wir wollen schon etwas Ordentliches!“ Dann zündete er sich eine Zigarette an.
Das war Erna höchst unangenehm. „Könnten Sie bitte…“ setzte sie an, aber der große, schlanke Mann schlug seinem Kumpanen auf den Hinterkopf. „Herrgott nochmal, denk doch an dein Raucherbein! Muss das sein?“
„Das heißt heutzutage Thrombose, du Idiot!“ zischte der Dicke. „Wenn ich schon nichts Anständiges zu trinken bekomme, brauche ich wenigstens mein Nikotin!“
„Ich könnte Ihnen Met anbieten?“ versuchte es Erna erneut. Sie hatte immer einen Humpen Met im Kühlschrank, sowie eine Schüssel voller Snickers, falls Odin einmal wieder nach seiner Enkelin sehen wollte.
Die Männer sahen sich an und lachte erneut. „Na also, geht doch!“ sagte der Große. Dann folgten sie Erna ins Wohnzimmer und setzten sich auf die Couch.
Der Dicke griff sofort in die Süßigkeitenschale. Zumindest schien er mit dem Angebot zufrieden.
Erna verschwand kurz ins Kinderzimmer, wo Edda weiterhin sanft ruhte. „Mamas Liebling,“ flüsterte sie dem Baby zu, eilte dann in die Küche und brachte den Männern den Met.
Dann setzte sie sich zu Ihnen. „Was genau verdanke ich denn nun die Ehre Ihres Besuchs?“
Die Herren sahen sich verwundert an. „Der Boss möchte wissen, was du mit dem Merch gemacht hast!“ sagte der Dicke.
Erna blinzelte. Diese Herren schienen eine andere Sprache zu sprechen. Sie räusperte sich.
„Und nun will er die Kohle zurück,“ sagte der Große.
„Ja, das sagten Sie bereits.“ Erna legte die Hände in den Schoß.
„Und wenn du nicht rausrückst, schenken wir dir ein Stück Beton und versenken dich in der nächsten Flussmündung,“ sagte der Dicke und grinste kauend.
Erna legte den Kopf schräg. „Das ist nun wirklich nicht nötig,“ sagte sie. „Ich habe bereits genug zu tun.“ Die Aktivität klang anstrengend und sie verstand ihren Sinn nicht.
„Probleme?“ zischte es neben Erna und sie versteifte sich. Immer wenn sie diese Stimme hörte waren Schwierigkeiten nicht weit. Aus dem Augenwinkel sah sie einen Feuersalamander in der Topfpflanze. Er ringelte sich im Sonnenlicht.
„Was schaust du mich so an?“ zischte der Salamander. „Ich hatte kurz überlegt ein Axolotl zu sein, aber das war nicht einschüchternd genug.“
„Bitte geh einfach!“ flehte Erna.
„Diese Kerle sind von der Mafia, das weißt du?“ zischte der Salamander. Zum Glück fand diese Konversation außerhalb des Raum-Zeit-Gefüges statt, sonst hätten sich die Herren sicher gewundert, dass Erna mit einem Schwanzlurch sprach.
„Was ist das?“ fragte Erna.
„Eine kriminelle Vereinigung, die gerne Menschen versenkt. Und zwar nicht in Bächlein, sondern im Meer,“ erklärte der Salamander, der eigentlich Loki war.
„Warum?“ fragte Erna. Das ergab keinen Sinn.
„Keine Ahnung. Narzissmus?“ Hätte Loki Schultern gehabt, hätte er sicher damit gezuckt.
„Und jetzt?“ fragte Erna. „Ich wollte eigentlich die Wohnung putzen. Ich weiß nicht einmal, warum sie hier sind. Und alles was sie sagen, ergibt keinen Sinn.“
Die Zeit nahm wieder normalen Verlauf an. Und der Feuersalamander krabbelte auf den Tisch, unsichtbar für Ernas Besucher.
„Puppe, hör auf dich dumm zu stellen, wir wissen, dass du das Geld hast!“ sagte der Dicke.
„Ich habe ein bisschen Geld, ja,“ sagte Erna. „Aber das habe ich verdient.“
„Eher unterschlagen!“ sagte der Große.
„Wollen Sie es haben?“ fragte Erna. Anscheinend kamen diese Menschen in Wohnungen weil sie bedürftig waren und Geld brauchen.
„Ja, verdammt noch Mal!“ schrie der Dicke.
Erna stand auf und ging ins Schlafzimmer. Dort nahm sie ihre penisförmige Spardose – ein Geschenk von Odin, dem jegliches Gefühl für menschlichen Geschmack abging. ‚Schlingelpimmel‘ stand darauf. Mit diesem Stück kehrte sie ins Wohnzimmer zurück und stellte sie auf den Tisch, die Münzen darin klirrten.
Die Männer sahen sich irritiert an.
„Was soll das?“ fragte der Dicke.
„Sie wollten doch Geld,“ erwiderte Erna. „Das ist alles, was ich habe.“
„Das sind doch höchstens ein paar Kröten,“ maulte der Große.
„Nein,“ korrigierte Erna, „das sind Münzen.“
„Werd‘ nicht frech!“
„Brauchst du doch Hilfe?“ zischte der Feuersalamander und seine Zunge kam der Hand des Dicken gefährlich nahe.
„Wer sind Sie überhaupt?“ fragte Erna.
„Du solltest uns wirklich kennen, Baby. Wir sind Mario und Luigi, Don Calzones Geldeintreiber,“ sagte der Dicke.
„Ich sehe Sie heute zum ersten Mal,“ sagte Erna.
Die Herren sahen sich an und dann Erna.
„Zugegeben, du hast dich schon verändert. Das letzte Mal hattest du noch lange blonde Haare,“ sagte der Lange.
„Und warst fülliger,“ sagte der Dicke.
„Sind Sie überhaupt an der richtigen Adresse?“ fragte Erna.
„Eichenweg 15,“ sagte der Dicke mit Überzeugung.
„Das hier ist der Eibenweg 15,“ sagte Erna.
Die beiden Herren sahen sich an.
„Oh.“
Terminas 'Aftermath (abridged)'
Aftermath (abridged)
17/20 Assos
In der Wüstenstadt am nordöstlichen Rande des Kontinents
Seine Lippen wurden langsam feucht und kühl. Er nahm den ersten Schluck. In seinem Mund machte sich die Süße des Honigs breit, ehe die Bitterkeit des Alkohols im Rachen hing. Man hörte ein sanftes, aber überzeugend klingendes Mhm!
Er stellte das Glas wieder auf den alten Holztisch, welcher viele Kerben und Dellen von jahrelangen Würfelspielen und Schlägereien hatte. Symbolisch für die vielen Besuche seines Stammtisches nach den harten Reisen auf der unbekannten See.
„Der ist echt gut“, beurteilte er das Getränk, welches nicht einmal halb gefüllt war und mit einem fetten Eiswürfel kühl gehalten wurde.
„Den könntest du glatt als Frühstückswhisky verkaufen“, fügte er hinzu. Sein Gegenüber Mikey, der Barmann seiner Lieblingskneipe, schmunzelte nur leicht, während er die letzten Gläser putzte.
„Gute Idee, Bagel“, äußerte er sich, „aber wie zum Henker soll ich den bitte verkaufen, wenn ab heute keiner mehr da ist?“, fügte er als berechtigte Frage hinzu und zeigte mit seiner Hand, in welcher er das Glas hielt, in den Raum hinein. Bagel seufzte lächelnd und nahm nochmal einen beherzten Schluck vom Whisky.
„Ich glaube, du hast nicht mehr alle Tassen im Schrank“, sprach Mikey seinen Gedanken laut aus.
„Und ich glaube, du nicht mehr alle Gläser“, konterte Bagel. Es herrschte kurz Stille, bevor beide leicht zu lachen begannen.
„Warum putzt du die Dinger eigentlich noch, wenn keiner mehr kommt?“ Mikey stutzte kurz, legte das Glas auf den Tresen und schaute in den Raum hinein. Er kramte unter der langen Tischplatte nach einer großen, durchsichtigen Flasche, nahm das Glas, welches er gerade am Putzen war, und füllte dieses bis zum Rand mit dem Alkohol voll. Danach schlenderte er langsam vom Tresen zu Bagels Tisch. Mit jedem Schritt hörte man das Knirschen von kleinen Glassplittern unter seinen Schuhen. Er ließ sich einfach in den Stuhl gegenüber von Bagel fallen. Ein paar Schluck seines Getränks schwappten über und landeten auf seinem Shirt und dem Boden zu den anderen Flecken des gestrigen Abends. Da saßen sie nun. Zwei starke Männer mit einem etwas kräftigeren Körperbau. In dem wohl bekanntesten Gasthaus der Stadt. Allein.
„Du hast recht“, stimmte Mikey ihm zu, „das Beste ist wohl einfach, hier zu sitzen und ein letztes Mal mit dir zu trinken.“ Mit dieser Ansage stießen sie beide ihre Gläser zusammen und tranken. Dabei schauten sie sich im Raum um. Beide fühlten sich gezwungen, ein Gesprächsthema zu finden, doch fühlten sich etwas unwohl in der Situation. Nach einem Moment der Stille, in welchem man nur die Schreie der morgendlichen Möwen von draußen hörte, schoss Mikey ein Thema in den Kopf. Eine Information, welche er von einem Gast in der Nacht erfahren hatte.
„Hast du gehört, was mit den Metsanern passiert ist?“, fragte er Bagel. Bagels Augen öffneten sich weit. Sein Gesicht zeichnete Entsetzen aus und er nickte.
„Dass sie die alle abgefackelt haben“, äußerte sich Bagel etwas lauter. Mehr musste eigentlich nicht gesagt werden. Beide schüttelten den Kopf, in der Hoffnung, das grausame Kopfkino dabei herauszuschleudern, und nahmen gleichzeitig einen Schluck vom Alkohol, als würde dieser ihre Sorgen einfach davon spülen.
„Ich verstehe es nicht. Wie kann man nur so einen Terror schieben und eine friedliche Spezies einfach auslöschen?“, regte sich Mikey empört auf. Bagel schüttelte den Kopf, um sein Unverständnis über den Genozid der Rasse sanfter auszudrücken. Es herrschte wieder kurze Stille. Mikey wollte die unangenehme Stimmung etwas auflockern und ihm fiel eine Geschichte ein, die Bagel ihm noch nie erzählt hatte.
„Was ist eigentlich damals passiert, als ihr da spontan auf die See fahren musstet?“ Bagel sah ihn verwirrt an. „Du weißt schon. Als die Herrin euch extra in den Palast zitiert hat.“ Bagel war immer noch verwirrt, doch dann zündete eine seiner Synapsen und er verstand, was Mikey von ihm hören wollte.
„Also, ähm, ich“, stammelte Bagel vor sich hin. Er wusste nicht so recht, wie er mit dieser Frage umgehen sollte, denn schließlich sollte er von DIESER Reise nichts erzählen.
„Wie kannst du das nur fragen?“, sagte Bagel empört. Mikey wusste nicht, warum sein Gegenüber plötzlich so unfreundlich wurde.
„Ich darf dir davon doch nichts erzählen“, erklärte er sich. Mikey sah ihn nur verwirrt an.
„Aber“, fing Mikey seine Aussage an, „wir sind doch allein und später ist doch sowieso alles andere egal.“ Erneut Stille. Bagel seufzte einmal laut. Dann führte er aus.
„Wir sollten ein seltenes Artefakt aufs Festland bringen.“ Mikey lehnte sich in seinen Stuhl, trank einen kleinen Schluck und hörte Bagel aufmerksam zu.
„Zuerst dachten wir, es handelt sich um einen einfachen Goldschatz oder so. Stellte sich heraus, das war es nicht. Auf so ‘ner versteckten Insel haben Noel, Xhan, Galidor und ich dann DEN Kristall gefunden.“
„Du meinst etwa…“, wollte Mikey fragen, doch Bagel bestätigte im nächsten Satz seine Vermutung. „War der Kristall der Göttin. Aber wir wussten nichts davon. Hätte sie uns vorher schon gesagt, dass wir das mit Abstand mächtigste Relikt nach Hause bringen werden, wären wir den Deal wohl nie eingegangen.“ Mikey nahm einen Schluck vom Glas.
„Keiner will dafür verantwortlich sein, dass sich die Geschichte wiederholt. Schon gar nicht wir! Aber es kam, wie es kommen musste. Jetzt liegen sie alle begraben unter dem Turm.“ Mikey starrte in das halbvolle Glas. Mit beiden Themen verschlechterte er die schon arge Stimmung. Auch wenn beide noch ein paar Stunden Zeit hätten, innerlich hatte Mikey bereits aufgegeben.
„Aber was soll’s!“, unterbrach Bagel Mikeys Gedanken, „ich werde gleich eine letzte Runde mit der Leviathan drehen und auf die Jungs trinken. Vielleicht beruhigt mich die kühle See und nimmt mich in ihren Schoß.“
Mit einem Satz trank Mikey den restlichen Inhalt des Glases aus und sah Bagel in die Augen.
„Du warst schon immer verliebt in die See“, sprach er seinen Gedanken mit einem leichten Hauch von Melancholie aus. Dann stützte er beide Arme auf den Tisch, erhob sich und ging in Richtung Tresen.
„Was machst du jetzt?“, fragte Bagel verwirrt. Mikey beantwortete seine Frage, während er in den hinteren Teil der Kneipe ging. „Als ihr da letzte Woche auf eurer Suizidmission wart, habe ich nochmal ein prächtiges Exemplar eines Andura-Kugelfisches gefangen.“ Bagel riss die Augen auf und war kurz davor, selbst aufzustehen.
„Sag nicht“, begann Bagel, wurde aber von Mikey schlagartig unterbrochen. „Ich weiß! Ich hab den noch im Kühlraum“, rief Mikey aus der Küche. „Wer weiß, vielleicht bin ich auch gar nicht mehr so gut im Zubereiten und ich erwische den tödlichen Teil.“ Mikeys Stimme wurde zunehmend zynischer. „Ist dann wie beim Würfelspiel, nur mit einer höheren Chance.“ Bagel lehnte sich machtlos nach hinten in den Stuhl. Nach wenigen Sekunden lauter Geräusche aus der Küche kam Mikey mit dem toten Tier zurück und knallte es auf den Tresen. Bagel nahm einen letzten Schluck von seinem Whisky.
„Mit etwas Glück hat das alles dann ein netteres Ende.“
In einem abgelegenen Waldstück im Süden des Kontinents
Ihre Nase nahm den unangenehmen Geruch von Verwesung, gepaart mit dem frischen und süßlichen Duft der Bäume und Pflanzen, wahr. In den letzten Wochen durfte sie nur Schweiß, Öl und abgestandene Büroluft riechen. Für ihre Nase fühlte es sich wie ein Kurzurlaub an, obwohl sie auf Außenmission war. Sie beobachtete die Bewegungen der Bäume im Wind und es schwang eine gewisse Melancholie mit. Die ruhige Atmosphäre wurde aber zugleich von einem ihrer Kollegen gestört, der fieberhaft dabei war, die Leiche einer Metsanerin zu untersuchen, welche auf dem halb verdorrten Rasen einer kleinen Waldlichtung umgekommen war.
„Florence! Würdest du bitte die Probe entnehmen?“, wurde sie gebeten. Sie entriss es aus ihrem Tagtraum und wurde von ihren Kollegen nur wartend angestarrt.
„Ähm“, stotterte sie. Dann sammelte sie ihre Gedanken, griff nach ihrer Tasche und zog die Ausrüstung heraus.
„Aber natürlich! Geht gleich los!“. Die Kollegen räusperten sich und fingen leicht an zu lachen. Sie wusste, dass sie sich über sie lustig machten. Sie ignorierte es. Aus einer kleinen Tasche entnahm sie einen kleinen Computer sowie eine lange Spritze. Dann kniete sie vor die Metsanerin und bereitete alles vor.
„Hier!“, sagte einer der beiden plötzlich, griff heftig den leblosen Arm der Metsanerin und hielt ihn näher an Florence. „Dann kommst du besser an.“ Der andere Kollege riss die Augen auf und schimpfte:
„Du kannst die doch nicht so heftig anpacken!“
„Die ist tot!“, erwiderte der eine Kollege plump, „die spürt nichts mehr.“ Florence signalisierte ihm, dass er den Arm loslassen kann, damit sie die Nadel vorsichtig einführen konnte. Sie traf genau an der Ellenbeuge und zog dann das Blut in den Zylinder rein. Die anderen beiden interessierten sich nicht dafür und plauderten ein wenig.
„Weißt du, diese Metsaner sehen auch alle gleich aus“, führte der eine an, „als hätten die alle miteinander Inzest gehabt.“ Der andere musste schmunzeln. Florence verdrehte nur genervt die Augen, als der erste Tropfen Blut auf dem Scanbereich des Computers landete, um die Zusammensetzung zu analysieren.
„Ich weiß auch nicht, wann die Götter beschlossen haben, so eine verrückte Spezies zu erschaffen“, bemerkte der andere. Florence hatte von den beiden wenig erwartet. Sie waren schon immer sehr rassistisch und wenig weltoffen. Sie konnte sich das Folgende nicht verkneifen.
„Metsa war der erste Sohn des Gottes Sol. Er wollte eine friedliche, naturverbundene Spezies haben, also schnitzte er ein Stück Rinde aus einem seiner Bäume, legte es zu den Pflanzen und ließ aus ihrer Verbindung die Metsaner entstehen“, erklärte sie sehr stolz.
„Oho! Wir haben eine Klugscheißerin im Team!“, äußerte sich der eine Kollege recht genervt. Der andere fühlte sich plötzlich so sehr angegriffen, dass er auf Florence zuging und meinte:
„Wenn du schon so viel weißt, dann kannst du uns doch sicher auch sagen, was mit den verrückten Rinden hier passiert ist, oder?“ Seine Stimme klang provozierend. Florence wollte sich nicht entwürdigen lassen, also ignorierte sie seine dämliche Provokation. Das gefiel ihm gar nicht und er wollte ausholen, um Florence am Kragen zu packen, doch dann hörte man aus dem Gebüsch eine tiefe Männerstimme rufen: „Meine Herren!“ Heraus kam jedoch ein etwas jüngerer Mann.
„Nick!“, sagte Florence erleichtert. „Kannst du diesen Hohlköpfen sagen, dass sie mich nicht bei der Arbeit stören sollen?“
„Jungs! Ihr wisst, wo euer Platz ist“, erinnerte Nick die beiden. Diese stellten sich stramm vor ihn. „Jawohl, Sir!“
Nick stellte sich neben Florence hin, die daraufhin erstmal aufstand, um Nick würdig zu begrüßen.
„Du kommst keine Minute zu spät. Der Scan läuft gerade“, teilte sie ihm mit.
„Gut!“, bestätigte er, „umso eher wir wieder aus dem Wald sind, umso besser.“ Florence verzog schmunzelnd ihre Miene. „Hat da etwa der weltbeste Auftragsmörder Angst vor einem Wald?“
„Nein! Aber mit einem Scharfschützengewehr kann man auch keine Horde an Zombies töten.“ Florence musste eingestehen, dass ihre Situation doch etwas gefährlicher als angenommen war. Während sie sich unterhielten, hatte der Computer den Scan abgeschlossen. Florence sah sich rasch die Ergebnisse an. Nick stellte sich hinter sie, um besser auf den Bildschirm schauen zu können, und musste mit Erstaunen feststellen, dass sich seine Theorie in seinem Kopf bestätigte. Florence war hingegen verwirrt über die Ergebnisse.
„Das ergibt keinen Sinn. Sie ist doch eine Metsanerin, also müsste sie doch auch vom Virus befallen sein.“ Nick schmunzelte ein bisschen und wollte ihr gerade erklären, was es mit den Ergebnissen auf sich hatte, da raschelte es erneut im Gebüsch. Nick zog seine Waffe blitzschnell heraus und war bereit, auf das zu schießen, was da auf sie zukam.
„Sie ist eine Halb-Metsanerin“, sprach eine klagende und erschöpfte Stimme aus dem Busch und ein junger, großer Mann mit kurzem, weißen Haar kam heraus. Die beiden Kollegen zückten ihre Waffen, Florence stand wie angewurzelt an der Stelle und Nick senkte seine Waffe.
„Eine Halb-Metsanerin?“, fragte Florence verwirrt. Sie ist in ihrem Leben noch nie einer begegnet. Aber es würde erklären, warum sie nicht vom Virus befallen war.
„Halb Mensch, halb Metsanerin. So wie ihre Eltern es wollten“, erklärte Nick und sah dabei in die Augen des Mannes.
„Ist schon eine verrückte Zeitlinie, in der wir hier sind. Nicht wahr, Nick?“, merkte der Mann an. Nick bewegte seine Hand nach unten, um den anderen zu signalisieren, dass sie ihre Waffen auch senken sollten. Florence war verwirrt, aber neugierig zugleich. Sie sah gespannt zu, wie sich die Situation entwickelte.
„Ich dachte, ehrlich gesagt, du wärst tot. Aber irgendwie wundert es mich auch nicht“, sagte Nick und ging langsam auf sein Gegenüber zu.
„Ich verstehe dich nicht“, sagte der Mann.
„Was verstehst du nicht?“, fragte Nick verwirrt mit hochgezogener Augenbraue.
„Sie war unsere Freundin und du hast zugelassen, dass sie getötet wurde.“ Nick senkte seinen Kopf und starrte auf das Gras. Selbst er konnte in diesem Moment kein Pokerface aufsetzen.
„Ich hatte keine andere …“, wollte Nick antworten und wurde sofort von seinem Gegenüber schreiend unterbrochen. „Du hattest eine Wahl!“ Er ging humpelnd ein paar Schritte näher. Florence und die anderen beiden nahmen eine verteidigende Position ein, während Nick in seiner ruhigen Haltung blieb.
„Und ICH habe eine Wahl“, merkte der Mann an. Er holte einen glühenden, violetten Stein aus seiner rechten Hosentasche hervor. Nick riss die Augen auf.
„Du hast …“, wollte Nick vorbringen, aber der Mann unterbrach ihn erneut. „Ja. Ich habe das Hasenherz von Yumi.“ Florences Knie fingen zu wackeln an. Sie hatte viel über das Begleittier der Hüterin gehört und gelesen, doch dass ihr Gegenüber das Herz des magischen Wesens in der Hand hielt, konnte nichts Gutes bedeuten.
„Und nein!“, stellte der Mann klar, „ich habe Yumi nicht getötet. Er hat sich freiwillig geopfert.“ Er streckte selbstsicher seinen rechten Arm mit dem Stein gen Himmel.
„Wag es ja nicht!“, schrie Nick ihn an, doch es war bereits zu spät. Plötzlich begannen die Blumen und Pflanzen um alle herum zu leuchten. Selbst das Gras, in welchem die tote Metsanerin lag, strahlte in einem satten Grün. Aus der Ferne hörte man knurrende, sabbernde Geräusche und das Rascheln von Espenlaub. Florence und die anderen wurden zunehmend nervöser. Ihre Kollegen waren kurz davor einfach zu verschwinden.
„Dass du das Herz einfach so missbrauchst“, brachte Nick entsetzt vor.
„Ich missbrauche es nicht!“, korrigierte der Mann, „ich nutze es!“ Die wilden Geräusche kamen näher und man konnte nun deutlich erkennen, dass es sich bei den Geräuschen um infizierte Metsaner handelte. Nick zog blitzschnell seine Waffe und zielte auf den Mann.
„Ich hätte nicht gedacht, dass ich das tun muss!“
An den weißen Stränden im Westen des Kontinents
Er spürte den feuchten Sand an seinen Füßen. Mit jeder Welle, die am Strand aufschlug und in sich zusammenfiel, spülte es die kleinen Körner von seiner Haut davon. Eine kühle Brise war zu spüren und am Horizont zeichneten sich vereinzelnd kleine Wolken ab. Dann machte er ein paar langsame Schritte auf das Meer gen Sonnenuntergang zu, bis seine Füße komplett mit Wasser bedeckt waren. Von hinten hörte er eine Stimme entsetzt rufen: „Was machst du da?!“
Aaron drehte seinen Kopf nach hinten und sah, wie sein Freund Waiel auf den Strand gerannt kam.
„Das war unser 36. Versuch. Vielleicht sollten wir es einfach gut sein lassen“, erwiderte Aaron resigniert.
„Bist du verrückt?“, entgegnete Waiel wiederum entsetzt. Aaron schmunzelte leicht.
„Ähm, ja“, antwortete er sarkastisch.
„So meinte ich das nicht!“ Waiel hielt kurz inne, während sich Aaron wieder in Richtung Meer drehte. „Ich habe dich bei 16 durch das Feuer, bei 23 durch das Virus und bei 30 durch einen verdammten Kopfschuss deines besten Kumpels verloren. Das war eine verdammte Achterbahnfahrt der Gefühle. Tu mir das nicht an.“
„Vergiss nicht bei 27, wo du für den Blackout gesorgt hast und ich dann hinterrücks abgestochen wurde“, fügte Aaron scherzhaft hinzu. Waiel schüttelte entnervt den Kopf.
„Am Ende war das nicht mal ich“, korrigierte Waiel, „Yuro war dafür verantwortlich.“ Aaron drehte sich um und ging langsam zurück zum Strand.
„Wie Yuro?“, fragte Aaron interessiert.
„Stimmt!“, stellte Waiel dann fest, „Du kannst das gar nicht wissen, weil …“ Aaron vervollständigte seinen Satz. „Weil ich schon tot war.“
Waiel hielt kurz inne, während Aaron zurück am Strand war und sich auf eine nahegelegene Holzbank hinsetzte. Aaron folgte ihm und setzte sich rechts neben ihn. Beide beobachteten sie das Meer und wie melancholisch die Wellen an den Strand aufschlugen.
„Es war wie ein verdammtes Tauziehen“, äußerte sich Waiel, „immer wieder hatte eine Seite den Vorteil. Zog stärker, dann wieder schwächer. Aber am Ende reichte es jetzt trotzdem nicht.“
„Die Welt fällt ins Chaos“, bemerkte Aaron betrübt. Beide ließen sie die Geschehnisse Revue passieren.
„Yuro sprengte dieses Mal den Turm“, begann Waiel seine Ausführung, „noch bevor Nick den Kristall sichern konnte. Er begrub ihn und sämtliche Mitglieder der Operation mit dieser Aktion, während die restlichen Zivilisten in die Berge flohen. Die Zerstörung des Kristalls erzeugte eine so heftige Druckwelle, dass sämtliche Schiffe auf dem Meer zerbrachen und die Besatzungen alle im Meer ertranken.“
„Selbst Bagel, der zu dem Zeitpunkt neben der Militärbasis angedockt hatte“, fügte Aaron hinzu.
„Dieses Mal konnten wir das Feuer verhindern, aber Thomas hat trotzdem die Kontrolle über das Hasenherz erlangt und hat vermutlich schon alle Metsaner als seine Sklaven genommen“, führte Waiel fort.
„Armer Noel“, merkte Aaron an, „Aber wir wissen beide, was passiert ist, als er mir das Herz gegeben hat.“ Da stand Waiel blitzartig wieder auf.
„Dieser Versuch war so gut!“, ärgerte er sich, bewegte sich auf der Stelle hin und her und zerrte raufend an seinen kurzen Haaren.
„Was ist, wenn sie es so gewollt hätte?“, fragte Aaron.
„Das ist Schwachsinn! Sie hätte das niemals so gewollt!“, widersprach Waiel.
Aaron blickte aufs Meer, während Waiel versuchte, sich wieder zu fangen. In der Ferne konnte man die Silhouette eines großen Gebäudes sehen. Der Schatten eines großen Palasts.
„Weißt du“, begann Aaron mit sanften Worten, „Sie wollte für uns immer ein Zuhause schaffen. Einen Ort, wo wir alle friedlich koexistieren können. Einen Ort, wo wir alle zusammen sind. Zusammen feiern. Zusammen lachen. Zusammen weinen.“ Waiel drehte sich langsam zu Aaron.
„Doch die Vergangenheit holt uns immer wieder ein.“ Die leichte Brise wurde zu einem etwas stärkeren Wind. Beide wandten ihren Blick gen Horizont, an dem sich nun dunkle Wolken abzeichneten.
„Die Entscheidungen, die wir treffen…“, begann Aaron.
„…bestimmen das Schicksal in unserer Welt!“, führte Waiel fort. Es herrschte eine kurze Stille zwischen den beiden.
„Lass es uns ein letztes Mal probieren“, äußerte sich Aaron mit einem leichten Seufzer. In Waiels Gesicht zeichnete sich ein Lächeln ab. Beide wussten nun, was zu tun war.
„Ich gehe schon einmal vor“, sagte Waiel und ging langsam vom Strand in Richtung eines großen, weißen Gebäudes. Nach dem ersten Schritt hielt er kurz inne und drehte seinen Kopf zurück zu Aaron.
„Was ist eigentlich aus Shira geworden?“, fragte Waiel neugierig. Man konnte Aaron ansehen, dass er eigentlich nicht darüber reden wollte. Er dachte an seine Metsaner-Freundin und seine Augen beobachteten die Wellen.
„Sie fiel dem Chaos der alten Welt zum Opfer“, erklärte Aaron mit ernster Miene, bevor er erneut seinen Kopf senkte und das Folgende eingestehen musste.
„Leider war das die richtige Entscheidung.“
pondos 'Zunder in Ristmühl'
Zunder in Ristmühl
19/20 Assos
Der Fremde kam in einer Sommernacht an. Es war eine dieser Nächte, die dich an damals zurückdenken lässt, an ungeschützte Jugendliebe im Freien, an lange Beine, Abenteuerlust und den zerbrechlichen Glauben an die Menschheit – an damals, als du von der fragilen Einrichtung der Welt noch nichts wusstest. Es war überaus warm, die Luft war spannungsgeladen. Als zöge bald ein Unwetter auf.
Sein alter Kombi fuhr weitgehend unbemerkt auf einen Hof am Dorfrand, der Fremde stieg aus, lud ein paar Sachen aus und trug sie anschließend ins Haus. Und seit langen Jahren brannte dort mal wieder das Licht.
Im Dorf war nicht viel bekannt. Einer aus Prag habe den Hof der Mollis gekauft, mehr wusste man nicht. Die Mollis waren ehrliche Leute gewesen, gute Leute, angesehen in der Gemeinde, aber sie waren kinderlos geblieben und bereits vor dreizehn Jahren gestorben. Lange war ihr schönes Fachwerkhaus mit dem angrenzenden Land unverkauft geblieben, weil niemand zu uns nach Ristmühl ziehen wollte. Hier war die Endstation der Landflucht erreicht, jedes zweite Haus stand inzwischen leer. Viele der Alteingesessenen wollten jedoch auch keinen Zuzug. Die Städter mit ihren modernen Sitten und Marotten wurden von den meisten abgelehnt.
In der Kneipe hatte sich Gerd einmal zu mir gelehnt und es mir so erklärt: „Ey, was willst du von Städtern erwarten, die noch nie richtig gearbeitet haben?“ Sein Atem stank nach Zigarettenrauch, sein Hemd nach altem Schweiß. Gerd war Bauarbeiter, ein Brocken von einem Mann mit dicken Armen, fleischigen Händen, aber auch unbedachter Zunge. Gerd kam meist nach der Schicht ins Stübchen und blieb, bis er vom Hocker fiel. Er gestikulierte mit der Selbstsicherheit desjenigen, der sich unter Gleichgesinnten wähnte. „Die tagsüber in ihre Macbooks starren, bis ihnen die Rübe weich wird, und sich abends ihren Obsessionen hingeben? Weißte, wo keine Pediküre, da keine Fußfetischisten.“ Dann hatte er gelacht, mir mit Schwung auf die Schulter geklopft, dass ich einknickte, und mir zugeprostet.
Der Fremde zog auf den Hof der Mollies, ohne viel Aufhebens davon zu machen. Manchmal sah man ihn im Hofladen, wo er sich etwas Gemüse und ein paar Konserven kaufte, doch auch dann war er unzugänglich. In sich gekehrt. Deutete man ein Gespräch an, hatte er es eilig. Jicker, ein korrekter und manchmal etwas langsamer Endfünfziger, dem der Hofladen gehörte, sagte, der Fremde heiße Harald, aber sei recht wortkarg.
Es gab noch ein paar wenige andere Zugezogene, die Gurtens und die Ellbecks, aber wie Harald fanden sie nicht so recht Anschluss im Dorfleben. Argwohn baute sich bei den Alten auf und nicht lange, nachdem Harald nach Ristmühl gezogen war, schien sich ihr Argwohn für die Alten zu bestätigen.
Als im Spätsommer Donnies Eileiter durchgeschnitten werden sollten, er war Irenes bester Zuchtbulle, bekam Donnie einen Abszess und starb infolge der Vasektomie. Ein Unfall, hieß es zunächst, so etwas konnte passieren. Doch dann fielen an einem anderen Tag ihre Gänse einfach tot um. Bei den Mitterleins wurden zeitnah mehrere Scheiben eingeschlagen und bei den Turells verschwanden verschiedene Gartengeräte, ein Rasenmäher, eine Heckenschere und noch ein paar Dinge. Und ja, sie alle wohnten in der Straße von Harald.
Im Stübchen ging es in einer der darauffolgenden Nächte heiß her. Die ganze Kneipe war verqualmt, knapp ein Dutzend Alteingesessener hatte sich am Tresen zusammengefunden.
Irene, die von gedrungener Gestalt und dem Schnaps zugetan war, ereiferte sich. „Scheiß die Wand an, Jicker, wer sonst, wenn nicht einer der Neuen soll für die ganze Scheiße hier verantwortlich sein, die hier neuerdings passiert? Andere Arschlöcher verirren sich doch nicht in unser beschissenes Kaff!“
Jicker hob beschwichtigend die Hände. „Ich verstehe ja deine Wut, Iri. Aber wieso sollte irgendein Städter deine Tiere umbringen? Oder bei Heinz und Frida die Scheiben einschmeißen? Wir müssen Contenance bewahren.“
„Scheiß auf deine Scheißcontenance! Ach, was weiß ich, hier, Hinnerk“, sie wandte sich zum Wirt und schob ihm ihr leeres Bierglas hin, „mach mir mal noch ‘ne Tulpe.“ Sie wandte sich wieder Jicker zu. „Weiß ich, was diese ganzen ekelhaften, perversen Druffies so treiben? Weiß ich, was mit einem passiert, der sich die ganze Woche in irgendwelchen Dissen Pillen schmeißt, der nur noch Vergewaltigungs-Hip-Hop hört, der jeden Anstand verliert?“ Sie rülpste, dann wurde sie ganz leise. Die anderen lauschten schweigend. „Scheiße, weiß ich, was passiert, wenn einem alle Lampen im Kopf durchknallen?“ Sie blickte auf ihre schwieligen, von harter Arbeit gezeichneten Händen. „Weiß ich, wie’s ist, wenn auf einmal alles nur noch auf Abriss steht? Manche Leute wollen die Welt in Scherben sehen, Jicker, deine Versicherungen, dass das schon alles gut wird, helfen mir nicht.“ Sie funkelte die anderen böse an. „Wenn noch mal irgendwas passiert, stellen wir nachts ‘ne Aufsichtsperson vor jedes der Häuser von diesen Zugezogenen. Und wehe, irgendjemand macht dann etwas Dummes.“ Ein paar ihrer weißen Haare hingen ihr wirr ins Gesicht, ihr strenger Knoten hatte sich etwas gelöst. Sie spie die letzten Worte aus.
Einige hörten ihr mit verschränkten Arme zu, ein paar sagten leise: „Jawoll.“ Andere geiferten. In meinem Bauch rumorte es. Vielleicht kennst du es, wie es sich anfühlt, wenn sich etwas Düsteres zusammenbraut, das du nicht richtig greifen, aber spüren kannst.
Am Tag darauf brühte sich Harry einen Kaffee auf. Er hatte sich nur die alte Filterkaffeemaschine aus dem Keller geschnappt, hatte die Scheiße mit Jana ihre Scheiße allein sein lassen und war nach Ristmühl gefahren. Seit Jahren hatten sie sich darüber gestritten, ob sie ihr Leben in Prag weiterführen sollten oder nicht, Harry war dagegen gewesen, Jana dafür, und irgendwann hatte es gekracht und Harry war gefahren. Er hatte ein paar Jahre sehr gut in Prag verdient, aber es hatte ihn zurück nach Deutschland gezogen, aufs Land, abseits der Großstadt. Jana hatte sich von ihm getrennt, also hatte er Nägel mit Köpfen gemacht.
Er hatte sich in den alten kleinen Hof bereits bei der ersten Besichtigung verliebt, in diese Mischung aus Heruntergekommenheit und Dorfidyll. Er stellte sich ans Doppelfenster, das er fürs Stoßlüften weit geöffnet hatte, nippte an seinem Kaffee und betrachtete entzückt, wie die Farbe von den Fensterläden des gegenüberliegenden Schuppens abblätterte.
Da winkte ihm ein Mann vom Weg her und kam zu ihm aufs Grundstück. Er war groß, etwas schlaksig, hatte schütteres Haar, Birkenstocklatschen an und eine eckige Brille auf der Nase.
„Hey, grüß dich“, sagte er. „Ich bin Gunnar, Gunnar Ellbeck. Wir wohnen im Neunfüßlerweg da hinten.“ Er zeigte in eine Richtung vom Haus weg.“
„Hi, ich bin Harald“, sagte Harry.
„Du bist vor ein paar Wochen hier angekommen, oder? Hast du dich schon etwas eingelebt?“, fragte Gunnar.
„Na ja, etwas“, sagte Harry und ging in Gedanken durch, was er schon alles in den letzten Wochen getan hatte. Es war ziemlich wenig gewesen, er hatte einfach keine Lust gehabt, mit dem Renovieren zu beginnen oder das Haus einzurichten. Ein paar Möbel, waren ja da, es bestand keine Not, sich zu beeilen, momentan scheuchte ihn ja auch niemand mehr herum. „Aber ich war vor allem viel am See und manchmal noch in Berlin und in Prag.“
„Ja, das dachte ich mir“, sagte Gunnar etwas gedankenversunken, als er sich umblickte. „Wir, also meine Frau, Tochter und ich, sind vor zwei Jahren auch hergezogen, ich …“ Jetzt blickte er auf. „Ich wollte nur sagen, dass du ein bisschen auf die Leute hier achtgeben musst. Auf die, die schon lange hier wohnen. Manche sind … speziell. Du hast von dem Vandalismus in letzter Zeit gehört?“
„Vandalismus?“, fragte Harry verdutzt. „Nee.“ Gar nichts hatte er mitbekommen.
„Ja, Vandalismus, bei manchen Nachbarn gab es Vorfälle, eingeschlagene Scheiben, Sachen wurden geklaut, wahrscheinlich wurden ein paar Gänse vergiftet.“
„Ach du Scheiße?“
„Jaah“, sagte Gunnar langsam. „Die Alteingesessenen hier, weißt du, die neigen dazu, die zum Sündenbock zu machen, die noch nicht so lange hier wohnen.“
Stille trat ein.
„Na ja“, sagte Gunnar. „Das wollte ich dir nur sagen. Mach dir keine Gedanken, es ist nur Dorfgeschwätz, aber manchmal kommen wir“, er zeigte auf Harry, sich und vage in die Richtung, in der er wohnte, „nicht so gut dabei weg. Das ist bestimmt irgendwann aber vorbei.“
Er sah zweifelnd aus.
„Na gut, dann dir erstmal ‘nen schönen Tag!“ Gunnar hob die Hand und schlurfte vom Hof.
Harry sah ihm mit gemischten Gefühlen noch eine Weile hinterher.
Zur gleichen Zeit ging Irene über ihren Hof, ihr gekrümmter Rücken bereitete ihr Schmerzen. Ihr Herz sank in ihre Knie, als sie den Gänseschuppen betrachtete – ihr Herz hing mehr an den Tieren als an den Menschen. Die hatten sie zu oft enttäuscht. Sie ließ den Blick über ihre Scheune und ihr Haus schweifen. Alles war etwas heruntergekommen, betrübt sah sie, wie die Farbe von ihrem Jägerzaun abblätterte. Früher, als Georg noch gelebt hatte, war es leichter gewesen, auch wenn er ein scheußlicher alter Trinker gewesen war. Aber sie waren trotzdem ein Team gewesen. Sie lachte traurig. Jetzt war sie die scheußliche alte Trinkerin.
Sie wusste nicht, wie sie mit dem Verdienstausfall ihre übrigen Tiere versorgen konnte. Alles war so teuer geworden. Sie blickte zum Himmel, eine Träne rann ihr über die Wange.
Zwei Tage vergingen, ohne dass etwas geschah. Doch in der darauffolgenden Nacht gellten Schreie durch die rötliche Schwärze. Menschen aus dem ganzen Dorf rannten zum Hof der Beetes. Es brannte. Max Beete hatte den größten Bauernhof in der Region. Irgendjemand hatte es fertiggebracht, die auf dem großen Hof gelagerten Heuballen zusammenzuschieben, aufzutürmen und anzuzünden. Der Sommer war heiß und trocken gewesen, wie so oft in den letzten Jahren, und jetzt brannte ein gewaltiger, haushoher Heuhaufen lichterloh direkt im Hof.
Das ganze Dorf kam angerannt, da wir über keine eigene Feuerwehr verfügten. Ich sah auch Harald, wie er in Schlafklamotten keuchend ankam und seine Hilfe anbot. Max hatte die Feuerwehr natürlich bereits gerufen, aber es konnte vierzig Minuten oder länger dauern, bis sie kam – Zeit, in der das Feuer auf die umliegenden Häuser übergreifen konnte, insbesondere auf Schuppen und Scheunen, die nur mit Holzdächern bedeckt waren!
Schläuche wurden ausgerollt, Wassereimer gereicht und versucht, manche kleineren Flammen mit Sand zu ersticken. Doch es nützte nichts, in schrecklicher Schönheit schlugen die Flammen immer höher. Es schien, als ergötzte sich das Feuer an sich selber, als führte es einen autoerotischen Tanz auf, der nur sich selber diente, als lebte es nur für den Moment. Als wären die Folgen völlig egal. Feuer existierte nur für den Moment, bis kalte Asche übrigblieb. Der Feuertanz hätte inspirierend sein können, wenn nicht in diesem Augenblick Max‘ Scheune niedergebrannt wäre. Gerd schrie, als sein Ärmel Feuer fing, und die beiden Töchter von Max weinten. Wir versuchten lange vergeblich, Herr der Lage zu werden, auch wenn wir es noch so sehr versuchten. Alle wurden hektischer, panischer – da schnitt Blaulicht durch die Szenerie, zum Glück traf endlich die Feuerwehr ein, und mit ihrer Hilfe schafften wir es, das Feuer zu bändigen.
Bis in die frühen Morgenstunden halfen wir Max‘ Familie, die Folgen des Brandes zu lindern. Manche gingen irgendwann nach Hause. Erschöpft ließen wir anderen uns auf Bänke und Kisten fallen, als die Hähne krähten. Max‘ Frau Rita brachte uns allen eine neue Fuhre Kaffee.
Nicht zum ersten Mal fragte sie beim Ausschenken halb zu sich, halb in die Runde: „Wie zum Teufel konnte das passieren?“ Sie schüttelte den Kopf und wischte sich die Haare aus dem Gesicht.
Wir nippten am Kaffee und blieben stumm.
Schließlich hob Irene den Kopf. „Ja, verdammte Scheiße. Brandstiftung. Wie konnte das – ums Verrecken noch eins – passieren, Harald?“
Harald sah aus wie ein geprügelter Hund. Er setzte an, hielt inne, wischte sich durchs schmutzige Gesicht und sagte: „Das weiß ich leider nicht, Irene.“
„Jetzt lass doch den Harald in Ruhe, lass uns doch keinen Nachbarschaftsstreit –“, wandte auch Gunnar ein, der müde in einer Ecke saß, doch er wurde jäh unterbrochen.
Kurt Turell, dem die Gartengeräte gestohlen worden waren, schnitt ihm wütend das Wort ab: „Sei du mal schön ruhig!“ Er schnaufte. „Die Frage ist berechtigt. Bevor ihr“, er deutete auf Gunnar, Harald und Ida und Elior Gurten, die auch zugezogen waren und auf zwei Kisten vor der abgefackelten Scheune saßen, „bevor ihr – und vor allem du, Harald – nach Ristmühl gekommen seid, ist so eine Scheiße nicht passiert! Das war mutwillig, versteht ihr das nicht, jemand hat das Heu zusammengeschoben und dann angezündet. Wäre es nicht so windstill gewesen, hätten noch einige Häuser mehr abbrennen können, verdammte Scheiße!“
„Mann, bist du bekloppt? Ich hab hier doch nichts angezündet!“, schrie Harald heiser.
Kurt sprang auf. „Aha! Aber vielleicht das Heu dafür vorbereitet?“
Harald sprang ebenfalls auf. „Bist du völlig irre? Wieso sollte ich das machen? Oder was klauen? Oder nachts Scheiben einschlagen? Oder –“
Doch Kurt unterbrach ihn mit erhobener Hand. „Wer glaubt denn bitte schön, dass das jemand gemacht hat, der hier schon seit Kindheitstagen wohnt?“ Er sah aufmerksamkeitsheischend in die Runde. Er blickte in müde, ratlose und auch zornige Augen. Keiner rührte sich. „Und wer glaubt“, setzte Kurt lautstark wieder an und wischte sich etwas Ruß aus dem Gesicht, „dass das, wenn überhaupt, jemand gemacht hat, der erst seit kurzem hier ist? – Denn das kann doch nur die einzige Erklärung dann sein?!“ Er schrie.
Blicke wurden getauscht. Langsam reckte sich hier und da ein Arm nach oben. Ich ließ meinen Arm unten, aber ich sah die Wut bei vielen anderen.
Harald wurde weiß im Gesicht. Er flüsterte: „Das kann … Mit so einer pseudodemokratischen … Leute … Das kann doch nicht …“ Unschlüssig stand er da, niemand sagte etwas. Dann ging Harald rückwärts vom Hof. Er rief noch: „Ich habe hier die ganze Nacht mitgeholfen, wie alle!“ Dann drehte er sich um und verschwand.
Gunnar, Ida und Elior standen ebenfalls auf, wie gelähmt. „Wir gehen wohl besser auch“, sagte Elior reserviert. Dann gingen sie. Wir blieben.
Mit klopfendem Herzen schloss Harry seine Haustür auf. Er konnte nicht fassen, was ihm vorgeworfen wurde – und die vielen feindseligen Blicke machten ihm Angst. Eine Weile versuchte er sich zu beruhigen, einen Kaffee zu trinken. Sollte er die Polizei rufen? Aber wegen was? Er starrte vor sich hin. Dann ging er in den Keller und kramte nach einer länglichen Kiste, die Jana ebenfalls stets verabscheut hatte. Seine Schrotflinte. Waffen faszinierten ihn, und er hatte gedacht, dass man auf dem Land in aller Abgeschiedenheit auch hin und wieder schießen gehen könnte. Jetzt reinigte er schnell die Rohre und kramte in anderen Kisten, bis er fand, was er suchte: Munition.
Nervös ging er wieder nach oben, klappte die längliche Bank seiner Eckbank auf und legte die Schrotflinte hinein. Die Munition schob er unter die Bank, dann setzte er sich darauf. Er blickte aus seinem Fenster, die Idylle sah er nicht.
Auf Max‘ Hof redete sich Kurt weiter in Rage. Einige waren gegangen, müde, verrußte Gesichter, die schlafen wollten, alles überdenken. Bei den anderen wurde inzwischen Apfelwein und selbstgebrannter Pflaumenschnaps ausgeschenkt. Seine Frau hatte sich verabschiedet, doch auch in Max steckte offenbar ein tiefer, zorniger Stachel. Zuerst hatten sie einen auf den Schock trinken wollen, zumal Sonntag war, doch dann uferte es aus.
„Einer von denen spielt ein ganz übles Spiel mit uns!“, rief Irene mit flammenden Wangen in die Runde, sie lallte etwas.
„Vielleicht hat einer von denen auch gesessen!“, grölte Hannes, einer der wenigen jungen Männer des Dorfes.
„Oder war in einer Bande oder einem Clan oder einer Gang und musste deswegen weit weg aufs Land ziehen!“, echauffierte sich Ute, Hannes‘ Mutter.
So ging es über Stunden weiter. Weitere wütende Worte wurden gewechselt, ein wenig hatte auch ich mich daran beteiligt, aber zumindest trank ich nicht mit.
„Wisst ihr was?“, dröhnte da Hinnerks Stimme durch die Runde. „Wir sollten ein Zeichen setzen. Scheißegal, wer das von den Scheiß-Städtern war, wir machen klar, dass wir uns das nicht gefallen lassen. Wir. Lassen. Uns. Das. Nicht. Gefallen.“
Hinnerk stand auf, ging in einen von Max‘ Schuppen, nahm sich eine Grepe und sah die anderen aus blutunterlaufenen Augen auffordernd an. Er blickte in entschlossene, wütende und mehr oder minder betrunkene Mienen.
Irene rief: „Scheiße, ja!“
Selbst der sonst so besonnene Jicker nuschelte: „Scheiße, ja.“
Dann riefen viele: „Scheiße, ja!“
Ein harter Kern der alteingesessenen Ristmühler bewaffnete sich. Der Eigendynamik konnte man sich kaum erwehren, mir wurde ein Hammer in die Hand gedrückt, also nahm ich den Hammer. Zusammen liefen wir zu Haralds Haus.
Dort angekommen, schrie Kurt: „He, Harald, komm raus! Unsere Unterredung ist noch nicht zu Ende!“
Als Antwort wurden die Jalousien seiner Küche heruntergelassen.
„Verpisst euch!“, hörte man Haralds Stimme. „Ich rufe die Polizei!“
„He!“, rief wieder Kurt, diesmal entgeistert. „Seht mal!“ Er deutete hinter Haralds Haus. „Da steht mein Rasenmäher! Und da, meine Heckenschere!“
Gerd stieß prompt die Gartenpforte auf und hämmerte gegen Haralds Haustür. „Komm raus, Harald, komm schon raus, du beschissener Dieb!“
Ein Schuss fiel, der Mob sprang auf den Boden, dann trat kurz Stille ein.
Schließlich hörte man Harald: „Das war ein Warnschuss in die Luft! Das nächste Mal ziele ich auf dich, Gerd. Verpisst euch endlich!“
Das war ein Fehler. Gerd nahm das Brecheisen, das er mitgebracht hatte, und brach ohne viel Federlesen die Tür auf. Man hörte einen Schuss, Gesplitter, einen Schrei, und dann schleifte Gerd Harald mit roher Energie aus dem Haus. Er warf ihn hin, schlug ihm ins Gesicht, schrie ihn an. „Was denkst du, auf mich zu schießen? Du willst mich umbringen?“
Gerd packte ihn wieder und schleifte Harald weiter. Er zeterte: „Ein Exempel! Pass mal auf, Harald, pass mal auf!“ Die anderen johlten.
Einer makabren religiösen Prozession gleich zog Gerd den halb ohnmächtigen Harald hinter sich her und der Rest folgte. Ein paar der Ristmühler, die entweder kurz daheim gewesen waren oder in der Nacht gar nicht geholfen hatten, kamen hinzu und verfolgten stumm das Geschehen. Die Prozession führte zum Kirchturm, wütend riss Gerd dessen Tür auf und zog Harald hinein.
Wir anderen blieben draußen, es war zu eng und zu schmal im Turm, nur eine Wendeltreppe führte zur Turmuhr und zum Dachreiter der Kirche hinauf.
Die Stimmung schien umzuschlagen. War das Gejohle eben noch wütend, schien es sich jetzt ins manisch Vergnügliche zu kehren. Mir wurde ganz komisch. Die meisten schienen mit freudiger Erregung ungehemmt darauf zu warten, was jetzt geschah.
Ein kleines Fenster oben im Turm knallte auf, dann sah man, wie zwei bullige Arme Haralds Oberkörper nach draußen streckten, bis er kopfüber nach unten baumelte. Harald schrie. Gerd hielt nur noch seine Beine fest.
Die Menge johlte und pfiff. Ich sah mich um, hier und da waren zweifelnde, bisweilen ängstliche Gesichter zu sehen. Doch die meisten waren erregt und gebannt. Neben mir stand Irene, sie pfiff und schrie und hatte Tränen der Wut und des Hasses in den Augen.
„Lass ihn fliegen wie ‘ne Möwe!“, schrie einer.
„Rapunzel, lass dein Haar herunter!“, rief ein anderer.
Ein paar lachten.
„Defenestration“, murmelte Jicker eher sich selbst zu und nestelte nervös an seiner Brille herum.
Und dann schien es wie in Zeitlupe und doch so schnell zu passieren. Harald bäumte sich auf, versuchte sich an Gerds Armen festzukrallen, hieb auf ihn ein – und Gerd schlug instinktiv zurück. Haralds Kopf flog wieder nach hinten, nach unten, Gerd konnte ihn nicht mehr halten. Harald flog – wie eine Möwe, könnte mancher meinen – im Sturzflug auf die Menge zu.
Krachen, Knacken, Stöhnen.
Die Manie der Menge schien zu weichen.
Ein zaghaftes „Aber …“ war zu vernehmen. Hie und da ein selbstvergewisserndes „Aber er war es doch, der Iris Gänse vergiftet hat, oder?“. Und auch ein „Hat denn jemand Beweise?“.
„Rasenmäher“, wurde dann gemurmelt.
„Ruft den Notarzt!“, schrie endlich jemand. „Polizei!“, wer anders. Und immer wieder hörte man: „Er muss es doch gewesen sein! Wer soll es sonst gewesen sein? Wer soll es denn sonst gewesen sein?“
Irene starrte entsetzt den reglosen, verrenkten Körper in der Blutlache an. Ihr wurde übel. Ich musste mir ein Lachen verkneifen.
Euch kann ich es ja sagen, Freunde.
Ich war es.
es ist so weit, hurra hurra, die Geschichten der 10. BFS-Runde (ZEHNTE!) sind da und bereit, von euch verschlungen zu werden!+
Ihr kennt das Spiel:
Lest, freut euch, gebt Feedback und stimmt ab für die 2 Storys, die euer Blut am meisten in Wallung gebracht haben.
Die Umfrage läuft bis Samstag, 2. August, 23:59 Uhr.
Natürlich dürfen alle abstimmen und feedbacken, nicht nur die fleißigen Schreiberlinge!
Und nun, without further ado, die Hauptakteure des heutigen Abends, die Geschichten:
BUTTFUCKING STORY 10
- EYE OF THE DRAGON -
- EYE OF THE DRAGON -
ePub und PDF
Special thanks:
@BadBadJellyBean fürs Sammeln der Geschichten, Formatieren und Bereitstellen von PDF und ePub

@Abbel fürs Vorwort
@pondo fürs Nachwort
Die Hülle bleibt
20/20 Assos
Ich glaube, ich habe einen Fehler gemacht.
Das verlassene Krankenhaus stand auf einem Hügel, eingeklemmt zwischen toten Tannen und den dicken, schweren Nebelwolken am Sternenhimmel. Ich war nicht allein. Das wusste ich mit unangenehmer Gewissheit, noch bevor ich durch das rostige Drehkreuz trat, das sich nur widerwillig bewegte, als würde es meine Anwesenheit verweigern.
Ich war gekommen, weil niemand sonst zuhören wollte. Kein Arzt, keine Notaufnahme, kein Spezialist, der mir glaubte, dass die Zyste in meinem Uterus… lebte. Ich hatte sie gespürt, wochenlang. Nicht nur als Schmerz, sondern als wachsende Präsenz. Als eigenständiges Denken. Als wilde Bewegung unter meiner Haut.
Durch ein altes Online-Forum für seltene medizinische Fälle war ich auf einen gewissen Dr. Edelbauer gestoßen. Ein Pathologe, ehemaliger Spezialist für Entwicklungsanomalien. Laut Forum lebte er seit Jahren in einem stillgelegten Krankenhaus im Nirgendwo. Keine offiziellen Sprechstunden. Kein Telefon. Nur Koordinaten.
Ich wollte keine Hilfe mehr. Ich wollte Antworten.
Der Korridor, den ich betrat, war mit einer Staubschicht bedeckt, dick wie Rosenasche. Alles roch nach vergorener Schokolade und Reinigungsmitteln aus den Neunzigern. Es gab keine Stromversorgung, doch irgendwo surrte schwaches Licht. Als hätte jemand kürzlich Generatoren angeworfen – oder als würde das Gebäude selbst atmen.
Ich rief mehrfach:
„Dr. Edelbauer?“
Keine Antwort. Nur Echo. Ein Echo, das zu lange brauchte, um zurückzukommen.
Ich ging weiter. Meine Schritte hallten auf dem Linoleum wie Fremdkörper, und mit jedem Flur, den ich passierte, fühlte ich mich tiefer eingesogen. Dieses Krankenhaus war kein Ort mehr – Es war ein Zustand.
Ein Zustand von Verlassenheit. Von Erinnerung. Von etwas, das nicht vergessen werden wollte.
Ich fand schließlich ein Behandlungszimmer. Oder das, was davon übrig war. Ein alter WC-Stuhl stand in der Mitte, mit Flecken, die aussahen wie eingetrocknetes Konzentrat von etwas Biologischem. Neben dem Stuhl: ein medizinisches Regal, darin ein alter Glasbehälter mit etwas, das aussah wie ein deformierter Fötus. Oder ein Gesicht. Ich konnte nicht genau hinsehen. Ich wollte es auch nicht.
Das war der Moment, in dem ich es wieder spürte – die Bewegung in mir. Kein Schmerz. Ein Drücken. Ein… Kratzen.
Ich setzte mich auf eine Liege im Raum, legte die Hand auf meinen Bauch. Mein Unterleib spannte sich, als wäre da etwas, das gegen die Decke drückte. Ich wollte mich zusammenrollen, weinen, schreien – doch stattdessen starrte ich auf eine medizinische Lupe, die auf einem Verbandswagen lag.
Etwas in mir flüsterte:
„Schau genau hin.“
Ich richtete das Licht auf meinen Unterbauch und betrachtete die Haut. Unter der Lupe erkannte ich feine, dunkle Linien, die sich wie Kapillaren verzweigten – aber zu regelmäßig, zu symmetrisch. Es waren keine Adern. Es war Schrift, unbekannt, eingebrannt unter meine Haut wie ein geheimes Tattoo.
Ich warf die Lupe weg. Keuchte.
Anschließend hörte ich es. Etwas kratzte von unten an der Liege. Fingernägel die an Stahl rieben.
Ich verließ zügig den Raum, aber der Flur schien nun länger als zuvor. Die Neonröhren summten leise, einige flackerten in einem Rhythmus, der mich an einen schmerzhaft langsamen Puls erinnerte. Am Ende des Flurs war eine Tür, die ich zuvor nicht bemerkt hatte. Kein Schild, kein Hinweis – nur abgeplatzter Lack und eine rostige Türklinke.
Neugier oder etwas Tieferes, Unbewusstes, zwang mich näher.
Der Raum dahinter wirkte wie ein Lager. Metallregale, alte Geräte, ein Rollstuhl mit eingerissenem Leder. In der Ecke stand ein Monitor, vom Stromnetz getrennt, doch das Bild flackerte leicht. Ein einziger Stuhl stand vor ihm, als hätte jemand gerade erst dagesessen. Die Luft roch scharf, nach altem Jod und etwas anderem – metallisch, süßlich.
Ich spürte wieder das Drücken in meinem Bauch. Diesmal begleitet von einem Ziehen, als würde sich etwas in mir verschieben, neu sortieren. Nicht zufällig. Zielgerichtet.
Ich sank auf die Knie und hielt den Atem an. Irgendwo im Innern meines Körpers… kratzte etwas.
Ich war weitergegangen, obwohl ich es besser hätte wissen müssen. Das Flackern der Neonröhren wurde rhythmischer, fast wie ein künstlich erzeugter Herzschlag. Ich bog in einen Korridor ein, den ich beim ersten Durchqueren des Trakts nicht bemerkt hatte. Eine Tür war halb geöffnet. Ich trat ein.
Es war ein Besprechungsraum, vielleicht ein ehemaliger Gruppenraum dieser Station. Zwölf Stühle im Kreis. Alle leer. Kein Tisch. Keine Fenster. Nur dieser unfassbar stickige Geruch nach altem Kunstleder und gammligem Abflussrohr.
Die Stille war beunruhigend perfekt. Kein Kratzen, kein Stromsummen. Nur mein Atem – unruhig und flach.
Ich setzte mich.
Unmittelbar, als mein Rücken den Stuhl berührte, zuckte mein Bauch. Als hätte etwas darin mit mir zusammen gezuckt.
Mir wurde schwindlig.
Und dann sah ich sie.
Vor meinem inneren Auge, als wäre der Raum aufgeschlitzt worden, tauchten Silhouetten auf – sitzend. Regungslos. Kein Spiegelbild, sondern etwas anderes. Eine Projektion. Sie sahen aus wie ich. Oder besser gesagt: wie Versionen von mir. Ähnlich, aber fremd. Eine trug ein zu breites Lächeln, eine andere hatte keinen Mund. Eine dritte war haarlos.
Sie bewegten sich nicht. Aber ich spürte ihre Gedanken.
Ein geschlossenes System.
Ein Panoptikum aus mir selbst.
Ich wollte aufstehen, aber meine Glieder waren träge. Mein Bauch krampfte sich zusammen – das Ziehen war stärker, fordernder. Mein Körper fühlte sich nicht mehr zentral gesteuert an, sondern… dezentralisiert.
Ich hatte das Gefühl, dass etwas in mir begann, die Kontrolle zu übernehmen.
Ich blickte auf meine Hände. Sie zitterten.
Mein Gehirn schien sich zurückzuziehen.
Ich dachte an all die Diagnosen, die man mir verweigert hatte.
An die Ärzte, die mich belächelt hatten.
Prätentiöse Arschköpfe.
Ich hatte sie alle gehasst. Nicht, weil sie mir nicht helfen wollten – sondern weil sie davon überzeugt waren, dass sie bereits alles verstanden. Dass ich bloß hysterisch war.
Ein Rauschen in meinem Ohr wurde lauter. Ich hörte es knistern, wie eine entladene Leitung. Und dann: Stimmen.
„Hier beginnt dein Pandemonium.“
Ich weiß nicht, ob es mein Inneres war oder das Ding in mir, das sprach. Aber die Worte schoben sich wie Splitter ins Bewusstsein.
Ich sprang auf. Fast panisch. Etwas lief aus mir heraus – kein Blut, sondern Hitze. Schweiß, Angst.
Ich wankte zur Tür, wollte zurück, einfach zurück.
Doch der Korridor war anders als zuvor.
Ein Schatten huschte am Ende vorbei, lautlos, unscharf. Wie ein zu schnell gerendertes Spielmodell in einem Glitch.
Mojang-Hölle.
Warum kam mir dieses Wort plötzlich in den Sinn?
Diese Umgebung hier…
Blockhaft, strukturiert, aber seelenlos. Als wäre das Krankenhaus eine Simulation. Und irgendjemand hatte das Texture-Pack vergessen zu laden.
Nur der Horror war echt geblieben.
Etwa schlug in meinem Bauch.
Ich stürzte gegen die Wand.
Alles drehte sich.
Da war es wieder – dieses Kratzen unter meiner Haut.
Ich stolperte weiter, zurück in die Richtung des Raums mit dem flackernden Monitor.
Ich weiß nicht, wie lange ich dort auf dem Boden kauerte.
Vielleicht Minuten. Vielleicht eine Stunde. Die Zeit fühlte sich im Inneren dieses Gebäudes anders an – gedehnt, wie altes Gummi, das unter der Hitze der Neonlichter schmilzt. Alles schien mir entglitten. Der Monitor in der Ecke flackerte weiter, obwohl er nicht angeschlossen war. Er zeigte nichts – nur schmutzig-graues Rauschen wie das weiße Bild eines kaputten Fernsehers. Doch manchmal, wenn ich den Blick senkte, glaubte ich für einen Sekundenbruchteil Gesichter zu sehen. Oder vielmehr: Fragmente von Gesichtern. Als wäre das Bild ein zerbrochenes Mosaik aus Blicken, die nicht zu mir gehörten.
Ich stand auf. Mein Bauch spannte sich hart. Ich konnte kaum atmen. Etwas darin… bewegte sich.
Nein, nicht wie ein Baby.
Nicht rhythmisch.
Nicht natürlich.
Es war, als würde ein kleiner Körper versuchen, sich umzudrehen – mit bewusster Kraft. Ich legte die Hände auf meinen Unterleib. Die Stelle war warm. Zu warm. Als würde da ein eigener Kreislauf arbeiten, unabhängig von meinem. Mein Gehirn rebellierte, ein dumpfer Schmerz breitete sich über meine Stirn aus. Ich spürte Tränen, aber ich konnte nicht sagen, ob sie aus Angst kamen oder aus einem anderen, tieferen Gefühl: einem seltsamen, schwachen Stolz.
Als ich weiterging, spürte ich es stärker – ein eigenartiges Flirren im Flur. Wie Strom. Oder Gedanken, die nicht meine waren. Die Gänge des Krankenhauses hatten sich verändert. Türen, die ich passiert hatte, waren verschwunden. Andere standen nun offen. Hinter einer war ein altes Wartezimmer – völlig leer, bis auf eine einzelne Sitzreihe und einen Automaten mit zerkratzter Plexiglasscheibe. Darin: Ein Produkt, das mich sofort erstarren ließ.
Ein Plastik-Ei.
So eines, wie man es als Kind bekam – mit kleinen Überraschungen darin. Ich weiß nicht, warum ich den Knopf drückte. Vielleicht weil ich mir wünschte, dass irgendetwas in dieser Hölle noch banal war.
Das Ei fiel. Ich öffnete es.
Darin lag eine winzige Puppe.
Sie war nicht kindlich. Sie war… ähnlich. Weißer Kittel, starres Lächeln, glasige Augen. Eine Miniaturfigur, vielleicht vier Zentimeter groß. Und sie sah mir ähnlich. Viel zu ähnlich.
Ohne nachzudenken, warf ich sie fort. Sie prallte gegen die Wand und blieb sitzen, als hätte sie sich bewusst hingesetzt.
Ich musste raus. Weg. Irgendwohin.
Ich bog in einen neuen Flur, enger, dunkler, mit Türen an jeder Seite. Manche waren beschriftet:
„Isolierstation B“,
„Verhaltensmedizin“,
„Tumorarchiv“.
Ein Schild am Ende des Flurs war halb abgerissen. Nur ein Wort war noch vollständig lesbar:
„Zoo“.
Ich hielt inne. Spürte den Schweiß auf meiner Haut, den pochenden Druck unter meinem Rippenbogen. Es war nicht mehr nur Bewegung. Es war Formung. Ich spürte, wie sich meine Haut spannte, als würde darunter etwas wachsen, das versuchte, die Oberfläche zu erreichen. Es war kein Schmerz, sondern das Gefühl, dass meine Haut nicht mehr zu mir gehörte. Dass mein Körper langsam zu einem Käfig wurde – und das Ding darin ungeduldig war.
Ich griff nach meinem Unterleib. Und ich spürte es.
Nicht einfach Bewegung.
Ich spürte Finger.
Innen.
Ich stolperte in ein weiteres Behandlungszimmer. An der Wand hingen Röntgenbilder. Ich schaltete die Leuchtfläche ein, mehr aus Verzweiflung als aus Vernunft. Ein Bild war schon eingelegt. Ich erkannte den Umriss meines Beckens. Ich erkannte die Zyste. Doch sie war zu groß. Zu definiert.
Und da waren Zähne.
Ein Schädel mit eingewachsenen Haaren.
Ein halber Wirbelbogen.
Ich wich zurück. Mein Gehirn wollte das Bild löschen, doch meine Augen starrten weiter. Die Leuchtfläche flackerte. Eine neue Aufnahme erschien, ohne dass ich etwas getan hätte. Dieselbe Zyste – aber der Schatten darin hatte sich verändert.
Es war keine Masse mehr.
Es hatte Glieder.
Und ein Gesicht.
Meins.
Bevor ich zusammenbrach, verstand ich endlich, warum ich hier war.
Dr. Edelbauer hatte mich nicht getäuscht.
Er hatte mich studiert. Wie ein Biologe ein Terrarium beobachtet. Mit Geduld, mit System.
Seine erste Nachricht war nicht direkt gewesen, sondern vielmehr eine Art Einladung – ein Test.
„Du trägst nicht nur Zellen in dir. Du trägst eine Entscheidung.“
Dazu Koordinaten. Kein Name. Keine Adresse.
Ich hatte sie ignorieren wollen. Doch da war etwas in der Formulierung gewesen. Eine Kälte, die keinen Zweifel zuließ: Wer so etwas schreibt, weiß Dinge, die andere nicht mal aussprechen.
Er war bekannt dafür, sich mit Themen zu befassen, die man nicht mehr als medizinisch bezeichnen konnte. So wie manche eine Vorliebe für Verstümmelungen in Pornographie entwickeln.
Er interessierte sich nicht für Patienten, sondern für Prozesse.
Nicht für Heilung, sondern für Übergänge.
Und ich war einer.
Es hieß, er habe früher Vorlesungen gehalten – still, präzise, ohne Mimik. Sein Vokuhila, wie ein Relikt aus einer Zeit, in der die Menschen sich noch sicher waren, dass Form nichts mit Inhalt zu tun habe. Bei Edelbauer war das Gegenteil der Fall: alles war Form. Nichts war ohne Absicht. Nicht einmal sein Haar.
Er hatte keine Studien mehr veröffentlicht. Keine Papiere, keine Spuren im Internet. Nur Gerüchte.
Dass er Dinge wachsen ließ, die nicht wachsen sollten.
Dass er glaubte, in gewissen Zellstrukturen liege mehr als nur Mutation – eine Art Wille.
Eine Absicht.
Ich war nie zu ihm gegangen.
Ich war seinem Köder gefolgt.
Und nun saß ich in dem Kokon, den er gebaut hatte.
Nur Wände. Und das, was in mir wuchs.
In den Rohren knackte es.
In mir – ebenfalls.
Etwas regte sich.
Die Spannung unter meiner Haut wurde stärker. Kein Schmerz, nicht direkt. Eher das Gefühl, dass sich ein eigener Organismus unter der Oberfläche bewegte.
Ich hielt mir den Bauch. Die Stelle war hart, zu warm, unnatürlich.
Ein Druck stieg auf – aus dem Innersten.
Dann: Bewegung. Bewusst. Zielgerichtet.
Ich fiel auf die Knie. Das Knacken in den Wänden verstummte. Als würde das Gebäude selbst den Atem anhalten.
„Du bist nur die Verpackung.“
Ich weiß nicht, woher die Worte kamen. Aber sie waren da.
Nicht laut. Nicht leise.
In mir.
Ich kroch in einen Raum, dessen Tür halb aus den Scharnieren hing. Rollschränke, verstaubte Tische, ein rostiges Waschbecken. In der Ecke stand ein zerkratzter Spiegel.
Ich zwang mich hineinzusehen.
Mein Gesicht.
Doch… nicht mein Gesicht.
Die Proportionen stimmten, doch irgendetwas war verschoben.
Zu glatte Haut. Zu symmetrisch.
Als hätte jemand versucht, mich aus Erinnerung zu rekonstruieren – aber das Leben vergessen.
Ich trat einen Schritt zurück. Spürte wieder diesen Druck im Unterleib.
Diesmal begleitet von einem satten, langsamen Ziehen, als würde etwas in meinem Bauch eine Richtung wählen.
Nicht zufällig.
Nicht blind.
Mein Herz raste.
es schlug so laut in meiner Brust, dass ich jeden einzelnen Schlag spüren konnte – hämmernd, pochend, unaufhaltsam.
Die Luft war zu dünn.
Ich machte keine richtigen Atemzüge mehr, nur panische, kurze Stöße.
Etwas in mir bewegte sich. Nein, nicht etwas – es.
Ein lebendes, zappelndes Ding, das unter meiner Haut herumrutschte, kaltes Grauen, das mich zerriss.
Ich klammerte mich an die kalte Wand, doch mein Griff wackelte, meine Hände zitterten.
Schweiß rinn mir über die Stirn und vermischte sich mit dem Salz der Angst aus meinen Augen.
Die Schatten um mich herum flackerten, wurden lang und grotesk. Die Dunkelheit saugte alles auf, verschluckte den Verstand.
Das Ding in mir zog, zerrte, bewegte sich. Es wollte raus, es wollte sich ausbreiten – ich spürte es, wie es sich unter meiner Haut windete, wie eine lebendige Bestie, die keinen Frieden kannte.
Meine Gedanken rasten, stolperten über sich selbst. Ein Sturm aus Angst, Panik, Verzweiflung.
„Bitte… nicht… nicht jetzt…“
Ein Keuchen, ein Krampf in meiner Brust. Ich wollte fliehen, wollte schreien – doch mein Körper war gefangen in einem Käfig aus Schmerz und Terror.
Mein Magen zog sich zusammen, ein kalter, krampfartiger Knoten, der sich ausbreitete, bis in jede Faser meines Körpers.
Ich sah verschwommen – die Wände, die Decke, alles verschwamm zu einem Alptraum aus Schatten und Furcht.
Das Ding bewegte sich mit einem widerlichen, unfassbaren Kriechen, das mich zerstörte.
Ich verlor den Halt, stolperte, konnte mich kaum noch auf den Beinen halten. Jeder Atemzug wurde zum Kampf. Das Gewicht auf meiner Brust drückte mich zu Boden. Die Panik riss mich in den Abgrund.
Ich wusste, dass ich gleich zerbrechen würde.
Dieses Ding in mir – es war nicht nur da, es lebte, atmete, und es hörte nicht auf.
Ich wollte weg, doch wohin? Die Dunkelheit hatte mich schon verschlungen. Und das Monster in mir wuchs.
Ich versuchte zu schreien – aber es kam kein Laut. Mittlerweile fühlte es sich so an, als hätte sich mein Gehirn vom Rest getrennt.
Ein Bild raste durch mich. Kein klarer Gedanke – nur eine Abfolge aus verzerrten Eindrücken.
Ein Kaleidoskop des Grauens, flimmernd wie ein Alptraum durch milchiges Glas.
Ich sah mich selbst.
Mehrfach.
Zerlegt. Zusammengesetzt.
Ein Turm aus Varianten meiner selbst – manche kindlich, manche verdreht, manche zu perfekt.
Und ganz oben: ein Gesicht, das zu lange lächelte.
Endlich kam der Moment.
Ich spürte, wie sich mein Bauch nach außen wölbte.
Zuerst nur leicht. Dann mit Nachdruck.
Wie ein Puls, der zu groß geworden war.
Ich hielt den Atem an. Meine Hände zitterten.
Unter der Haut formte sich eine Erhebung.
Als würde etwas aus mir herauswollen.
Ein Ruck durchfuhr mich. Ich sackte zusammen. Mein Blick verschwamm.
Dann: Stille.
Ein dumpfer Moment der Leere.
Und danach… Geräusche.
Zuerst ein Kratzen. Wie Fingernägel, die an Stahl rieben.
Dann ein leises Schmatzen, feucht.
Und schließlich: Ein Atemzug.
Fremd.
Nahe.
Ich öffnete die Augen.
Etwas stand vor mir.
Nicht groß.
Nicht eindeutig menschlich.
Aber vertraut.
Zu vertraut.
Die Haut war blass und gespannt wie Papier. Die Arme dünn, die Bewegungen eigenartig fließend. Der Blick… durchdringend.
Die Augen – meine.
Es betrachtete mich. Legte den Kopf schräg.
Und dann: Ein Lächeln.
Milimetergenau.
Perfekt.
Künstlich.
„Ich bin nicht du,“ sagte es.
„Ich bin, was du nicht werden durftest.“
Ich konnte mich nicht rühren.
Nur atmen.
Zusehen.
Das Wesen ging langsam durch den Raum, betrachtete die Umgebung mit einer Art Erinnern.
Es wirkte nicht neugierig – sondern heimisch.
Als hätte es schon einmal hier gelebt.
Oder… immer.
„Ich bin dein Wandel,“ sagte es.
„Dein Schatten. Dein anderes Selbst. Deine Anderswelt.“
Es stand nun aufrecht. Ganz.
Ein fertiger Körper.
Unheimlich vertraut.
Unendlich falsch.
Es verließ den Raum.
Und ich – blieb zurück.
Leer.
Wie ein Ort nach einem Sturm.
Oder wie ein Kokon nach einer Metamorphose.
Eine Manege, in der das einzige Kunststück ich selbst war.
Ich weiß nicht, ob ich noch existiere.
Vielleicht bin ich nur ein Echo in den Wänden.
Vielleicht geht es jetzt hinaus – mit meinem Gesicht, meiner Stimme, meinem Namen.
Und niemand merkt es.
Denn es ist besser in allem.
Besser als ich.
Weil es mich losgeworden ist.
Armageddon
20/20 Assos
Just leave me out on a limb
Pale as the day, bored as the rain
How high the answers
Laid us to waste
You are what you take
„Kapow!“
„Du weißt, dass du das nicht jedes Mal sagen musst, wenn du einen von den Wichsern abschießt, oder?“
Orion nickte nur, den Blick weiterhin fest auf die Scheibe vor ihr und alles, was dahinter lag, geheftet. „Macht aber Spaß!“, kommentierte sie, woraufhin ihr Co-Pilot nur den Kopf schütteln konnte. „Verleiht der ganzen Sache erst die Würze, weißt du?“
Wusste er nicht. Natürlich nicht, er war zu jung. Gewürze kannte er höchstens aus Alte-Welt-Büchern – und die hatte er offenbar nicht gelesen, warum auch?
Orion schickte einen weiteren Plasmastrahl in die unendlichen Weiten des Weltraums, von dem sie nur diese eine Glasscheibe zu trennen schien. Ihr Ziel löste sich vor ihren Augen auf in … Nichts. Nicht einmal Sternenstaub, einfach nur Nichts.
„Einen noch, dann sollten wir runtergehen“, bemerkte ihr Co-Pilot mit kritischem Blick auf das Navigationssystem. „Wir wollen nicht unbedingt hier oben an vorderster Front sein, wenn … du weißt schon.“ Er seufzte. „Hab mir wohl doch den falschen Job ausgesucht.“
„Quatsch!“, protestierte Orion aufrichtig und meinte es mit jeder Faser ihres Herzens. „Wir sind die letzte Bastion im wichtigsten Kampf, der je gekämpft wurde. Wir sind die, die den Kriegern den Rücken freihalten. Wir sind - “
„Ein Treck der Toten, nur ohne Ziel und Zukunft …“, murmelte der Junge und starrte verbittert auf seine Hände, die er in den Schoß gelegt hatte. „Wir sind keine strahlenden Helden, Orion. Nur, weil wir mit Plasmakanonen um uns schießen, sind wir noch lange keine Jedi, lass es einfach gut sein. Die benutzen dich doch nur. Die benutzen uns doch alle nur. Wir sind keine Weltraumpiraten, wir sind einfach nur Kanonenfutter, Bauernopfer, damit die da unten sich die Finger nicht dreckig machen müssen. Das Trope, dass die Guten am Ende immer irgendwie gewinnen, gibt es in Wirklichkeit halt einfach nicht.“
„Huh?“ Orion fuhr zu ihm herum und blickte ihn verwundert an. War er am Ende doch versiert in der Populärkultur der Alten Welt oder woher kam plötzlich dieser Überfluss an obskuren Referenzen?
„Vorsicht!“ Er warf sich halb über sie und riss das Steuer herum, gerade noch rechtzeitig vor der Kollision. „Pass doch auf, meine Fresse.“
„‘tschuldigung …“ Abwesend feuerte Orion ein letztes Mal die Kanone ab und starrte nachdenklich auf die Scheibe, hinter der jetzt wieder nur Schwärze und Nebel lagen.
In diesem Moment leuchtete der NavCom an ihrem Handgelenk auf. Ein Blick darauf und sie stöhnte frustriert auf, bevor sie den Anruf ihrer Eltern wegwischte. Wenn sie eins kurz vor dem Ende nicht brauchte, dann waren es dieselben alten Vorwürfe, die sie schon seit Jahren verfolgten und vor denen sie überhaupt erst ins Weltall geflohen war, wenn sie so darüber nachdachte. Nein, ihre Entscheidung war die richtige gewesen, und daran konnte kein Nörgeln ihrer Eltern etwas ändern, kein noch so furchteinflößender Feind, auch nicht der hundertste Vergleich mit ihrem Cousin, der angesehener Offizier auf einem der größten Schiffe war und einen Platz im Senat quasi sicher gehabt hätte, wenn nicht … na ja. Nicht einmal der schlimmste Streit mit ihrem Bruder hatte sie von der Überzeugung abbringen können, dass sie mit Leib und Seele das Richtige tat.
Es verbleiben zwölf (12) Stunden, meldete der Bordcomputer. Orion nagte an ihrer Lippe, den Blick weiter stur gerade aus gerichtet. Vielleicht war es Zeit, sich mit ihrem Bruder auszusprechen.
Mit dem Elan eines nassen Waschlappens wischte Sirius den kreischenden Wecker schnurstracks vom Nachttisch; das kleine Gerät fiel zu Boden und verstummte endlich. Grummelnd richtete er sich auf und starrte auf das Display an der Decke.
Es verbleiben zwölf (12) Stunden.
Hoffentlich kommt heute wenigstens der Nudelstand, dachte Sirius, während er sich die Augen rieb und sich langsam aufrichtete. Wenn er heute noch einmal die geschmacklose Pampe aus der Kantine essen müsste, ausgerechnet heute, er würde, er würde … ja, was würde er tun? Vermutlich einfach resignieren, die Pampe in sich reinschaufeln und sich nicht einmal in Gedanken ausmalen können, wie er eigentlich auf diesen Affront hätte reagieren sollen.
Ich hab keine Energie mehr für den Scheiß, dachte er und ignorierte die kleine Stimme in seinem Kopf, die ihm fies ins Ohr flüsterte, dass er noch nie Energie für irgendetwas gehabt hatte und einfach nur ein faules Stück Scheiße war, genau wie seine Eltern immer gesagt hatten. Ugh, seine Eltern … speaking of which, von denen hatte er nicht einen, nicht zwei, sondern gleich drei Holoanrufe in Abwesenheit. Beim letzten Anruf hatten sie sogar gnädigerweise eine Nachricht hinterlassen: „Sohn, ruf zurück.“ Als ob.
Er stand auf, streckte sich und gab auf dem Weg zum Fenster den Befehl, die Verdunklungsscheiben hochzufahren. Immerhin, dachte er. Vor seinem Fenster parkte, zuverlässig wie sonst nichts in seinem Leben, der Nudelstand.
„Einmal wie immer?“, fragte der Nudelmann, als Sirius das Fenster geöffnet hatte. Der nickte nur, korrigierte sich dann aber: „Mach heute doppelte Portion. Ist jetzt eh alles egal.“
„Deine Eltern wieder?“, fragte der Nudelmann mit mitleidigem Blick.
„Ist egal jetzt“, wiederholte Sirius und gähnte ausgiebig. Konnte der Nudelmann von hier aus seinen Anrufbeantworter sehen? Wahrscheinlich nicht. Sirius löschte trotzdem die Nachricht seiner Eltern. War sowieso egal jetzt.
Er nahm seine Nudelbox entgegen und dankte dem Nudelmann. Ein leises Ka-ching bestätigte die erfolgreiche Transaktion. Als er das Fenster wieder schließen wollte, streckte der Nudelmann schnell seine Hand durch und hielt ihm einen grünen Klops hin. „Ein Mochi aufs Haus für dich. Die waren wohl der heiße Scheiß in der Alten Welt.“, fügte er hinzu, als er Sirius’ fragenden Blick sah.„Probier einfach mal. Und Kopf hoch. Kommen auch wieder bessere Zeiten. Äh, also … ja, oder vielleicht auch nicht. Aber -“
„Ist egal jetzt. Danke.“ Er schloss das Fenster und sah zu, wie der rot lackierte, mit alten Schriftzeichen aus einer Zeit, als die Kontinente noch getrennt waren, verzierte Nudelstand davonflog. Dann schlang er seine Nudeln runter und merkte zu spät, dass er sich eigentlich vorgenommen hatte, diese letzte Mahlzeit zu genießen, achtsam zu essen. Zu spät. Er packte das Mochi aus und biss hinein. Schmeckte scheiße. Auch egal.
Es klingelte. Nicht an der Tür, stellte Sirius schnell fest, sondern am Holofon. Wer auch immer auf die bescheuerte Idee gekommen war, dass alles den gleichen Klingelton haben sollte. Wenn das schon wieder seine Eltern waren, er würde, er würde … vermutlich einfach drangehen und ihre Tiraden über sich ergehen lassen?
„Was?“, brummte er in Richtung des Geräts und würgte den klebrigen Reisklops herunter.
„Heeey.“
„Orion?“, fragte er und zeigte zum ersten Mal an diesem Tag eine Gefühlsregung – Ungläubigkeit, gemischt mit Genervtheit, einem kleinen Schimmer Hoffnung irgendwo ganz tief in ihm vergraben, Erleichterung, dass es immerhin nicht seine Eltern waren, und einer Prise ... irgendetwas Unidentifizierbares.
„Ich hab grad Feierabend gemacht. Also, Feiermorgen eher. Ist ja eigentlich auch egal.“ Seine Schwester hielt sich wie üblich nicht mit langen Begrüßungen und Smalltalk auf. Zu ihrer Verteidigung, seine Antwort auf „Wie geht’s?“ war vermutlich seit zwanzig Jahren irgendetwas in Richtung „Scheiße“ oder „Egal“, mit viel Variation war von seiner Seite aus also nicht zu rechnen.
„Jedenfalls“, fuhr Orion fort, „angesichts der, äh, Umstände dachte ich … also, dachte ich, dass wir uns aus-“ Sie stöhnte genervt auf. „Egal. Lass uns heute Abend einen trinken gehen.“
„Heute Abend?“, wiederholte Sirius mit einem Stirnrunzeln und einem Blick auf die Uhr.
„Ja, bevor … vor der Sache halt. Also?“
„Ich komm ganz bestimmt nicht da hoch“, sagte er. „Das hat uns die ganze Scheiße hier doch überhaupt erst eingebrockt. Wir hätten einfach nie - “
„Ich weiß, ich weiß“, unterbrach ihn Orion in einem Tonfall, der vermutlich beschwichtigend klingen sollte, ihn aber irgendwie nur noch mehr irritierte. „Du musst nicht hochkommen.“
„Als ob du runterkommen würdest.“
„Korrekt“, bemerkte Orion feierlich. „Wir treffen uns in der George-Lucas-Bar! Hey, ist doch ein guter Kompromiss!“
Das Wörterbuch definiert „Kompromiss“ als eine Übereinkunft durch gegenseitige Zugeständnisse. Ein Aufeinanderzugehen also. In diesem Sinne war Orions Vorschlag wohl tatsächlich ein Kompromiss. Die George-Lucas-Bar war die einzige Gaststätte der Neuen Welt, die weder auf der Erde noch im Weltall lag, sondern auf halber Strecke des Weltraumlifts, der Terra Omega mit der TSS verband. Auch in jeder anderen Hinsicht war die Kneipe ein einziger Kompromiss: Es gab zwar die gleiche geschmacklose Pampe wie überall sonst auch, aber dafür gute und günstige Getränke en masse („Trinkt euch STERNhagelvoll“, lautete der catchy Slogan); zwar wurde immer nur ein und dasselbe Lied gespielt, aber dafür von einer Liveband und der Song war irgendwie einfach ein Banger; das Innendesign war von einem Alte-Welt-Franchise inspiriert, aber immerhin von einem für damalige Verhältnisse futuristischen; es gab ein Gravitations- und ein Schwerelosigkeits-Zimmer. Mit anderen Worten: Die Kneipe war nichts Halbes und nichts Ganzes und hielt sich wahrscheinlich nur im Geschäft, weil sie keine Konkurrenz hatte, weil sie allein und unberührt vom Weltgeschehen auf halber Strecke mitten im Nichts schwebte, die letzte Zuflucht der Arschgesichter, die nicht wirklich wussten, was sie wollten. Also eigentlich der perfekte Ort für ihn. War jetzt eh alles egal. Er konnte jetzt auf Biegen und Brechen versuchen, sich eine Ausrede einfallen zu lassen. Oder er konnte es einfach hinter sich bringen und hingehen. Egal.
„Ok. Wann?“
Orion wippte mit den Füßen, irgendwie nervös, ganz entgegen ihrer sonst so souverän-optimistischen Art.
Es verbleibt eine (1) Stunde, verkündete ihr NavCom leise piepsend.
„Mach das bitte aus, diese Art von Negativität brauchen wir hier nicht“, wies ein Utility Bot sie im Vorbeigleiten hin.
„‘tschuldigung“, sagte sie hastig, wischte die Nachricht weg und schaltete das Gerät sicherheitshalber auf DnD.
Sie saß im Gravitationszimmer, ihrem Bruder zuliebe, obwohl sie nicht sicher war, ob er wirklich kommen würde, vor sich das zweite Bier, das auch schon fast leer war.
Ihre Eltern hatten zwischendurch noch einmal angerufen und sie hatte den Anruf aus Versehen entgegengenommen – die Gedankensteuerung ihres NavComs war wirklich nicht die präziseste, es wäre eigentlich mal Zeit für ein neues Modell, dachte sie, bevor ihr einfiel, dass das jetzt auch egal war.
Das Gespräch mit ihren Eltern hatte aus den üblichen Gesprächsbausteinen bestanden. „Hättest du mal“, „wärest du mal“, „hättest du mal nicht“ und „dein Cousin wiederum“, blah blah blah.
„Ich bin genau so ein Mitglied der Terranischen Flotte wie Steve“, hatte Orion wütend entgegnet. „Kürzlich sogar befördert worden!“ Der letzte Teil war zwar gelogen, aber darauf kam es jetzt auch nicht mehr an. Sollten ihre Eltern ruhig denken, dass -
„Die Intergalaktische Müllabfuhr ist ja nicht wirklich Teil der Terranischen Flotte“, hatte ihr Vater gesagt und ihre Mutter hatte zustimmend genickt.
Orion hatte schon angesetzt zu ihrem wohl einstudierten Monolog darüber, dass Weltraumschrott einer der größten Feinde in den Weiten des Alls war und ob sie, also ihre Eltern in dem Fall, überhaupt wüssten, wie viel davon um sie alle herumschwebte, nur darauf wartend, vorbeifahrende Schiffe oder Satelliten zu rammen oder sogar auf der Erde einzuschlagen (8.700 Tonnen! Das war das Gewicht von 45 Blauwalen!), aber sie hielt sich selbst davon ab. Sie war müde. Sie konnte nicht mehr. Sie wollte nicht mehr. Ihre Eltern hatten sie jahrzehntelang nicht verstanden, sie würden ganz sicher nicht in den letzten neunzig Minuten damit anfangen. Zum ersten Mal verstand sie ihren Bruder, der schon in Teenagerjahren den Kontakt mit den Eltern auf ein Minimum reduziert und sich komplett zurückgezogen hatte. In diesem Moment, hier in dieser zweitklassigen Bar irgendwo im Nirgendwo, seit zwanzig Minuten ein und dasselbe Lied in den Ohren und schon leicht angetrunken vom Sternenbier, fühlte sie sich Sirius so nah wie nie zuvor.
„Muss auflegen, hier darf man eigentlich nicht telefonieren“, log sie kurzerhand und wischte ihre Eltern zum letzten Mal in ihrem Leben weg. So einfach war das.
„Hey.“ Die schlaksige Gestalt ihres Bruder schob sich in ihr Sichtfeld und ihre Augen füllten sich unweigerlich mit ein paar Tränen, die sie hastig wegblinzelte. Er hatte sich gar nicht verändert.
„Hey.“ Awkward. Sie wusste nicht wirklich, was sie nach all der Zeit machen sollte. Aufstehen? Ihn umarmen? Ihn einfach bitten, sich zu setzen? Oder – ein Schauer der Fremdscham lief ihr über den Rücken – ihm die Hand schütteln? Sie stand auf.
„Ach, Scheiß drauf“, brummte er und zog sie in eine Umarmung. Dann saßen sie sich eine Weile schweigend gegenüber, bevor sie beim nächsten vorbeigleitenden Utility Bot Orions drittes, Sirius’ erstes Bier bestellten und das Hologramm mit der Schnapskarte aufriefen. Die Shots hier hatten alberne Namen wie Chewbacca, Hans olo (vermutlich ein Typo?), Imperialismus, Choke oder Relativitätstheorie. Man konnte unmöglich erahnen, was sich dahinter verbarg. Orion tippte wahllos auf einige davon und kurz darauf stellte der Utility Bot eine bunte Auwahl kleiner Gläser auf ihrem Tisch ab. Der Schnaps und das Bier lösten ihre Zungen und vertrieben die angespannte Stimmung zwischen ihnen; das gemeinsame Schwelgen in schlechten Erinnerungen und der über Jahrzehnte angestaute Frust über ihre Eltern taten das Übrige. Der Chewbacca-Shot schmeckte irgendwie muffig, Todesstern einfach nur nach Alkohol. Hexenverbrennung schmeckte genauso wie Lichtschwert, vielleicht war Orion aber auch einfach nur schon zu betrunken, um noch irgendwelche Nuancen schmecken zu können.
„Vielleicht hattest du Recht“, seufzte sie irgendwann. „Der Mensch hätte sich nie ins Weltall aufmachen sollen. Es gab genug Warnungen. Dunkler Wald, blah blah. Wir hätten einfach mit dem zufrieden sein sollen, was wir hatten. Vielleicht war die Alte Welt gar nicht so übel. Zumindest hätte uns die mintakische Flotte dann nicht entdeckt und dann hätten die auch nicht auf die Idee kommen können, uns auslöschen zu wollen.“
Zu ihrem Erstaunen winkte Sirius ab. Sie starrte ihn ungläubig an. Da kam sie einmal aus ihrer Comfort Zone raus, um einen Schritt auf ihn zuzugehen, da beschloss er offenbar, dasselbe zu tun. Der hatte vielleicht Nerven!
„Du hast gemacht, was du für richtig gehalten hast. Und irgendwie war’s das ja auch. Ich mein, 8.700 Tonnen Weltraumschrott – irgendwer musste doch was dagegen tun“, meinte er schulterzuckend. Sie schaute ihn gerührt an, während er fortfuhr: „Und letztendlich … was hätten wir als Normalos schon machen können. Die da unten haben halt gepokert und ihr Strategiespiel ging letztendlich nicht auf. Dass sie mit ihren Expansionsplänen die Aggressionen Außerirdischer auf sich ziehen würden, die sich daraufhin aufmachen, um die Erde zu zerstören, damit hätte ja - “ Er stutzte. „Na ja, ehrlich gesagt, damit hätte jeder Vollidiot rechnen können. Aber …“ Er exte den letzten Shot, Jabba Jelly. Schmeckte absolut scheiße. Aber das war jetzt „… auch egal.“
Es verbleiben sechzig (60) Sekunden, verkündete seine Armbanduhr.
„Mach das bitte aus, diese Art von Negativität brauchen wir hier nicht“, bat der Utility Bot, der die leeren Shotgläser abräumte.
„‘tschuldigung“, murmelte er und wischte die Warnung weg.
„Sirius …“, begann Orion.
Er winkte ab. Es gab noch so viel Ungesagtes zwischen ihnen, aber dafür war jetzt keine Zeit mehr. Vielleicht in einem anderen Leben. Glaubte er zwar nicht dran, aber egal.
„Alles vergeben und vergessen. Ok?“
„Ok“, flüsterte sie.
Noch zwanzig Sekunden; sie hatte mitgezählt. Um sie herum ging das Leben einfach weiter, als ob nichts sei. Die Band spielte immer noch dasselbe Lied und die Leute tranken immer noch dasselbe Bier.
Noch zehn Sekunden. Sie schloss die Augen. Wie sich sterben wohl anfühlte? Hoffentlich ging es wenigstens schnell.
Noch fünf Sekunden. Vier. Drei. Zwei. Eine -
Kein Twist. Kein Knall.
Es war vorbei. Einfach so.
Erna und die Mafia
20/20 Assos
Leider ist es Erna am Ende nicht gelungen, nicht in Kontakt mit der organisierten Kriminalität zu geraten. Sie hatte bereits eine Menge Schwierigkeiten mit übernatürlichen Wesen gehabt, die sowohl ihr, als auch ihrer Tochter Edda an den Kragen wollten. Aber ironischerweise wusste Erna damit umzugehen, diese Wesen, auch wenn mächtig, entsprangen ihrer Heimat. Gewalttätige Menschen hingegen waren etwas, das ihr immer noch schwer fiel zu verstehen.
Bis eines Morgens die Mafia vor ihrer Tür stand. Beziehungsweise selbige mit einer Axt einschlug.
Erna war gerade dabei, Alexanders und ihre Wohnung zu putzen, den Staubsauger in der einen Hand, Alexanders Wanderschuhe in der anderen. Das Beste an Putzen der Wohnung war, dass Edda vom Rauschen des Staubsaugers so beruhigt wurde, dass sie tief und fest schlief. Sie war eben doch ein pflegeleichter Säugling und Erna genoss jede Minute mit ihr, wohl wissen, dass die Zeit begrenzt war. Als Teenager würde Edda bestimmt nicht mehr schlafen, wenn ein Staubsauger lief.
In diesem Moment jedoch zersplitterte die Wohnungstür in Tausend Teile und der Schaft eine Axt ragte durch das Holz.
Erna erschrak und ihr fielen beide Gegenstände aus der Hand. Die Axt bewegte sich noch einige Male mehr und sie war bereits darauf vorbereitet, erneut übernatürlichen Besuch zu erhalten. Dann jedoch standen zwei dunkel gekleidete Herren mit Schlapphüten in der Wohnung. Sie fragte sich, ob dies eine weitere kulturelle Eigenart der Menschen war, so in Wohnungen zu kommen, wenn die Klingel überhört wurde.
Erna bückte sich, um den Staubsauger auszuschalten.
„Wo ist das Moos?!“ begrüßte sie eine der Gestalten sobald eine angemessene Lautstärke herrschte.
„Wie bitte?“ sagte Erna freundlich. Wieso sollte hier in der Wohnung eine grüne Pflanze wuchern? Sie waren doch schließlich nicht im Urwald.
„Die Kohle? Die Knete?“ sagte der andere Herr etwas ungehalten. „Der Boss fordert Reparation!“
Nun war Erna vollends verwirrt. Was bitteschön hatten Moss, Kohle und Knete gemeinsam? Eins war eine Pflanze, eins war schwarz und hart und eins war ein Spielzeug für Kinder. Darüber überhörte sie den zweiten Satz.
„Kommen Sie doch herein? Vielleicht kann ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?“ sagte sie freundlich. Ihrer Erfahrung nach waren Menschen sofort viel zugänglicher, wenn man sie bewirtete und diese Herren schienen keine Ausnahme zu sein. Über die kaputte Tür konnte Erna sich später Gedanken machen.
„Wehe, du speist uns mit Fünf-Euro-Wodka ab,“ sagte der eine Herr. Er war klein und dick.
„Ja, davon haben wir genug. Billiges Zeug!“ sagte der andere Herr. Er war groß und schlank.
Erna drehte sich um. „Ich könnte Ihnen Wasser anbieten?“ sagte sie.
Die Männer fingen an, laut zu lachen. So laut, dass die Wohnung bebte. Und für einen kurzen Moment hatte Erna Angst, dass Edda aufwachen könnte. Das Kind war allerdings mit einem gesegneten Schlaf ausgestattet. Erna wollte nicht, dass Edda und diese Männer aufeinander trafen und war darüber sehr dankbar.
„Wir sind doch nicht in der Wüste, Süße!“ sagte der kleine dicke Mann. „Nein, wir wollen schon etwas Ordentliches!“ Dann zündete er sich eine Zigarette an.
Das war Erna höchst unangenehm. „Könnten Sie bitte…“ setzte sie an, aber der große, schlanke Mann schlug seinem Kumpanen auf den Hinterkopf. „Herrgott nochmal, denk doch an dein Raucherbein! Muss das sein?“
„Das heißt heutzutage Thrombose, du Idiot!“ zischte der Dicke. „Wenn ich schon nichts Anständiges zu trinken bekomme, brauche ich wenigstens mein Nikotin!“
„Ich könnte Ihnen Met anbieten?“ versuchte es Erna erneut. Sie hatte immer einen Humpen Met im Kühlschrank, sowie eine Schüssel voller Snickers, falls Odin einmal wieder nach seiner Enkelin sehen wollte.
Die Männer sahen sich an und lachte erneut. „Na also, geht doch!“ sagte der Große. Dann folgten sie Erna ins Wohnzimmer und setzten sich auf die Couch.
Der Dicke griff sofort in die Süßigkeitenschale. Zumindest schien er mit dem Angebot zufrieden.
Erna verschwand kurz ins Kinderzimmer, wo Edda weiterhin sanft ruhte. „Mamas Liebling,“ flüsterte sie dem Baby zu, eilte dann in die Küche und brachte den Männern den Met.
Dann setzte sie sich zu Ihnen. „Was genau verdanke ich denn nun die Ehre Ihres Besuchs?“
Die Herren sahen sich verwundert an. „Der Boss möchte wissen, was du mit dem Merch gemacht hast!“ sagte der Dicke.
Erna blinzelte. Diese Herren schienen eine andere Sprache zu sprechen. Sie räusperte sich.
„Und nun will er die Kohle zurück,“ sagte der Große.
„Ja, das sagten Sie bereits.“ Erna legte die Hände in den Schoß.
„Und wenn du nicht rausrückst, schenken wir dir ein Stück Beton und versenken dich in der nächsten Flussmündung,“ sagte der Dicke und grinste kauend.
Erna legte den Kopf schräg. „Das ist nun wirklich nicht nötig,“ sagte sie. „Ich habe bereits genug zu tun.“ Die Aktivität klang anstrengend und sie verstand ihren Sinn nicht.
„Probleme?“ zischte es neben Erna und sie versteifte sich. Immer wenn sie diese Stimme hörte waren Schwierigkeiten nicht weit. Aus dem Augenwinkel sah sie einen Feuersalamander in der Topfpflanze. Er ringelte sich im Sonnenlicht.
„Was schaust du mich so an?“ zischte der Salamander. „Ich hatte kurz überlegt ein Axolotl zu sein, aber das war nicht einschüchternd genug.“
„Bitte geh einfach!“ flehte Erna.
„Diese Kerle sind von der Mafia, das weißt du?“ zischte der Salamander. Zum Glück fand diese Konversation außerhalb des Raum-Zeit-Gefüges statt, sonst hätten sich die Herren sicher gewundert, dass Erna mit einem Schwanzlurch sprach.
„Was ist das?“ fragte Erna.
„Eine kriminelle Vereinigung, die gerne Menschen versenkt. Und zwar nicht in Bächlein, sondern im Meer,“ erklärte der Salamander, der eigentlich Loki war.
„Warum?“ fragte Erna. Das ergab keinen Sinn.
„Keine Ahnung. Narzissmus?“ Hätte Loki Schultern gehabt, hätte er sicher damit gezuckt.
„Und jetzt?“ fragte Erna. „Ich wollte eigentlich die Wohnung putzen. Ich weiß nicht einmal, warum sie hier sind. Und alles was sie sagen, ergibt keinen Sinn.“
Die Zeit nahm wieder normalen Verlauf an. Und der Feuersalamander krabbelte auf den Tisch, unsichtbar für Ernas Besucher.
„Puppe, hör auf dich dumm zu stellen, wir wissen, dass du das Geld hast!“ sagte der Dicke.
„Ich habe ein bisschen Geld, ja,“ sagte Erna. „Aber das habe ich verdient.“
„Eher unterschlagen!“ sagte der Große.
„Wollen Sie es haben?“ fragte Erna. Anscheinend kamen diese Menschen in Wohnungen weil sie bedürftig waren und Geld brauchen.
„Ja, verdammt noch Mal!“ schrie der Dicke.
Erna stand auf und ging ins Schlafzimmer. Dort nahm sie ihre penisförmige Spardose – ein Geschenk von Odin, dem jegliches Gefühl für menschlichen Geschmack abging. ‚Schlingelpimmel‘ stand darauf. Mit diesem Stück kehrte sie ins Wohnzimmer zurück und stellte sie auf den Tisch, die Münzen darin klirrten.
Die Männer sahen sich irritiert an.
„Was soll das?“ fragte der Dicke.
„Sie wollten doch Geld,“ erwiderte Erna. „Das ist alles, was ich habe.“
„Das sind doch höchstens ein paar Kröten,“ maulte der Große.
„Nein,“ korrigierte Erna, „das sind Münzen.“
„Werd‘ nicht frech!“
„Brauchst du doch Hilfe?“ zischte der Feuersalamander und seine Zunge kam der Hand des Dicken gefährlich nahe.
„Wer sind Sie überhaupt?“ fragte Erna.
„Du solltest uns wirklich kennen, Baby. Wir sind Mario und Luigi, Don Calzones Geldeintreiber,“ sagte der Dicke.
„Ich sehe Sie heute zum ersten Mal,“ sagte Erna.
Die Herren sahen sich an und dann Erna.
„Zugegeben, du hast dich schon verändert. Das letzte Mal hattest du noch lange blonde Haare,“ sagte der Lange.
„Und warst fülliger,“ sagte der Dicke.
„Sind Sie überhaupt an der richtigen Adresse?“ fragte Erna.
„Eichenweg 15,“ sagte der Dicke mit Überzeugung.
„Das hier ist der Eibenweg 15,“ sagte Erna.
Die beiden Herren sahen sich an.
„Oh.“
Aftermath (abridged)
17/20 Assos
In der Wüstenstadt am nordöstlichen Rande des Kontinents
Seine Lippen wurden langsam feucht und kühl. Er nahm den ersten Schluck. In seinem Mund machte sich die Süße des Honigs breit, ehe die Bitterkeit des Alkohols im Rachen hing. Man hörte ein sanftes, aber überzeugend klingendes Mhm!
Er stellte das Glas wieder auf den alten Holztisch, welcher viele Kerben und Dellen von jahrelangen Würfelspielen und Schlägereien hatte. Symbolisch für die vielen Besuche seines Stammtisches nach den harten Reisen auf der unbekannten See.
„Der ist echt gut“, beurteilte er das Getränk, welches nicht einmal halb gefüllt war und mit einem fetten Eiswürfel kühl gehalten wurde.
„Den könntest du glatt als Frühstückswhisky verkaufen“, fügte er hinzu. Sein Gegenüber Mikey, der Barmann seiner Lieblingskneipe, schmunzelte nur leicht, während er die letzten Gläser putzte.
„Gute Idee, Bagel“, äußerte er sich, „aber wie zum Henker soll ich den bitte verkaufen, wenn ab heute keiner mehr da ist?“, fügte er als berechtigte Frage hinzu und zeigte mit seiner Hand, in welcher er das Glas hielt, in den Raum hinein. Bagel seufzte lächelnd und nahm nochmal einen beherzten Schluck vom Whisky.
„Ich glaube, du hast nicht mehr alle Tassen im Schrank“, sprach Mikey seinen Gedanken laut aus.
„Und ich glaube, du nicht mehr alle Gläser“, konterte Bagel. Es herrschte kurz Stille, bevor beide leicht zu lachen begannen.
„Warum putzt du die Dinger eigentlich noch, wenn keiner mehr kommt?“ Mikey stutzte kurz, legte das Glas auf den Tresen und schaute in den Raum hinein. Er kramte unter der langen Tischplatte nach einer großen, durchsichtigen Flasche, nahm das Glas, welches er gerade am Putzen war, und füllte dieses bis zum Rand mit dem Alkohol voll. Danach schlenderte er langsam vom Tresen zu Bagels Tisch. Mit jedem Schritt hörte man das Knirschen von kleinen Glassplittern unter seinen Schuhen. Er ließ sich einfach in den Stuhl gegenüber von Bagel fallen. Ein paar Schluck seines Getränks schwappten über und landeten auf seinem Shirt und dem Boden zu den anderen Flecken des gestrigen Abends. Da saßen sie nun. Zwei starke Männer mit einem etwas kräftigeren Körperbau. In dem wohl bekanntesten Gasthaus der Stadt. Allein.
„Du hast recht“, stimmte Mikey ihm zu, „das Beste ist wohl einfach, hier zu sitzen und ein letztes Mal mit dir zu trinken.“ Mit dieser Ansage stießen sie beide ihre Gläser zusammen und tranken. Dabei schauten sie sich im Raum um. Beide fühlten sich gezwungen, ein Gesprächsthema zu finden, doch fühlten sich etwas unwohl in der Situation. Nach einem Moment der Stille, in welchem man nur die Schreie der morgendlichen Möwen von draußen hörte, schoss Mikey ein Thema in den Kopf. Eine Information, welche er von einem Gast in der Nacht erfahren hatte.
„Hast du gehört, was mit den Metsanern passiert ist?“, fragte er Bagel. Bagels Augen öffneten sich weit. Sein Gesicht zeichnete Entsetzen aus und er nickte.
„Dass sie die alle abgefackelt haben“, äußerte sich Bagel etwas lauter. Mehr musste eigentlich nicht gesagt werden. Beide schüttelten den Kopf, in der Hoffnung, das grausame Kopfkino dabei herauszuschleudern, und nahmen gleichzeitig einen Schluck vom Alkohol, als würde dieser ihre Sorgen einfach davon spülen.
„Ich verstehe es nicht. Wie kann man nur so einen Terror schieben und eine friedliche Spezies einfach auslöschen?“, regte sich Mikey empört auf. Bagel schüttelte den Kopf, um sein Unverständnis über den Genozid der Rasse sanfter auszudrücken. Es herrschte wieder kurze Stille. Mikey wollte die unangenehme Stimmung etwas auflockern und ihm fiel eine Geschichte ein, die Bagel ihm noch nie erzählt hatte.
„Was ist eigentlich damals passiert, als ihr da spontan auf die See fahren musstet?“ Bagel sah ihn verwirrt an. „Du weißt schon. Als die Herrin euch extra in den Palast zitiert hat.“ Bagel war immer noch verwirrt, doch dann zündete eine seiner Synapsen und er verstand, was Mikey von ihm hören wollte.
„Also, ähm, ich“, stammelte Bagel vor sich hin. Er wusste nicht so recht, wie er mit dieser Frage umgehen sollte, denn schließlich sollte er von DIESER Reise nichts erzählen.
„Wie kannst du das nur fragen?“, sagte Bagel empört. Mikey wusste nicht, warum sein Gegenüber plötzlich so unfreundlich wurde.
„Ich darf dir davon doch nichts erzählen“, erklärte er sich. Mikey sah ihn nur verwirrt an.
„Aber“, fing Mikey seine Aussage an, „wir sind doch allein und später ist doch sowieso alles andere egal.“ Erneut Stille. Bagel seufzte einmal laut. Dann führte er aus.
„Wir sollten ein seltenes Artefakt aufs Festland bringen.“ Mikey lehnte sich in seinen Stuhl, trank einen kleinen Schluck und hörte Bagel aufmerksam zu.
„Zuerst dachten wir, es handelt sich um einen einfachen Goldschatz oder so. Stellte sich heraus, das war es nicht. Auf so ‘ner versteckten Insel haben Noel, Xhan, Galidor und ich dann DEN Kristall gefunden.“
„Du meinst etwa…“, wollte Mikey fragen, doch Bagel bestätigte im nächsten Satz seine Vermutung. „War der Kristall der Göttin. Aber wir wussten nichts davon. Hätte sie uns vorher schon gesagt, dass wir das mit Abstand mächtigste Relikt nach Hause bringen werden, wären wir den Deal wohl nie eingegangen.“ Mikey nahm einen Schluck vom Glas.
„Keiner will dafür verantwortlich sein, dass sich die Geschichte wiederholt. Schon gar nicht wir! Aber es kam, wie es kommen musste. Jetzt liegen sie alle begraben unter dem Turm.“ Mikey starrte in das halbvolle Glas. Mit beiden Themen verschlechterte er die schon arge Stimmung. Auch wenn beide noch ein paar Stunden Zeit hätten, innerlich hatte Mikey bereits aufgegeben.
„Aber was soll’s!“, unterbrach Bagel Mikeys Gedanken, „ich werde gleich eine letzte Runde mit der Leviathan drehen und auf die Jungs trinken. Vielleicht beruhigt mich die kühle See und nimmt mich in ihren Schoß.“
Mit einem Satz trank Mikey den restlichen Inhalt des Glases aus und sah Bagel in die Augen.
„Du warst schon immer verliebt in die See“, sprach er seinen Gedanken mit einem leichten Hauch von Melancholie aus. Dann stützte er beide Arme auf den Tisch, erhob sich und ging in Richtung Tresen.
„Was machst du jetzt?“, fragte Bagel verwirrt. Mikey beantwortete seine Frage, während er in den hinteren Teil der Kneipe ging. „Als ihr da letzte Woche auf eurer Suizidmission wart, habe ich nochmal ein prächtiges Exemplar eines Andura-Kugelfisches gefangen.“ Bagel riss die Augen auf und war kurz davor, selbst aufzustehen.
„Sag nicht“, begann Bagel, wurde aber von Mikey schlagartig unterbrochen. „Ich weiß! Ich hab den noch im Kühlraum“, rief Mikey aus der Küche. „Wer weiß, vielleicht bin ich auch gar nicht mehr so gut im Zubereiten und ich erwische den tödlichen Teil.“ Mikeys Stimme wurde zunehmend zynischer. „Ist dann wie beim Würfelspiel, nur mit einer höheren Chance.“ Bagel lehnte sich machtlos nach hinten in den Stuhl. Nach wenigen Sekunden lauter Geräusche aus der Küche kam Mikey mit dem toten Tier zurück und knallte es auf den Tresen. Bagel nahm einen letzten Schluck von seinem Whisky.
„Mit etwas Glück hat das alles dann ein netteres Ende.“
In einem abgelegenen Waldstück im Süden des Kontinents
Ihre Nase nahm den unangenehmen Geruch von Verwesung, gepaart mit dem frischen und süßlichen Duft der Bäume und Pflanzen, wahr. In den letzten Wochen durfte sie nur Schweiß, Öl und abgestandene Büroluft riechen. Für ihre Nase fühlte es sich wie ein Kurzurlaub an, obwohl sie auf Außenmission war. Sie beobachtete die Bewegungen der Bäume im Wind und es schwang eine gewisse Melancholie mit. Die ruhige Atmosphäre wurde aber zugleich von einem ihrer Kollegen gestört, der fieberhaft dabei war, die Leiche einer Metsanerin zu untersuchen, welche auf dem halb verdorrten Rasen einer kleinen Waldlichtung umgekommen war.
„Florence! Würdest du bitte die Probe entnehmen?“, wurde sie gebeten. Sie entriss es aus ihrem Tagtraum und wurde von ihren Kollegen nur wartend angestarrt.
„Ähm“, stotterte sie. Dann sammelte sie ihre Gedanken, griff nach ihrer Tasche und zog die Ausrüstung heraus.
„Aber natürlich! Geht gleich los!“. Die Kollegen räusperten sich und fingen leicht an zu lachen. Sie wusste, dass sie sich über sie lustig machten. Sie ignorierte es. Aus einer kleinen Tasche entnahm sie einen kleinen Computer sowie eine lange Spritze. Dann kniete sie vor die Metsanerin und bereitete alles vor.
„Hier!“, sagte einer der beiden plötzlich, griff heftig den leblosen Arm der Metsanerin und hielt ihn näher an Florence. „Dann kommst du besser an.“ Der andere Kollege riss die Augen auf und schimpfte:
„Du kannst die doch nicht so heftig anpacken!“
„Die ist tot!“, erwiderte der eine Kollege plump, „die spürt nichts mehr.“ Florence signalisierte ihm, dass er den Arm loslassen kann, damit sie die Nadel vorsichtig einführen konnte. Sie traf genau an der Ellenbeuge und zog dann das Blut in den Zylinder rein. Die anderen beiden interessierten sich nicht dafür und plauderten ein wenig.
„Weißt du, diese Metsaner sehen auch alle gleich aus“, führte der eine an, „als hätten die alle miteinander Inzest gehabt.“ Der andere musste schmunzeln. Florence verdrehte nur genervt die Augen, als der erste Tropfen Blut auf dem Scanbereich des Computers landete, um die Zusammensetzung zu analysieren.
„Ich weiß auch nicht, wann die Götter beschlossen haben, so eine verrückte Spezies zu erschaffen“, bemerkte der andere. Florence hatte von den beiden wenig erwartet. Sie waren schon immer sehr rassistisch und wenig weltoffen. Sie konnte sich das Folgende nicht verkneifen.
„Metsa war der erste Sohn des Gottes Sol. Er wollte eine friedliche, naturverbundene Spezies haben, also schnitzte er ein Stück Rinde aus einem seiner Bäume, legte es zu den Pflanzen und ließ aus ihrer Verbindung die Metsaner entstehen“, erklärte sie sehr stolz.
„Oho! Wir haben eine Klugscheißerin im Team!“, äußerte sich der eine Kollege recht genervt. Der andere fühlte sich plötzlich so sehr angegriffen, dass er auf Florence zuging und meinte:
„Wenn du schon so viel weißt, dann kannst du uns doch sicher auch sagen, was mit den verrückten Rinden hier passiert ist, oder?“ Seine Stimme klang provozierend. Florence wollte sich nicht entwürdigen lassen, also ignorierte sie seine dämliche Provokation. Das gefiel ihm gar nicht und er wollte ausholen, um Florence am Kragen zu packen, doch dann hörte man aus dem Gebüsch eine tiefe Männerstimme rufen: „Meine Herren!“ Heraus kam jedoch ein etwas jüngerer Mann.
„Nick!“, sagte Florence erleichtert. „Kannst du diesen Hohlköpfen sagen, dass sie mich nicht bei der Arbeit stören sollen?“
„Jungs! Ihr wisst, wo euer Platz ist“, erinnerte Nick die beiden. Diese stellten sich stramm vor ihn. „Jawohl, Sir!“
Nick stellte sich neben Florence hin, die daraufhin erstmal aufstand, um Nick würdig zu begrüßen.
„Du kommst keine Minute zu spät. Der Scan läuft gerade“, teilte sie ihm mit.
„Gut!“, bestätigte er, „umso eher wir wieder aus dem Wald sind, umso besser.“ Florence verzog schmunzelnd ihre Miene. „Hat da etwa der weltbeste Auftragsmörder Angst vor einem Wald?“
„Nein! Aber mit einem Scharfschützengewehr kann man auch keine Horde an Zombies töten.“ Florence musste eingestehen, dass ihre Situation doch etwas gefährlicher als angenommen war. Während sie sich unterhielten, hatte der Computer den Scan abgeschlossen. Florence sah sich rasch die Ergebnisse an. Nick stellte sich hinter sie, um besser auf den Bildschirm schauen zu können, und musste mit Erstaunen feststellen, dass sich seine Theorie in seinem Kopf bestätigte. Florence war hingegen verwirrt über die Ergebnisse.
„Das ergibt keinen Sinn. Sie ist doch eine Metsanerin, also müsste sie doch auch vom Virus befallen sein.“ Nick schmunzelte ein bisschen und wollte ihr gerade erklären, was es mit den Ergebnissen auf sich hatte, da raschelte es erneut im Gebüsch. Nick zog seine Waffe blitzschnell heraus und war bereit, auf das zu schießen, was da auf sie zukam.
„Sie ist eine Halb-Metsanerin“, sprach eine klagende und erschöpfte Stimme aus dem Busch und ein junger, großer Mann mit kurzem, weißen Haar kam heraus. Die beiden Kollegen zückten ihre Waffen, Florence stand wie angewurzelt an der Stelle und Nick senkte seine Waffe.
„Eine Halb-Metsanerin?“, fragte Florence verwirrt. Sie ist in ihrem Leben noch nie einer begegnet. Aber es würde erklären, warum sie nicht vom Virus befallen war.
„Halb Mensch, halb Metsanerin. So wie ihre Eltern es wollten“, erklärte Nick und sah dabei in die Augen des Mannes.
„Ist schon eine verrückte Zeitlinie, in der wir hier sind. Nicht wahr, Nick?“, merkte der Mann an. Nick bewegte seine Hand nach unten, um den anderen zu signalisieren, dass sie ihre Waffen auch senken sollten. Florence war verwirrt, aber neugierig zugleich. Sie sah gespannt zu, wie sich die Situation entwickelte.
„Ich dachte, ehrlich gesagt, du wärst tot. Aber irgendwie wundert es mich auch nicht“, sagte Nick und ging langsam auf sein Gegenüber zu.
„Ich verstehe dich nicht“, sagte der Mann.
„Was verstehst du nicht?“, fragte Nick verwirrt mit hochgezogener Augenbraue.
„Sie war unsere Freundin und du hast zugelassen, dass sie getötet wurde.“ Nick senkte seinen Kopf und starrte auf das Gras. Selbst er konnte in diesem Moment kein Pokerface aufsetzen.
„Ich hatte keine andere …“, wollte Nick antworten und wurde sofort von seinem Gegenüber schreiend unterbrochen. „Du hattest eine Wahl!“ Er ging humpelnd ein paar Schritte näher. Florence und die anderen beiden nahmen eine verteidigende Position ein, während Nick in seiner ruhigen Haltung blieb.
„Und ICH habe eine Wahl“, merkte der Mann an. Er holte einen glühenden, violetten Stein aus seiner rechten Hosentasche hervor. Nick riss die Augen auf.
„Du hast …“, wollte Nick vorbringen, aber der Mann unterbrach ihn erneut. „Ja. Ich habe das Hasenherz von Yumi.“ Florences Knie fingen zu wackeln an. Sie hatte viel über das Begleittier der Hüterin gehört und gelesen, doch dass ihr Gegenüber das Herz des magischen Wesens in der Hand hielt, konnte nichts Gutes bedeuten.
„Und nein!“, stellte der Mann klar, „ich habe Yumi nicht getötet. Er hat sich freiwillig geopfert.“ Er streckte selbstsicher seinen rechten Arm mit dem Stein gen Himmel.
„Wag es ja nicht!“, schrie Nick ihn an, doch es war bereits zu spät. Plötzlich begannen die Blumen und Pflanzen um alle herum zu leuchten. Selbst das Gras, in welchem die tote Metsanerin lag, strahlte in einem satten Grün. Aus der Ferne hörte man knurrende, sabbernde Geräusche und das Rascheln von Espenlaub. Florence und die anderen wurden zunehmend nervöser. Ihre Kollegen waren kurz davor einfach zu verschwinden.
„Dass du das Herz einfach so missbrauchst“, brachte Nick entsetzt vor.
„Ich missbrauche es nicht!“, korrigierte der Mann, „ich nutze es!“ Die wilden Geräusche kamen näher und man konnte nun deutlich erkennen, dass es sich bei den Geräuschen um infizierte Metsaner handelte. Nick zog blitzschnell seine Waffe und zielte auf den Mann.
„Ich hätte nicht gedacht, dass ich das tun muss!“
An den weißen Stränden im Westen des Kontinents
Er spürte den feuchten Sand an seinen Füßen. Mit jeder Welle, die am Strand aufschlug und in sich zusammenfiel, spülte es die kleinen Körner von seiner Haut davon. Eine kühle Brise war zu spüren und am Horizont zeichneten sich vereinzelnd kleine Wolken ab. Dann machte er ein paar langsame Schritte auf das Meer gen Sonnenuntergang zu, bis seine Füße komplett mit Wasser bedeckt waren. Von hinten hörte er eine Stimme entsetzt rufen: „Was machst du da?!“
Aaron drehte seinen Kopf nach hinten und sah, wie sein Freund Waiel auf den Strand gerannt kam.
„Das war unser 36. Versuch. Vielleicht sollten wir es einfach gut sein lassen“, erwiderte Aaron resigniert.
„Bist du verrückt?“, entgegnete Waiel wiederum entsetzt. Aaron schmunzelte leicht.
„Ähm, ja“, antwortete er sarkastisch.
„So meinte ich das nicht!“ Waiel hielt kurz inne, während sich Aaron wieder in Richtung Meer drehte. „Ich habe dich bei 16 durch das Feuer, bei 23 durch das Virus und bei 30 durch einen verdammten Kopfschuss deines besten Kumpels verloren. Das war eine verdammte Achterbahnfahrt der Gefühle. Tu mir das nicht an.“
„Vergiss nicht bei 27, wo du für den Blackout gesorgt hast und ich dann hinterrücks abgestochen wurde“, fügte Aaron scherzhaft hinzu. Waiel schüttelte entnervt den Kopf.
„Am Ende war das nicht mal ich“, korrigierte Waiel, „Yuro war dafür verantwortlich.“ Aaron drehte sich um und ging langsam zurück zum Strand.
„Wie Yuro?“, fragte Aaron interessiert.
„Stimmt!“, stellte Waiel dann fest, „Du kannst das gar nicht wissen, weil …“ Aaron vervollständigte seinen Satz. „Weil ich schon tot war.“
Waiel hielt kurz inne, während Aaron zurück am Strand war und sich auf eine nahegelegene Holzbank hinsetzte. Aaron folgte ihm und setzte sich rechts neben ihn. Beide beobachteten sie das Meer und wie melancholisch die Wellen an den Strand aufschlugen.
„Es war wie ein verdammtes Tauziehen“, äußerte sich Waiel, „immer wieder hatte eine Seite den Vorteil. Zog stärker, dann wieder schwächer. Aber am Ende reichte es jetzt trotzdem nicht.“
„Die Welt fällt ins Chaos“, bemerkte Aaron betrübt. Beide ließen sie die Geschehnisse Revue passieren.
„Yuro sprengte dieses Mal den Turm“, begann Waiel seine Ausführung, „noch bevor Nick den Kristall sichern konnte. Er begrub ihn und sämtliche Mitglieder der Operation mit dieser Aktion, während die restlichen Zivilisten in die Berge flohen. Die Zerstörung des Kristalls erzeugte eine so heftige Druckwelle, dass sämtliche Schiffe auf dem Meer zerbrachen und die Besatzungen alle im Meer ertranken.“
„Selbst Bagel, der zu dem Zeitpunkt neben der Militärbasis angedockt hatte“, fügte Aaron hinzu.
„Dieses Mal konnten wir das Feuer verhindern, aber Thomas hat trotzdem die Kontrolle über das Hasenherz erlangt und hat vermutlich schon alle Metsaner als seine Sklaven genommen“, führte Waiel fort.
„Armer Noel“, merkte Aaron an, „Aber wir wissen beide, was passiert ist, als er mir das Herz gegeben hat.“ Da stand Waiel blitzartig wieder auf.
„Dieser Versuch war so gut!“, ärgerte er sich, bewegte sich auf der Stelle hin und her und zerrte raufend an seinen kurzen Haaren.
„Was ist, wenn sie es so gewollt hätte?“, fragte Aaron.
„Das ist Schwachsinn! Sie hätte das niemals so gewollt!“, widersprach Waiel.
Aaron blickte aufs Meer, während Waiel versuchte, sich wieder zu fangen. In der Ferne konnte man die Silhouette eines großen Gebäudes sehen. Der Schatten eines großen Palasts.
„Weißt du“, begann Aaron mit sanften Worten, „Sie wollte für uns immer ein Zuhause schaffen. Einen Ort, wo wir alle friedlich koexistieren können. Einen Ort, wo wir alle zusammen sind. Zusammen feiern. Zusammen lachen. Zusammen weinen.“ Waiel drehte sich langsam zu Aaron.
„Doch die Vergangenheit holt uns immer wieder ein.“ Die leichte Brise wurde zu einem etwas stärkeren Wind. Beide wandten ihren Blick gen Horizont, an dem sich nun dunkle Wolken abzeichneten.
„Die Entscheidungen, die wir treffen…“, begann Aaron.
„…bestimmen das Schicksal in unserer Welt!“, führte Waiel fort. Es herrschte eine kurze Stille zwischen den beiden.
„Lass es uns ein letztes Mal probieren“, äußerte sich Aaron mit einem leichten Seufzer. In Waiels Gesicht zeichnete sich ein Lächeln ab. Beide wussten nun, was zu tun war.
„Ich gehe schon einmal vor“, sagte Waiel und ging langsam vom Strand in Richtung eines großen, weißen Gebäudes. Nach dem ersten Schritt hielt er kurz inne und drehte seinen Kopf zurück zu Aaron.
„Was ist eigentlich aus Shira geworden?“, fragte Waiel neugierig. Man konnte Aaron ansehen, dass er eigentlich nicht darüber reden wollte. Er dachte an seine Metsaner-Freundin und seine Augen beobachteten die Wellen.
„Sie fiel dem Chaos der alten Welt zum Opfer“, erklärte Aaron mit ernster Miene, bevor er erneut seinen Kopf senkte und das Folgende eingestehen musste.
„Leider war das die richtige Entscheidung.“
Zunder in Ristmühl
19/20 Assos
Der Fremde kam in einer Sommernacht an. Es war eine dieser Nächte, die dich an damals zurückdenken lässt, an ungeschützte Jugendliebe im Freien, an lange Beine, Abenteuerlust und den zerbrechlichen Glauben an die Menschheit – an damals, als du von der fragilen Einrichtung der Welt noch nichts wusstest. Es war überaus warm, die Luft war spannungsgeladen. Als zöge bald ein Unwetter auf.
Sein alter Kombi fuhr weitgehend unbemerkt auf einen Hof am Dorfrand, der Fremde stieg aus, lud ein paar Sachen aus und trug sie anschließend ins Haus. Und seit langen Jahren brannte dort mal wieder das Licht.
Im Dorf war nicht viel bekannt. Einer aus Prag habe den Hof der Mollis gekauft, mehr wusste man nicht. Die Mollis waren ehrliche Leute gewesen, gute Leute, angesehen in der Gemeinde, aber sie waren kinderlos geblieben und bereits vor dreizehn Jahren gestorben. Lange war ihr schönes Fachwerkhaus mit dem angrenzenden Land unverkauft geblieben, weil niemand zu uns nach Ristmühl ziehen wollte. Hier war die Endstation der Landflucht erreicht, jedes zweite Haus stand inzwischen leer. Viele der Alteingesessenen wollten jedoch auch keinen Zuzug. Die Städter mit ihren modernen Sitten und Marotten wurden von den meisten abgelehnt.
In der Kneipe hatte sich Gerd einmal zu mir gelehnt und es mir so erklärt: „Ey, was willst du von Städtern erwarten, die noch nie richtig gearbeitet haben?“ Sein Atem stank nach Zigarettenrauch, sein Hemd nach altem Schweiß. Gerd war Bauarbeiter, ein Brocken von einem Mann mit dicken Armen, fleischigen Händen, aber auch unbedachter Zunge. Gerd kam meist nach der Schicht ins Stübchen und blieb, bis er vom Hocker fiel. Er gestikulierte mit der Selbstsicherheit desjenigen, der sich unter Gleichgesinnten wähnte. „Die tagsüber in ihre Macbooks starren, bis ihnen die Rübe weich wird, und sich abends ihren Obsessionen hingeben? Weißte, wo keine Pediküre, da keine Fußfetischisten.“ Dann hatte er gelacht, mir mit Schwung auf die Schulter geklopft, dass ich einknickte, und mir zugeprostet.
Der Fremde zog auf den Hof der Mollies, ohne viel Aufhebens davon zu machen. Manchmal sah man ihn im Hofladen, wo er sich etwas Gemüse und ein paar Konserven kaufte, doch auch dann war er unzugänglich. In sich gekehrt. Deutete man ein Gespräch an, hatte er es eilig. Jicker, ein korrekter und manchmal etwas langsamer Endfünfziger, dem der Hofladen gehörte, sagte, der Fremde heiße Harald, aber sei recht wortkarg.
Es gab noch ein paar wenige andere Zugezogene, die Gurtens und die Ellbecks, aber wie Harald fanden sie nicht so recht Anschluss im Dorfleben. Argwohn baute sich bei den Alten auf und nicht lange, nachdem Harald nach Ristmühl gezogen war, schien sich ihr Argwohn für die Alten zu bestätigen.
Als im Spätsommer Donnies Eileiter durchgeschnitten werden sollten, er war Irenes bester Zuchtbulle, bekam Donnie einen Abszess und starb infolge der Vasektomie. Ein Unfall, hieß es zunächst, so etwas konnte passieren. Doch dann fielen an einem anderen Tag ihre Gänse einfach tot um. Bei den Mitterleins wurden zeitnah mehrere Scheiben eingeschlagen und bei den Turells verschwanden verschiedene Gartengeräte, ein Rasenmäher, eine Heckenschere und noch ein paar Dinge. Und ja, sie alle wohnten in der Straße von Harald.
Im Stübchen ging es in einer der darauffolgenden Nächte heiß her. Die ganze Kneipe war verqualmt, knapp ein Dutzend Alteingesessener hatte sich am Tresen zusammengefunden.
Irene, die von gedrungener Gestalt und dem Schnaps zugetan war, ereiferte sich. „Scheiß die Wand an, Jicker, wer sonst, wenn nicht einer der Neuen soll für die ganze Scheiße hier verantwortlich sein, die hier neuerdings passiert? Andere Arschlöcher verirren sich doch nicht in unser beschissenes Kaff!“
Jicker hob beschwichtigend die Hände. „Ich verstehe ja deine Wut, Iri. Aber wieso sollte irgendein Städter deine Tiere umbringen? Oder bei Heinz und Frida die Scheiben einschmeißen? Wir müssen Contenance bewahren.“
„Scheiß auf deine Scheißcontenance! Ach, was weiß ich, hier, Hinnerk“, sie wandte sich zum Wirt und schob ihm ihr leeres Bierglas hin, „mach mir mal noch ‘ne Tulpe.“ Sie wandte sich wieder Jicker zu. „Weiß ich, was diese ganzen ekelhaften, perversen Druffies so treiben? Weiß ich, was mit einem passiert, der sich die ganze Woche in irgendwelchen Dissen Pillen schmeißt, der nur noch Vergewaltigungs-Hip-Hop hört, der jeden Anstand verliert?“ Sie rülpste, dann wurde sie ganz leise. Die anderen lauschten schweigend. „Scheiße, weiß ich, was passiert, wenn einem alle Lampen im Kopf durchknallen?“ Sie blickte auf ihre schwieligen, von harter Arbeit gezeichneten Händen. „Weiß ich, wie’s ist, wenn auf einmal alles nur noch auf Abriss steht? Manche Leute wollen die Welt in Scherben sehen, Jicker, deine Versicherungen, dass das schon alles gut wird, helfen mir nicht.“ Sie funkelte die anderen böse an. „Wenn noch mal irgendwas passiert, stellen wir nachts ‘ne Aufsichtsperson vor jedes der Häuser von diesen Zugezogenen. Und wehe, irgendjemand macht dann etwas Dummes.“ Ein paar ihrer weißen Haare hingen ihr wirr ins Gesicht, ihr strenger Knoten hatte sich etwas gelöst. Sie spie die letzten Worte aus.
Einige hörten ihr mit verschränkten Arme zu, ein paar sagten leise: „Jawoll.“ Andere geiferten. In meinem Bauch rumorte es. Vielleicht kennst du es, wie es sich anfühlt, wenn sich etwas Düsteres zusammenbraut, das du nicht richtig greifen, aber spüren kannst.
Am Tag darauf brühte sich Harry einen Kaffee auf. Er hatte sich nur die alte Filterkaffeemaschine aus dem Keller geschnappt, hatte die Scheiße mit Jana ihre Scheiße allein sein lassen und war nach Ristmühl gefahren. Seit Jahren hatten sie sich darüber gestritten, ob sie ihr Leben in Prag weiterführen sollten oder nicht, Harry war dagegen gewesen, Jana dafür, und irgendwann hatte es gekracht und Harry war gefahren. Er hatte ein paar Jahre sehr gut in Prag verdient, aber es hatte ihn zurück nach Deutschland gezogen, aufs Land, abseits der Großstadt. Jana hatte sich von ihm getrennt, also hatte er Nägel mit Köpfen gemacht.
Er hatte sich in den alten kleinen Hof bereits bei der ersten Besichtigung verliebt, in diese Mischung aus Heruntergekommenheit und Dorfidyll. Er stellte sich ans Doppelfenster, das er fürs Stoßlüften weit geöffnet hatte, nippte an seinem Kaffee und betrachtete entzückt, wie die Farbe von den Fensterläden des gegenüberliegenden Schuppens abblätterte.
Da winkte ihm ein Mann vom Weg her und kam zu ihm aufs Grundstück. Er war groß, etwas schlaksig, hatte schütteres Haar, Birkenstocklatschen an und eine eckige Brille auf der Nase.
„Hey, grüß dich“, sagte er. „Ich bin Gunnar, Gunnar Ellbeck. Wir wohnen im Neunfüßlerweg da hinten.“ Er zeigte in eine Richtung vom Haus weg.“
„Hi, ich bin Harald“, sagte Harry.
„Du bist vor ein paar Wochen hier angekommen, oder? Hast du dich schon etwas eingelebt?“, fragte Gunnar.
„Na ja, etwas“, sagte Harry und ging in Gedanken durch, was er schon alles in den letzten Wochen getan hatte. Es war ziemlich wenig gewesen, er hatte einfach keine Lust gehabt, mit dem Renovieren zu beginnen oder das Haus einzurichten. Ein paar Möbel, waren ja da, es bestand keine Not, sich zu beeilen, momentan scheuchte ihn ja auch niemand mehr herum. „Aber ich war vor allem viel am See und manchmal noch in Berlin und in Prag.“
„Ja, das dachte ich mir“, sagte Gunnar etwas gedankenversunken, als er sich umblickte. „Wir, also meine Frau, Tochter und ich, sind vor zwei Jahren auch hergezogen, ich …“ Jetzt blickte er auf. „Ich wollte nur sagen, dass du ein bisschen auf die Leute hier achtgeben musst. Auf die, die schon lange hier wohnen. Manche sind … speziell. Du hast von dem Vandalismus in letzter Zeit gehört?“
„Vandalismus?“, fragte Harry verdutzt. „Nee.“ Gar nichts hatte er mitbekommen.
„Ja, Vandalismus, bei manchen Nachbarn gab es Vorfälle, eingeschlagene Scheiben, Sachen wurden geklaut, wahrscheinlich wurden ein paar Gänse vergiftet.“
„Ach du Scheiße?“
„Jaah“, sagte Gunnar langsam. „Die Alteingesessenen hier, weißt du, die neigen dazu, die zum Sündenbock zu machen, die noch nicht so lange hier wohnen.“
Stille trat ein.
„Na ja“, sagte Gunnar. „Das wollte ich dir nur sagen. Mach dir keine Gedanken, es ist nur Dorfgeschwätz, aber manchmal kommen wir“, er zeigte auf Harry, sich und vage in die Richtung, in der er wohnte, „nicht so gut dabei weg. Das ist bestimmt irgendwann aber vorbei.“
Er sah zweifelnd aus.
„Na gut, dann dir erstmal ‘nen schönen Tag!“ Gunnar hob die Hand und schlurfte vom Hof.
Harry sah ihm mit gemischten Gefühlen noch eine Weile hinterher.
Zur gleichen Zeit ging Irene über ihren Hof, ihr gekrümmter Rücken bereitete ihr Schmerzen. Ihr Herz sank in ihre Knie, als sie den Gänseschuppen betrachtete – ihr Herz hing mehr an den Tieren als an den Menschen. Die hatten sie zu oft enttäuscht. Sie ließ den Blick über ihre Scheune und ihr Haus schweifen. Alles war etwas heruntergekommen, betrübt sah sie, wie die Farbe von ihrem Jägerzaun abblätterte. Früher, als Georg noch gelebt hatte, war es leichter gewesen, auch wenn er ein scheußlicher alter Trinker gewesen war. Aber sie waren trotzdem ein Team gewesen. Sie lachte traurig. Jetzt war sie die scheußliche alte Trinkerin.
Sie wusste nicht, wie sie mit dem Verdienstausfall ihre übrigen Tiere versorgen konnte. Alles war so teuer geworden. Sie blickte zum Himmel, eine Träne rann ihr über die Wange.
Zwei Tage vergingen, ohne dass etwas geschah. Doch in der darauffolgenden Nacht gellten Schreie durch die rötliche Schwärze. Menschen aus dem ganzen Dorf rannten zum Hof der Beetes. Es brannte. Max Beete hatte den größten Bauernhof in der Region. Irgendjemand hatte es fertiggebracht, die auf dem großen Hof gelagerten Heuballen zusammenzuschieben, aufzutürmen und anzuzünden. Der Sommer war heiß und trocken gewesen, wie so oft in den letzten Jahren, und jetzt brannte ein gewaltiger, haushoher Heuhaufen lichterloh direkt im Hof.
Das ganze Dorf kam angerannt, da wir über keine eigene Feuerwehr verfügten. Ich sah auch Harald, wie er in Schlafklamotten keuchend ankam und seine Hilfe anbot. Max hatte die Feuerwehr natürlich bereits gerufen, aber es konnte vierzig Minuten oder länger dauern, bis sie kam – Zeit, in der das Feuer auf die umliegenden Häuser übergreifen konnte, insbesondere auf Schuppen und Scheunen, die nur mit Holzdächern bedeckt waren!
Schläuche wurden ausgerollt, Wassereimer gereicht und versucht, manche kleineren Flammen mit Sand zu ersticken. Doch es nützte nichts, in schrecklicher Schönheit schlugen die Flammen immer höher. Es schien, als ergötzte sich das Feuer an sich selber, als führte es einen autoerotischen Tanz auf, der nur sich selber diente, als lebte es nur für den Moment. Als wären die Folgen völlig egal. Feuer existierte nur für den Moment, bis kalte Asche übrigblieb. Der Feuertanz hätte inspirierend sein können, wenn nicht in diesem Augenblick Max‘ Scheune niedergebrannt wäre. Gerd schrie, als sein Ärmel Feuer fing, und die beiden Töchter von Max weinten. Wir versuchten lange vergeblich, Herr der Lage zu werden, auch wenn wir es noch so sehr versuchten. Alle wurden hektischer, panischer – da schnitt Blaulicht durch die Szenerie, zum Glück traf endlich die Feuerwehr ein, und mit ihrer Hilfe schafften wir es, das Feuer zu bändigen.
Bis in die frühen Morgenstunden halfen wir Max‘ Familie, die Folgen des Brandes zu lindern. Manche gingen irgendwann nach Hause. Erschöpft ließen wir anderen uns auf Bänke und Kisten fallen, als die Hähne krähten. Max‘ Frau Rita brachte uns allen eine neue Fuhre Kaffee.
Nicht zum ersten Mal fragte sie beim Ausschenken halb zu sich, halb in die Runde: „Wie zum Teufel konnte das passieren?“ Sie schüttelte den Kopf und wischte sich die Haare aus dem Gesicht.
Wir nippten am Kaffee und blieben stumm.
Schließlich hob Irene den Kopf. „Ja, verdammte Scheiße. Brandstiftung. Wie konnte das – ums Verrecken noch eins – passieren, Harald?“
Harald sah aus wie ein geprügelter Hund. Er setzte an, hielt inne, wischte sich durchs schmutzige Gesicht und sagte: „Das weiß ich leider nicht, Irene.“
„Jetzt lass doch den Harald in Ruhe, lass uns doch keinen Nachbarschaftsstreit –“, wandte auch Gunnar ein, der müde in einer Ecke saß, doch er wurde jäh unterbrochen.
Kurt Turell, dem die Gartengeräte gestohlen worden waren, schnitt ihm wütend das Wort ab: „Sei du mal schön ruhig!“ Er schnaufte. „Die Frage ist berechtigt. Bevor ihr“, er deutete auf Gunnar, Harald und Ida und Elior Gurten, die auch zugezogen waren und auf zwei Kisten vor der abgefackelten Scheune saßen, „bevor ihr – und vor allem du, Harald – nach Ristmühl gekommen seid, ist so eine Scheiße nicht passiert! Das war mutwillig, versteht ihr das nicht, jemand hat das Heu zusammengeschoben und dann angezündet. Wäre es nicht so windstill gewesen, hätten noch einige Häuser mehr abbrennen können, verdammte Scheiße!“
„Mann, bist du bekloppt? Ich hab hier doch nichts angezündet!“, schrie Harald heiser.
Kurt sprang auf. „Aha! Aber vielleicht das Heu dafür vorbereitet?“
Harald sprang ebenfalls auf. „Bist du völlig irre? Wieso sollte ich das machen? Oder was klauen? Oder nachts Scheiben einschlagen? Oder –“
Doch Kurt unterbrach ihn mit erhobener Hand. „Wer glaubt denn bitte schön, dass das jemand gemacht hat, der hier schon seit Kindheitstagen wohnt?“ Er sah aufmerksamkeitsheischend in die Runde. Er blickte in müde, ratlose und auch zornige Augen. Keiner rührte sich. „Und wer glaubt“, setzte Kurt lautstark wieder an und wischte sich etwas Ruß aus dem Gesicht, „dass das, wenn überhaupt, jemand gemacht hat, der erst seit kurzem hier ist? – Denn das kann doch nur die einzige Erklärung dann sein?!“ Er schrie.
Blicke wurden getauscht. Langsam reckte sich hier und da ein Arm nach oben. Ich ließ meinen Arm unten, aber ich sah die Wut bei vielen anderen.
Harald wurde weiß im Gesicht. Er flüsterte: „Das kann … Mit so einer pseudodemokratischen … Leute … Das kann doch nicht …“ Unschlüssig stand er da, niemand sagte etwas. Dann ging Harald rückwärts vom Hof. Er rief noch: „Ich habe hier die ganze Nacht mitgeholfen, wie alle!“ Dann drehte er sich um und verschwand.
Gunnar, Ida und Elior standen ebenfalls auf, wie gelähmt. „Wir gehen wohl besser auch“, sagte Elior reserviert. Dann gingen sie. Wir blieben.
Mit klopfendem Herzen schloss Harry seine Haustür auf. Er konnte nicht fassen, was ihm vorgeworfen wurde – und die vielen feindseligen Blicke machten ihm Angst. Eine Weile versuchte er sich zu beruhigen, einen Kaffee zu trinken. Sollte er die Polizei rufen? Aber wegen was? Er starrte vor sich hin. Dann ging er in den Keller und kramte nach einer länglichen Kiste, die Jana ebenfalls stets verabscheut hatte. Seine Schrotflinte. Waffen faszinierten ihn, und er hatte gedacht, dass man auf dem Land in aller Abgeschiedenheit auch hin und wieder schießen gehen könnte. Jetzt reinigte er schnell die Rohre und kramte in anderen Kisten, bis er fand, was er suchte: Munition.
Nervös ging er wieder nach oben, klappte die längliche Bank seiner Eckbank auf und legte die Schrotflinte hinein. Die Munition schob er unter die Bank, dann setzte er sich darauf. Er blickte aus seinem Fenster, die Idylle sah er nicht.
Auf Max‘ Hof redete sich Kurt weiter in Rage. Einige waren gegangen, müde, verrußte Gesichter, die schlafen wollten, alles überdenken. Bei den anderen wurde inzwischen Apfelwein und selbstgebrannter Pflaumenschnaps ausgeschenkt. Seine Frau hatte sich verabschiedet, doch auch in Max steckte offenbar ein tiefer, zorniger Stachel. Zuerst hatten sie einen auf den Schock trinken wollen, zumal Sonntag war, doch dann uferte es aus.
„Einer von denen spielt ein ganz übles Spiel mit uns!“, rief Irene mit flammenden Wangen in die Runde, sie lallte etwas.
„Vielleicht hat einer von denen auch gesessen!“, grölte Hannes, einer der wenigen jungen Männer des Dorfes.
„Oder war in einer Bande oder einem Clan oder einer Gang und musste deswegen weit weg aufs Land ziehen!“, echauffierte sich Ute, Hannes‘ Mutter.
So ging es über Stunden weiter. Weitere wütende Worte wurden gewechselt, ein wenig hatte auch ich mich daran beteiligt, aber zumindest trank ich nicht mit.
„Wisst ihr was?“, dröhnte da Hinnerks Stimme durch die Runde. „Wir sollten ein Zeichen setzen. Scheißegal, wer das von den Scheiß-Städtern war, wir machen klar, dass wir uns das nicht gefallen lassen. Wir. Lassen. Uns. Das. Nicht. Gefallen.“
Hinnerk stand auf, ging in einen von Max‘ Schuppen, nahm sich eine Grepe und sah die anderen aus blutunterlaufenen Augen auffordernd an. Er blickte in entschlossene, wütende und mehr oder minder betrunkene Mienen.
Irene rief: „Scheiße, ja!“
Selbst der sonst so besonnene Jicker nuschelte: „Scheiße, ja.“
Dann riefen viele: „Scheiße, ja!“
Ein harter Kern der alteingesessenen Ristmühler bewaffnete sich. Der Eigendynamik konnte man sich kaum erwehren, mir wurde ein Hammer in die Hand gedrückt, also nahm ich den Hammer. Zusammen liefen wir zu Haralds Haus.
Dort angekommen, schrie Kurt: „He, Harald, komm raus! Unsere Unterredung ist noch nicht zu Ende!“
Als Antwort wurden die Jalousien seiner Küche heruntergelassen.
„Verpisst euch!“, hörte man Haralds Stimme. „Ich rufe die Polizei!“
„He!“, rief wieder Kurt, diesmal entgeistert. „Seht mal!“ Er deutete hinter Haralds Haus. „Da steht mein Rasenmäher! Und da, meine Heckenschere!“
Gerd stieß prompt die Gartenpforte auf und hämmerte gegen Haralds Haustür. „Komm raus, Harald, komm schon raus, du beschissener Dieb!“
Ein Schuss fiel, der Mob sprang auf den Boden, dann trat kurz Stille ein.
Schließlich hörte man Harald: „Das war ein Warnschuss in die Luft! Das nächste Mal ziele ich auf dich, Gerd. Verpisst euch endlich!“
Das war ein Fehler. Gerd nahm das Brecheisen, das er mitgebracht hatte, und brach ohne viel Federlesen die Tür auf. Man hörte einen Schuss, Gesplitter, einen Schrei, und dann schleifte Gerd Harald mit roher Energie aus dem Haus. Er warf ihn hin, schlug ihm ins Gesicht, schrie ihn an. „Was denkst du, auf mich zu schießen? Du willst mich umbringen?“
Gerd packte ihn wieder und schleifte Harald weiter. Er zeterte: „Ein Exempel! Pass mal auf, Harald, pass mal auf!“ Die anderen johlten.
Einer makabren religiösen Prozession gleich zog Gerd den halb ohnmächtigen Harald hinter sich her und der Rest folgte. Ein paar der Ristmühler, die entweder kurz daheim gewesen waren oder in der Nacht gar nicht geholfen hatten, kamen hinzu und verfolgten stumm das Geschehen. Die Prozession führte zum Kirchturm, wütend riss Gerd dessen Tür auf und zog Harald hinein.
Wir anderen blieben draußen, es war zu eng und zu schmal im Turm, nur eine Wendeltreppe führte zur Turmuhr und zum Dachreiter der Kirche hinauf.
Die Stimmung schien umzuschlagen. War das Gejohle eben noch wütend, schien es sich jetzt ins manisch Vergnügliche zu kehren. Mir wurde ganz komisch. Die meisten schienen mit freudiger Erregung ungehemmt darauf zu warten, was jetzt geschah.
Ein kleines Fenster oben im Turm knallte auf, dann sah man, wie zwei bullige Arme Haralds Oberkörper nach draußen streckten, bis er kopfüber nach unten baumelte. Harald schrie. Gerd hielt nur noch seine Beine fest.
Die Menge johlte und pfiff. Ich sah mich um, hier und da waren zweifelnde, bisweilen ängstliche Gesichter zu sehen. Doch die meisten waren erregt und gebannt. Neben mir stand Irene, sie pfiff und schrie und hatte Tränen der Wut und des Hasses in den Augen.
„Lass ihn fliegen wie ‘ne Möwe!“, schrie einer.
„Rapunzel, lass dein Haar herunter!“, rief ein anderer.
Ein paar lachten.
„Defenestration“, murmelte Jicker eher sich selbst zu und nestelte nervös an seiner Brille herum.
Und dann schien es wie in Zeitlupe und doch so schnell zu passieren. Harald bäumte sich auf, versuchte sich an Gerds Armen festzukrallen, hieb auf ihn ein – und Gerd schlug instinktiv zurück. Haralds Kopf flog wieder nach hinten, nach unten, Gerd konnte ihn nicht mehr halten. Harald flog – wie eine Möwe, könnte mancher meinen – im Sturzflug auf die Menge zu.
Krachen, Knacken, Stöhnen.
Die Manie der Menge schien zu weichen.
Ein zaghaftes „Aber …“ war zu vernehmen. Hie und da ein selbstvergewisserndes „Aber er war es doch, der Iris Gänse vergiftet hat, oder?“. Und auch ein „Hat denn jemand Beweise?“.
„Rasenmäher“, wurde dann gemurmelt.
„Ruft den Notarzt!“, schrie endlich jemand. „Polizei!“, wer anders. Und immer wieder hörte man: „Er muss es doch gewesen sein! Wer soll es sonst gewesen sein? Wer soll es denn sonst gewesen sein?“
Irene starrte entsetzt den reglosen, verrenkten Körper in der Blutlache an. Ihr wurde übel. Ich musste mir ein Lachen verkneifen.
Euch kann ich es ja sagen, Freunde.
Ich war es.