BFS9 - the buttfucking stories

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    • BFS9 - the buttfucking stories

      Welche Storys kriegen eure Votes? 8
      1.  
        Abbels (K)eine Autobiografie (3) 38%
      2.  
        Wons' Edgar Fjord und die Wilde Dreizehn (4) 50%
      3.  
        CAMIRs Wechselbalg (2) 25%
      4.  
        pondos Kein Schnaps der Welt (2) 25%
      5.  
        Crèx' Im Schneekirschen-Weg 4/2 (4) 50%
      6.  
        Vaylins Wunderhöhle (1) 13%
      Hey da!

      Wahnsinn, die letzte Phase der BFS NEUN geht in die Startlöcher - das heißt: Langes Schwatzen ist unnötig!

      Lest!

      Genießt!

      Und votet für eure diesmaligen Lieblinge!

      Applaus für alle Teilnehmenden und ebenfalls für Sirius, der sich nicht zu schade war, trotz der knapp bemessenen Zeit noch eine Überraschung beizusteuern!







      Es machen diese Runde ja ausschließlich Veteran:innen mit, deshalb fasse ich mich kurz, was das Voten betrifft.
      - Jede:r hat 2 Stimmen
      - Voting erfolgt bis zum 20.12.2020, 12 Uhr mittags
      - und alle, auch alle Nichtteilnehmenden, können mitvoten!


      Euren Lesestoff findet ihr hier:


      Buttfucking Story 9
      ~ A Tea Bag Boogie ~





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      Abbels (K)eine Autobiografie

      (K)eine Autobiografie


      Kaum schlief ich, wurde ich auch schon durch einen total blöden Traum wach. Meine Katze wurde vom Nachbarshund zerfetzt. Zum Glück hab ich eigentlich keine Katze, aber die hat mein Traum-Ich ja jetzt auch nicht mehr.
      Heute ist eigentlich der Tag für meine geplante Aufnahme in der Klapse. Und da es noch viel zu früh war, habe ich ein bisschen mit meinem Handy im Netz nachgelesen. In Nordkorea wollen sie jetzt jeden gegen die Grippe impfen, als Schutz vor Covid. Na ob das was bringt? Immerhin kann es dort keine Impfgegner geben, schließlich würden alle, die sich widersetzten, einfach auf die Streckbank geschnallt werden. Oder schlimmeres. Apropos, meinen Impfpass sollte ich auch noch einstecken. Als ich den mal durchgeschaut hab, stellte ich fest, dass ich manche Impfung gar nicht erhalten hab.

      Gegen halb acht wurde es Zeit zum fertig machen. Ich wusch mich zumindest mal schnell. Für mehr hatte ich keine Kraft. Ich nahm meine gepackte Tasche, zog meine Jacke und Schuhe an und steckte meinen Haustürschlüssel in die Jackeninnentasche, nachdem ich die Tür zuschloss.
      Draußen war keine einzige Wolke am Himmel und die Wintersonne blendete mich. Das nervige Nachbarskind will mich jedesmal überreden mit den Seifenblasen zu spielen. Diese Kulleraugen! Ich will jedes mal nur reinschlagen. Wieso mögen mich Kinder immer so? Abgrundtiefer hass. Und jedem den ich meine Meinung über Kinder verrate, verfällt in Schnappatmung. Dabei sind die es doch, die einem immer scherzhaft raten keine Kinder zu bekommen.

      Als ich an der Haltestelle ankam, lagen dort wieder Spritzen rum. Der Geruch war auch wieder abartig. Stinketofu ist nichts dagegen.

      Im Bus war hinten wieder die selbsternannte Partymeile der Jugendlichen, welche die Brunftzeit ausgerufen haben. Also wie immer eigentlich. An meiner Haltestelle stiegen auch ein Paar von denen aus, wovon ich einfach aus Frust noch Jemanden, ganz ausversehen (nicht), in den gegenüberliegenden Dornenbusch schubste. Was suchten die überhaupt hier, haben wohl wohl die Psychiatrie mit Schule verwechselt? Kann mal passieren.

      An der Information gab ich meine Einweisung und Karte ab und sollte dann kurz warten. Die Infotussi rief dann wohl die Station an und bat eine Schwester mich abzuholen. So verlaufe ich mich wenigstens nicht.
      Sie erzählte mir wohl ein bisschen, merken konnte ich mir aber nichts. Ich spielte nur nervös an meinem Armband rum.
      Auf der Station angekommen, musste ich wieder warten. Währenddessen kamen schon Patienten an mir vorbei. Manche fragten, weshalb ich hier sei. Dass ich wegen der Psyche da war, wollten sie nicht akzeptieren. Wie sehr sie mich nervten checkten sie aber auch nicht.
      Irgendwann kam endlich der Arzt oder Psychologe und holte mich ins Büro. Das war das Aufnahmegespräch. Ich musste meinen nicht vorhandenen Drogenkonsum erklären, Allergien mitteilen, weshalb ich da bin (die Psyche?) und danach schickte er mich wieder zur Schwester. Die musste bei mir dann noch Fieber und Blutzucker und sowas messen. Da mein Blutzucker wohl niedrig war, wurde ich gefragt, ob ich was essen möchte. Ich hatte ja auch nicht gefrühstückt, also kein Wunder. Das Angebot nahm ich an und schmierte mir ein Brötchen mit einem äußerst stumpfen Brotmesser. Vor Nervosität bekam ich es nur nicht so leicht runter. Ich fühlte mich dabei, als würde ich erwürgt werden. Meinen Dreck am Hals könnte man auch fast für Würgemale halten. Zumindest sieht es vorn am Hals ein bisschen so aus wie ein Hämatom.

      Später hatte ich schon meinen ersten Termin bei der (ziemlich gutaussehenden) Psychologin. Dort musste ich auch nochmal ausführlicher erzählen, weshalb ich mir Hilfe wünsche und was ich gerne verändern möchte. Leider ließ meine Konzentration noch zu wünschen übrig und ich konnte mich kaum richtig artikulieren, geschweige denn Wünsche äußern.
      Am Liebsten wäre mir, ich fiele in einen tiefen Winterschlaf und wenn es wieder gut ist, wache ich auf.
      Diese Aussage wurde zum Anlass genommen, mir eine Pflegekraft mit ins Einzelzimmer zu schicken. Damit ich mal entspannen könne, gab man mir noch ein Medikament. Ich fragte den Pfleger, ob er dann also mein Tripsitter sei. An seinem Humor muss ich noch arbeiten.
      Die ganze Zeit beobachtet zu werden brachte mich nicht so recht zum entspannen. Irgendwann schlief ich trotzdem ein.



      Wons Edgar Fjord und die Wilde Dreizehn

      Edgar Fjord und die Wilde Dreizehn
      Oder: Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser

      Edgar Fjord war in vielerlei Hinsicht eine Möwe wie jede andere auch; er war frech, strotzte nur so vor eigentlich lieb gemeinter Aggressivität und sein größtes Hobby war es, über dem Pier Kreise zu fliegen und ahnungs- und wehrlosen Touristen die frischen, heißen Pommes mitten aus der Pommestüte zu klauen. Dass er nicht nur einen Vor-, sondern darüber hinaus auch noch einen Nachnamen hatte, war allerdings nicht das, was ihn am meisten von seinen Artgenossen unterschied, nein; was Edgar wirklich zu etwas ganz Besonderem machte, war die Tatsache, dass er ein berühmt-berüchtigter Piratenkapitän war. Der einzige Haken an der Sache war, dass er als Möwe natürlich nicht in der Lage war, alle Aufgaben zu erfüllen, die so ein Piratenkapitän nun einmal zu erfüllen hatte. Aber Edgar wäre nicht Edgar gewesen, hätte er für dieses Problem nicht längst eine perfekte Lösung gefunden. Da seine Mannschaft größtenteils - und es tat Edgar leid, das zugeben zu müssen - aus Vollidioten bestand, hatte Edgar einfach einen von ihnen auserkoren, seine Kapitänsmarionette zu sein. Nun saß er Tag für Tag auf der Schulter dieses Mannes, der von allen nur Der Stumme genannt wurde - der Grund dafür war offensichtlich - und ließ ihn seinen Willen ausführen, während er selbst in Wahrheit die Fäden zog.
      Eines schönen Tages im Advent nun, die Mannschaft war schon halb in einen tiefen Winterschlaf gesunken, weil sich auf hoher See einfach nichts tat, geschah es, dass Edgars Mannschaft sich in einer außergewöhnlich ungewöhnlichen Situation wiederfand. Dabei hatte der Tag unspektakulär angefangen wie so viele andere Tage vor ihm; Sieglund der Einäugige hatte sich lauthals darüber beschwert, dass irgendein gemeiner Dieb seine letzten Nordseekrabben aufgefuttert hatte, der irre Ivan hatte auf seinem Stammplatz neben dem Mast gesessen und jedem, den es interessierte - und jedem anderen auch - eine haarsträubende Geschichte von der Pest in Ägypten und einem brennenden Dornbusch erzählt, Pummel und Schweinebacke, die Zwillinge an den Kanonen, hatten mit einem unvollständigen Kartensatz ein Kartenspiel gespielt, dessen Regeln sehr wahrscheinlich über ihrer beider addierten Intellekt hinausging, Pavel der Pavian hatte unter Deck seine tägliche Banane verspeist und Dösi, ein träger, alter, bärtiger Mann, der seinen Spitznamen nicht zu Unrecht trug, hatte mit glasig ins Leere starrenden Augen das Steuerrad festgehalten, als plötzlich vom Ausguck oben Kikis aufgelöster Schrei zu ihnen herunter drang: "Windhose voraus! Windhose voraus!" Schon kam die drahtige Frau mit flinken Füßen von ihrem Ausguck heruntergeklettert und schloss sich der allgemeinen Aufregung an, die inzwischen an Deck herrschte. Alle plapperten wild durcheinander, während sie beunruhigt die Windhose beäugten, die vom Horizont aus immer näher zu kommen schien.
      "Das Ende der Welt!", rief der irre Ivan, warf sich mit den Knien auf die Planken und murmelte offenbar ein Gebet vor sich hin.
      "So etwas habe ich einmal in einem Dokumentarfilm gesehen!", rief Pavel der Pavian, der gerade eine weitere Banane geschält hatte. "Das kann wirklich unser aller Ende sein!"
      "Wir müssen nur ins Auge des Sturms fahren, dann kann uns nichts geschehen", warf Kiki, altklug wie immer, ein, woraufhin Pummel und Schweinebacke sie wüst beschimpften.
      "RUHE!", schrie Edgar von der Brücke herunter, als es ihm langsam zu bunt wurde. "Niemand wird hier zugrunde gehen. Seht ihr denn nicht, dass das keine gewöhnliche Windhose ist?"
      Statt die von Edgar geforderte Ruhe einzuhalten, brach die Mannschaft nach diesem Kommentar in noch wildere Spekulationen aus; es war zum Aus-den-Federn-Fahren, dachte Edgar mit einem genervten Seufzen.
      Doch da drang plötzlich leises Gelächter aus der immer noch bedrohlich näher rückenden Windhose hervor, das die Mannschaft endlich verstummen ließ. Alle horchten angestrengt hin, und da war es wieder, das unheimliche Lachen, unsichtbar, angsteinflößend, geheimnisvoll,...
      "Meuterei", knurrte Edgar mit zusammengekniffenen Augen. "Meuterei!"
      Im nächsten Augenblick surrte ein Enterhaken knapp an Kikis Kopf vorbei und schlug sich in der Reling fest. Noch bevor Kiki auch nur entsetzt kreischen konnte, kletterte ein feindlicher Pirat am Seil herauf an Bord von Edgars Piratenschiff.
      "Du!", rief Edgar aus, als er seinen Erzfeind, den Brocken, mit einem fiesen, zahnlosen Grinsen an Bord klettern sah. Der Brocken war, wie sein Name schon andeutete, ein Fels von einem Mann, riesengroß, muskelbepackt, das Gesicht vor lauter Bart und Narben kaum noch sichtbar, der bullige Hals voller Würgemale aus den zahlreichen Gefechten, aus denen er siegreich hervorgegangen war. Einst war der Brocken, auch wenn Edgar es niemals freiwillig zugeben wollte, dessen großes Vorbild gewesen. Ja, seinetwegen hatte Edgar überhaupt erst entschieden, selbst Pirat zu werden. Der Brocken führte eine stolze Piratenmannschaft an, die sich die Wilde Dreizehn nannte, und Mitglied dieser Crew zu werden, war Edgars größter und geheimster Traum. Jedoch hatte der Brocken seine Bewerbungen - von denen Edgar mehr eingereicht hatte, als er stolz war, zuzugeben - nicht nur abgelehnt, sondern mit höhnischem Gelächter kommentiert und geradezu niedergeschmettert. Eine Möwe, die Pirat werden will? Lächerlich, hatte er gesagt und sich dabei fast in die Hosen gemacht vor Lachen. Edgar würde niemals ein Pirat sein, hatte der Brocken ihm gesagt; doch das hatte Edgars Ehrgeiz nur noch mehr angestachelt. Wenn er schon nicht ein Teil der Mannschaft des Brockens werden konnte, so wollte er wenigstens dessen gefürchteter Erzfeind werden! Und nach und nach, im Lauf der Jahre hatte er sich diesen Traum verwirklicht - zumindest so gut es irgendwie ging. Eine Mannschaft zusammenzustellen, ist alles andere als leicht, wenn man eine Möwe ist und nur schwerlich ernst genommen wird. Aber Edgar hatte nie aufgegeben. Und nachdem er quasi einen Wirt gefunden hatte, der für ihn den Kapitän spielte, war es etwas einfacher geworden. Pummel und Schweinebacke zum Beispiel, die hatte er nicht lange bitten müssen; die beiden waren für so ziemlich alles zu haben, verstanden sie doch meist eh nicht, worum es gerade eigentlich ging. Oder Pavel den Pavian; den hatte er bei einem Nothalt auf einer Insel aufgelesen und seither war er ein treuer Teil der Mannschaft. Oder Kiki, die einzige Frau an Bord, die der zuverlässigste Maat war, den Edgar sich nur wünschen könnte; die hatten er und seine Crew heldenhaft von einem Sklavenmarkt gerettet, auf dem sie verkauft werden sollte. Seither hatte die Mannschaft schon zahlreiche Abenteuer zusammen erlebt, sie waren gemeinsam durch Dick und Dünn gegangen. Ja, und so manches Mal hatten sie auch schon dem Brocken und seiner Wilden Dreizehn gegenübergestanden, auch wenn die Schlachten stets unentschieden ausgegangen waren.
      Vielleicht war heute ja der Tag, auf den sie alle schon so lange, so sehnlich gewartet hatten?
      "Feuer frei!", schrie Edgar aus voller Kehle, als gäbe es kein Morgen. "Schießt die Schweine ab, solange sie noch nicht an Bord gekommen sind. Auf die Windhose! Ihr Schiff muss darin verborgen sein!"
      Pummel und Schweinebacke stolperten unbeholfen zu den Kanonen und feuerten - gen Himmel.
      "Nein!", jammerte Edgar und schlug die Flügel über dem Kopf zusammen. "Das ist doch keine Flugabwehrkanone, oh Gott..."
      Der Brocken brach in schallendes Gelächter aus. "Ganz ruhig, Fjord. Ich bin heute alleine."
      Kiki starrte ihn misstrauisch und feindselig an. Der irre Ivan plapperte immer noch etwas von Endzeit und Morgensternen vor sich hin, doch niemand schenkte ihm mehr groß Beachtung.
      "Es ist wahr", fuhr der Brocken fort. "Meine Mannschaft habe ich heute daheim gelassen, ich komme sozusagen in Frieden."
      "Dann spuck aus, was du willst", knurrte Edgar, der dem Brocken kein Stück über den Weg traute.
      "Nun", der Brocken zog das Gesagte genüsslich in die Länge, während er an Deck im Kreis lief, "Kürzlich ist mir ein Mannschaftsmitglied abhanden gekommen. Nun könnten wir uns natürlich einfach Die Wilde Zwölf nennen, aber seien wir mal ehrlich, das klänge doch albern. Fjord, du hast dir inzwischen einen Namen gemacht in der Piratenwelt. Und deshalb bin ich heute vorbeigekommen, um dir einen Platz in meiner Mannschaft anzubieten. Na, was sagst du?" Er streckte Edgar die Hand hin und sah ihn abwartend an.
      Die Mannschaft tat es ihm gleich. Es war ein offenes Geheimnis, dass Edgar schon lange davon träumte, ein Teil der Wilden Dreizehn zu werden. Natürlich redete er sich selbst ein, dass er diesen Wunsch tief in sich verborgen hielt und niemand je davon erfahren würde, aber die Mannschaft hatte ihm das "Geheimnis" bereits in einer der ersten gemeinsam durchzechten Nächte auf dem Schiff entlockt.
      "Wow", flüsterte Kiki und sah den Kapitän mit angehaltenem Atem an. Sogar der irre Ivan hatte zu plappern aufgehört, Pavel der Pavian hatte seine Banane achtlos neben sich fallen lassen und selbst Edgars Wirt schien gebannt auf eine Antwort seitens der Möwe zu warten.
      Ewigkeiten schienen zu vergehen, bis Pummel, der sich verschluckt hatte, mit einem Husten die unangenehme Stille brach.
      "Ich lehne ab", sagte Edgar schließlich und erneut ging ein unruhiges Raunen durch die Menge. "Ich habe jetzt meine eigene Mannschaft, die viel besser ist, als es deine je sein könnte. Also..." Er holte tief Luft. "Runter von meinem Schiff und bring nächstes Mal deine Wilde Zwölf mit, damit wir uns anständig duellieren können."
      Wieder herrschte Totenstille, aber nur für ein paar Sekunden, dann stürzten sich alle Mannschaftsmitglieder unter den verdutzten Blicken des Brockens auf ihren Kapitän und zerquetschten ihn in der größten Gruppenumarmung, die es in der Geschichte der Piratenwelt jemals gegeben hatte.

      Edgar schreckte auf; eine Kugel Eis war aus dem Hörnchen eines weinenden Kindes auf ihn gefallen und hatte ihn unter sich begraben und ihn somit aus dem Schlaf gerissen. Was für einen sonderbaren Traum er doch gehabt hatte... Ja, wahrlich sonderbar.

      ENDE


      ???
      Thema verfehlt, Note: Mangelhaft.
      "Oh, Dreck", murmele ich vor mich hin, während ich beim Verlassen des Hochschulprüfungsamtes stirnrunzelnd die letzte Seite des Dokuments lese. Das heißt dann wohl, dass meine Hausarbeit zum Thema 'Musiktherapie bei Kleinstkindern' versehentlich auf dem Schreibtisch der Jurorin des Kindergeschichtenwettbewerbs gelandet ist, bei dem ich teilgenommen habe - oder eher teilnehmen wollte. Ich wusste, das Trinkspiel mit der ersten Staffel Pokémon zur Feier der Fertigstellung war keine gute Idee; Memo an mich, in Zukunft erst nach der Abgabe feiern. Ach, was soll's?
      "Wird später, muss noch Hausarbeit schreiben", texte ich meiner Freundin, während ich mich auf den Weg in die Bibliothek mache. Sie wird mich wahrscheinlich sowieso gleich anrufen und nachhaken und dann komm ich um das peinliche Geständnis nicht drum rum. Oh, sie wird mich auslachen, ja. Aber ich hab's auch irgendwie nicht besser verdient.




      CAMIRs Wechselbalg


      Wechselbalg


      Als die Polizei Erna schließlich fand, starrte sie katatonisch ins Leere. Blut rann
      aus ihrer Nase und ihre Unterlippe war aufgeplatzt. An ihrem Hals prangten gut
      sichtbare Würgemale, ihr rechter war Arm mehrfach gebrochen. Auf dem nassen
      Asphalt vor ihr lag ein umgekippter Kinderwagen, sein Stoff inzwischen vom
      Regen durchweicht. Dieser verdeckte das tote Baby zu ihren Füßen.

      Amtsgericht, 29.11. 16:05

      „Sache Erna Schmitt, Aktenzeichen 1456 VB-09/08,“ stand auf der Akte, die sich
      Richter Jonas Gerst in seinem Büro zu Gemüte führte. Er holte sie von dem
      dicken Stapel Papiere neben sich. Dann nahm er einen kräftigen Schluck Kaffee
      aus seiner Tasse und begann zu lesen. Der Fall war höchst bizarr. Eine junge
      Mutter war mit ihrem Baby spazieren gegangen. Mehrere Zeugen berichteten, es
      hatte sich um eine tägliche Aktivität der Frau gehandelt. Aber am Tattag war sie
      von dem Spaziergang nicht zurückgekehrt. Ihr besorgter Ehemann hatte
      schließlich die Polizei gerufen. Aufgrund von Zeugenaussagen hatte man mit
      einiger Verzögerung den Weg der Angeklagten schließlich nachvollziehen können.
      Und so hatte man sie in einer dunklen Allee abseits ihrer gewöhnlichen Route
      aufgefunden. Sie wies schwere Verletzungen auf, das Baby lag tot vor ihr auf
      dem Boden. Aber das Seltsamste war, dass die Frau durch die Vorfälle in einen
      Schockzustand versetzt worden war, der sämtliche Kommunikation mit ihr
      verhinderte. Sie sprach seither in einer völlig unbekannten Sprache.
      Richter Gerst wusste nicht, wie oft er die Akten bereits studiert hatte. Er wusste
      auch nicht, wie viele Tassen Kaffee er inzwischen intus hatte. Vermutlich stand er
      kurz vor dem nächsten Koffeinschock. Bei dem Fall gab es einige
      Ungereimtheiten. Dennoch wiesen die meisten Indizien darauf hin, dass Frau
      Schmitt ihr eigenes Kind getötet hatte. Dies erklärte zwar ihre zahlreichen
      Verletzungen nicht, allerdings hatte sie eine Vorgeschichte und war polizeilich
      bekannt. Zwar war sie nie direkt an irgendwelchen gesetzeswidrigen Vorfällen
      beteiligt gewesen, aber ihre beiden letzten Arbeitsplätze waren auf merkwürdige
      Art und Weise Opfer der Verwüstung geworden. Nein, irgendetwas war ganz und
      gar nicht in Ordnung mit der Angeklagten.
      Gerst seufzte. Er war ein einfacher Mann. Am liebsten verhandelte er simple,
      eindeutige Fälle, in denen es darum ging, ob Angeklagte das Knöllchen zahlen
      mussten, das ihnen die Polizei vermeintlich rechtswidrig ausgestellt hatte. Oder
      um irgendwelche Morde der Russenmafia – die waren meistens schnell
      aufgeklärt, weil irgendein Ivan wieder seinen Wutausbruch nicht unter Kontrolle
      hatte. Bei diesem Fall aber taten sich ungeahnte Abgründe auf. Abgründe, für die
      sich Gerst zu alt fühlte. Er wollte noch ein paar Jährchen sein Geld verdienen und
      dann mit 65 in Pension gehen. Seufzend griff er in die Süßigkeitenschale neben
      sich und nahm sich ein Bonbon. Als er das Bonbon aus seinem Papier schälte,
      dachte Gerst an seinen Arzt. Der würde ihm vermutlich wieder eine Predigt über
      seine ungesunde Lebensweise halten. Der Arzt hatte aber auch nicht den ganzen
      Tag mit lauter bizarren Menschen zu tun, von denen irgendwelche Reichsbürger
      noch die normalsten waren. Gerst las sich die Akte noch einmal durch, in der
      Hoffnung, etwas zu finden, das ihm bisher verborgen geblieben war.

      JVA, 29.11. 16:15

      „Herr Schmitt?“
      Alexander hob den Kopf von seinem Buch und sah den Justizbeamten an. Warum
      hatte er das Buch eigentlich mitgenommen? Um sich die Zeit in der Bahn zu
      vertreiben? Er hatte doch nur aus dem Fenster gestarrt und an Erna gedacht. An
      Erna und Edda. Edda, die angeblich von Erna ermordet worden war. Die Bilder,
      die ihm die Polizisten später vom Tatort gezeigt hatten, hatten ihn so nachhaltig
      verstört, dass er seither kaum ein Auge zugetan hatte. Er konnte noch immer
      nicht fassen, dass jemand seine arme, wehrlose Tochter ermordet hatte. Nur
      eine Sache wusste er ganz sicher: Erna war keine Mörderin. Irgendetwas
      Entsetzliches musste ihr zugestoßen sein. Irgendjemand hatte sie auf brutale
      Weise angegriffen und ihr das Undenkbare angetan. Dafür waren die Würgemale
      Beweis genug. Eine solche Verletzung konnte sie sich unmöglich selbst zugefügt
      haben. Aber weder Zeugen noch Überwachungskameras hatten irgendjemanden
      anderen außer Erna in diese dunkle Allee gehen sehen. Niemand hatte die Allee
      danach auch wieder verlassen. Auf diesen Indizien basierte die Anklage.
      Alexander aber wusste von Ernas übernatürlicher Herkunft. Dass sie eine
      gefallene Walküre war, war weder Polizei noch Justiz geläufig. Er kannte
      inzwischen genug alte Bekannte von ihr, um zu wissen, wie wenig aussagekräftig
      die Indizien in diesem Fall waren. Jeder einzelne von ihnen konnte sich vor
      Menschenaugen verbergen. Leider nutzte ihm dieses Wissen überhaupt nichts, da
      ihm niemand glauben würde, dass irgendwelche Trolle oder Riesen die wahren
      Täter waren. Man würde ihn für verrückt erklären und einsperren. Trotzdem
      hatte er begonnen, sämtliche Überlieferungen über Odin und Konsorten noch
      einmal systematisch zu studieren. Vielleicht verbarg sich darin ein Hinweis auf
      die wahren Täter?
      Diese Tätigkeit hatte zumindest den Vorteil, ihn von der grausamen Realität
      abzulenken. Und er war zumindest dahingehend beruhigt, zu wissen, dass Erna
      selbst ein Opfer war. Sie wäre zu einer derartigen Tat niemals fähig. Davon allein
      kam sie allerdings auch nicht frei. In den Augen des Staates war sie eine
      Kindesmörderin, die hinter Gitter gehörte. Aber da war noch etwas anderes. Erna
      ließ jegliche Trauer über den Verlust ihres Kindes vermissen, das sie sich so hart
      erkämpft hatte. Er hatte erwartet, sie verzweifelter zu sehen.
      Der Justizbeamte räusperte sich ungeduldig und Alexander schreckte auf.
      „Ich komme,“ sagte er hastig, packte das Buch ein und folgte dem Mann durch
      die Gänge des Gefängnisses bis zum Besucherraum.
      Erna wartete bereits an einem Tisch auf Alexander. Er sah in diesem Moment nur
      sie und blendete all die anderen Anwesenden vollkommen aus. Man ließ ihn zu
      ihr gehen und er nahm sie erst einmal wortlos in den Arm. Dann küsste er sie
      zuerst auf die Stirn und dann auf den Mund. Sie wirkte blass und verstört und
      noch dünner als er sie bisher kannte. Die Gesichtswunden heilten langsam,
      allerdings hatte sich an ihrer Lippe Schorf gebildet. An ihrem gebrochenen Arm
      hatte man einen sogenannten Fixateur externe angebracht, um den
      Heilungsprozess zu beschleunigen. Und dennoch fand er sie noch immer
      wunderschön.
      „Alexander!“ Ihre Augen leuchteten bei seinem Anblick und Alexander verspürte
      Hoffnung. Dann jedoch spürte er einen schweren Schlag in die Magengrube.
      „Yndit mitt!“
      Noch immer war ihre Sprache nicht zurückgekehrt. Noch immer war das, was sie
      sagte, vollkommen unverständlich. Er hatte zwar einen Verdacht, was sie sprach
      – aber auch das half ihm nicht weiter. Es gab auf der ganzen Welt keinen
      einzigen lebenden Sprecher des Altnordischen mehr. Und sämtliche Altnordisten,
      die er kontaktiert hatte, hatten dankend abgelehnt, behilflich zu sein. Sie hielten
      ihn für gänzlich verrückt.
      Erna griff verzweifelt nach seinen Händen und drückte sie. Tränen standen in
      ihren Augen.
      „Ek drepti Eddu eigi. Ek gerði þat eigi. Ek er saklaus.“
      Alexander strich über ihre Hände. Er konnte nur erahnen, was sie meinte.
      „Ich weiß, dass du sie nicht getötet hast,“ flüsterte er. Und dann: „Hilf mir, Erna.
      Hilf mir, dir zu helfen.“
      Sie sah ihn fragend an. Zwischen ihnen war ein Schleier. Die Erna, die er kannte,
      schien in einen ewigen Winterschlaf gefallen zu sein. Stattdessen war ein
      verstörtes Wesen an ihre Stelle getreten, das in Zungen sprach und das Eddas
      Tod kaltzulassen schien. Aber er wusste, die wahre Erna empfand anders. Und
      irgendwo verbarg sie sich!
      „Hjálpdu mér,“ flüsterte Erna. Sie zitterte.
      Alexander hatte lange nachgedacht. Und so hatte er heute etwas mitgebracht,
      das ihm auch die Justizbeamten nicht abgenommen hatten. Er legte einen Stift
      und einen Block vor Erna auf den Tisch.
      „Hvat er þat?“ Sie deutete darauf und sah ihn fragend an. Behutsam drückte
      Alexander Erna den Stift in die Hand. Es mochte niemanden mehr geben, der
      Altnordisch sprach. Aber es gab genügend Menschen, die es lesen konnten.
      Vielleicht konnte er der Sache auf diese Art und Weise näherkommen?
      Verständnis machte sich in Ernas Gesicht breit und sie ergriff den Block. Dann
      begann sie, in rasendem Tempo eine Reihe von Runen darauf zu malen. Als sie
      fertig war, gab sie Alexander den Block zurück. Das Papier war über und über mit
      Schriftzeichen bedeckt. Er konnte kein einziges davon entziffern.
      „Svartálfarnir tóku Eddu. Hon er eigi dauð,“ sagte Erna, nun etwas gefasster.
      „Barnit sem þau fundu var skiptingr. Hjálpdu mér at koma út og vit getum fundit
      Eddu hjá þau.“
      Alexander nickte nur. Dann steckte er den Block ein und umarmte seine Frau.
      „Wir lösen dein Geheimnis gemeinsam.“
      „Besuchszeit ist um!“, intonierte der Beamte.
      Alexander küsste Erna noch ein letztes Mal innig. Er merkte, wie sehr sie ihm
      bereits fehlte – ihre vertraute Wärme, ihr Geruch und auch ihr Körper. Er würde
      nicht zulassen, dass man sie hier verrotten ließ unter Mördern, Kinderschändern,
      Trickbetrügern und Drogendealern, die ihre Amphetamine an ihr nächstes Opfer
      verschachern wollten. Erna liebte die Menschen so sehr. Alexander konnte nicht
      zulassen, dass sie hier verdorben wurde.

      JVA, 29.11. 23:00

      „Erna?“
      Ein heller Schein erleuchtete die Zelle, aber die ehemalige Walküre namens Erna
      drehte sich lediglich in ihrem Bett um und zog die Decke über sich.
      „Erna, wach auf!“
      Als sie merkte, die Worte plötzlich wieder verstehen zu können, saß Erna
      senkrecht im Bett. In der Mitte ihrer Zelle war ein brennender Dornenbusch.
      „Wer bist du?,“ fragte sie zögerlich, als sie dessen gewahr wurde. Ein
      außenstehender Betrachter hätte „Hver ert þú?“ verstanden.
      Der Dornbusch zögerte und verwandelte sich kurz darauf in Odin.
      „Vater?“ Erna sah ihren Vater verwundert an.
      „Ich wollte einmal probieren, wie das wirkt,“ gab dieser ein wenig kleinlaut zu.
      „Ich hätte zumindest so nicht mit dir nicht gerechnet,“ sagte Erna. Sie wirkte
      traurig.
      Odin tat es leid, seine Tochter so leiden zu sehen. „Ich will dir helfen, so gut ich
      kann…,“ sagte er dann betreten. „Deshalb bin ich hier.“
      Erna streckte ihren Arm aus, sodass Odin die merkwürdige Schiene sah, die
      daran hing.
      „Wo warst du, als sie mir das antaten? Wo warst du, als sie mir Edda nahmen?“
      Tränen sammelten sich in ihren Augen.
      „Edda.“
      „Deine Enkeltochter.“ Erna setzte sich gerade hin und starrte zu Boden. „Es ist
      mir gleich, was sie mit mir tun. Ich bin Prügel gewohnt und diese Wunden
      werden heilen. Sie hätten mich totschlagen können. Aber sie haben mir mein
      Kind genommen.“
      „Du weißt, dass meine Macht nicht mehr so groß ist wie früher…“, setzte Odin an.
      „Ein Gott ist nur so stark wie die Zahl der Menschen, die an ihn glauben. Ich
      habe in dieser Welt fast keine Kraft mehr.“
      „Ich weiß es,“ unterbrach Erna ihn. „Aber schon wieder wurde ich in einen
      Konflikt hineingezogen, der mich nichts angeht. Sie haben mich eingesperrt wie
      eine gewöhnliche Mörderin. Und ich kann nicht einmal die Wahrheit sagen. Sie
      verstehen mich nicht mehr.“
      „Sie hätten dir nicht geglaubt.“
      „Wirklich? Kannst du mir die Sprache nicht trotzdem wiedergeben? Dann könnte
      ich wenigstens Alexander sagen, was passiert ist. Ich habe Angst, er hält mich
      für schuldig.“ Sie schluchzte.
      „Ich wünschte, ich könnte es,“ seufzte Odin. „Aber ich habe nicht länger Macht
      über dich. Schon gar nicht im Reich der Menschen. Das heißt nicht, dass ich dir
      nicht trotzdem beistehen kann. Aber ich weiß, dass Alexander an dich glaubt.“
      Wortlos trat Odin auf sie zu und legte seine schweren Arme um die zierliche
      Frau. Er legte seinen Kopf an ihren. Welch harter Haudegen er auch sonst sein
      mochte, Ernas Schicksal ließ ihn nicht kalt. Lange blieben Vater und Tochter in
      ihrer Umarmung.
      „Ich vermisse Alexander,“ schniefte Erna. „Und ich vermisse Edda.“
      Odin drückte sie einfach weiter an sich und strich über ihren Rücken.
      „Weine nicht, kleine Erna. Du bist stark.“
      Lange Zeit blieb Erna stumm. Endlich fand sie die Sprache wieder.
      „Ich bin nicht stark genug. Ich ertrage es nicht, dass mich die Schatten meines
      früheren Lebens immer noch verfolgen. Du hast mir versprochen, dass es nicht
      mehr vorkommt. Die Trolle respektieren das.“
      „Ich habe damit nicht gerechnet,“ sagte Odin leise. „Ich habe wirklich gedacht,
      du könntest deinen Frieden bekommen. Kannst du mir das glauben?“
      Erna nickte und schluckte die Tränen hinunter.
      „Und jetzt?“, fragte sie zaghaft.

      Ernas und Alexanders Zuhause, 30.11. 19:00

      Alexander konnte nicht fassen, was er da las. Er hatte diese E-Mail so sehnlichst
      erwartet, dass er bereits fürchtete, an Postangst erkrankt zu sein. Von dieser
      seltsamen Angststörung wurde vor einiger Zeit im Fernsehen berichtet. Er war
      nur vorübergelaufen, als Erna sich auf der Couch die Sendung angesehen hatte,
      Edda an ihrer Brust. Das waren glücklichere Tage gewesen. Betroffene fürchteten
      sich davor, Post bekommen. Und obwohl er auf Antwort wartete, fürchtete
      Alexander sich doch vor dem, was darin stehen würde. Als er den vertrauten
      Klingelton vernahm, der eine neue E-Mail verkündete, bekam er beinahe einen
      Herzinfarkt. Dann jedoch öffnete er sie zaghaft. Eine Professorin für Altnordistik
      hatte sich doch bereit erklärt, Ernas Notizen für ihn zu entziffern und ihm zu
      antworten. Aus irgendeinem Grund hatte das Bild auf der Institutshomepage ihn
      an seine kleine Walküre erinnert. Vielleicht hatte er sie deshalb angeschrieben.
      Nach einem netten Anschreiben war sie direkt zur Sache gekommen. Die Notizen
      lasen sich daraufhin immer leichter. Zwar bemerkte die Übersetzerin an einigen
      Stellen verwundert, was denn der Kontext der seltsamen Nachricht war, dennoch
      war ihr Inhalt von solcher Tragweite, dass Alexander den Text zweimal lesen
      musste. Er würde der Frau beizeiten antworten. Aber am wichtigsten war: Edda
      lebte! Der Rest klang so über die Maßen bizarr, dass er genau wusste, es war
      wahr.
      Ich bin
      unschuldig. Ich habe Edda nicht getötet und das Baby, das man
      zu meinen Füßen fand, ist nicht Edda. Kennst du die Geschichten
      von Wechselbälgern? Menschenkinder, die geraubt werden und
      durch Elfenkinder ausgetauscht werden. Ein solches lag tot vor
      mir. Schwarzalben haben mich überfallen. Ein Kind wie Edda, das
      zwischen den Welten wandelt, ist für sie von besonderer
      Bedeutung. Ich habe mich gewehrt, ich habe um Edda gekämpft,
      aber sie waren stärker als ich. Sie ließen ihr Wechselbalg
      zurück, aber es wurde im Gefecht getötet. Aber auch dieses Blut
      klebt nicht an meinen Händen. Hilf mir, Alexander! Hilf mir,
      Edda wiederzubekommen.

      In diesem Moment klingelte es an der Tür. Alexander schaute auf die Uhr. Er
      erwartete niemanden. Aber als es erneut klingelte, öffnete er doch.
      „Du musst ihr helfen, Schwiegersohn,“ sagte Odin ohne Umschweife und stiefelte
      in die Wohnung. Verdattert sah Alexander ihm nach, als er direkt auf das
      Wohnzimmer zuhielt, sich auf die Couch warf und Snickers aus der Schale auf
      dem Couchtisch griff. Alexander schloss die Wohnungstür und folgte Odin.
      „Was soll das?“, fragte er.
      „Willst du deine Frau nicht zurück?“, fragte Odin, schälte das Snickers und warf
      es sich am Stück in den Mund.
      „Ich will sie schon seit Tagen zurück. Aber wieder einmal haben du und deine
      Freunde uns das Weihnachtsfest versaut!“, schnaubte Alexander.
      Odin vertilgte drei weitere Snickers, bevor er mit vollem Mund antwortete.
      „Du weißt, dass Edda lebt.“
      „In den Händen von solchen Monstern, die Erna so misshandelt haben, dass sie
      noch immer die Spuren davon trägt. Wie soll sie jemals ein normales Leben
      führen, wenn immer wieder irgendwelche Gestalten auftauchen und ihr oder
      Edda ans Leder wollen?“
      „Hör mir zu, mein Junge,“ sagte Odin ungeduldig. „Glaubst du, mit mir hört alles
      auf? Es ist erst der Anfang! Es ist alles wahr, verstehst du? Alles. Aber ich
      habe meine Domäne. Ich kann mich um meine Feinde kümmern, aber nicht um
      andere Wesen. Edda wandelt zwischen den Welten. Das bleibt auch den anderen
      nicht verborgen. Denen, über die ich keine Macht habe.“
      Verzweifelt warf Alexander die Hände nach oben.
      „Das sind ja wunderbare Aussichten. Das heißt, so einmal im Jahr kommen
      irgendwelche Dschinns, Geister, Totems, Drachen, Dämonen und anderes
      Gesocks auf die Idee, Erna zu verprügeln oder Edda zu entführen? Das hält sie
      niemals durch! Das wird sie töten!“
      „Sie ist bereits einmal gestorben und hat es recht gut verkraftet,“ entgegnete
      Odin lapidar und vertilgte sein fünftes Snickers.
      Geschlagen ließ sich Alexander auf die Couch fallen.
      „Wie soll ich ihr da helfen? Ich bin ein einfacher Bankkaufmann.“
      „Nein, du bist ein Idiot,“ sagte Odin, zerknüllte die Snickerspapiere und krümelte
      sie auf den Boden.
      Alexander funkelte ihn wütend an, sagte aber nichts. Er hatte immerhin Odin vor
      sich sitzen. Angeblich war er der Gott der Weisheit. Und noch von irgendwelchem
      anderen Unsinn.
      „Verstehst du es wirklich nicht?“, fragte Odin nach einer Weile des peinlichen
      Schweigens.
      „Dass ich ein Idiot bin? Na ja, wer sich solch einen Schwiegervater aussucht, ist
      wahrhaftig ein Idiot. Vielen Dank für das Gespräch,“ erwiderte Alexander patzig
      und starrte Odin weiter an.
      „Mit dieser Aussage hast du es gerade bestätigt,“ sagte Odin und stellte traurig
      fest, dass es keine Snickers mehr gab. „Aber vielleicht muss ich es für euch
      Sterbliche ein bisschen einfacher formulieren. Erna. Was hältst du von ihr?“
      Alexander blinzelte mehrmals. „Das solltest du wissen.“
      „Sag es mir.“ Odin blieb unerbittlich.
      Alexander wand sich ein wenig und sank unter dem prüfenden Blick des einen
      Auges zusammen.
      „Sie ist rundum wunderbar.“
      Odin starrte ihn unvermindert an. „Du weißt, was sie für dich getan hat? Sie hat
      ihre Natur überwunden. Walküren geben sich keinen Männern hin und sie
      bekommen keine Kinder.“
      „Ich liebe sie sehr. Und ich würde alles für sie tun. Sie ist schön, sie ist lustig und
      sie ist voller Liebe und Neugier.“
      „Na bitte, mein Söhnchen. Geht doch!“ Jovial klopfte Odin Alexander auf die
      Schulter, der ihn verwirrt ansah.
      „Und was hat das jetzt gebracht?“
      „Deine Liebe für sie wird sie retten. Genau wie ihre Liebe für dich sie gerettet
      hat.“
      „Ist das so? Für mich hört sich das nach sentimentalem Unfug an. Sie sitzt im
      Gefängnis. Nur, weil ich sie liebe, kommt sie nicht magisch von dort fort.“
      Odin lachte.
      „Das ist richtig. Aber an dieser Stelle komme ich ins Spiel!“

      JVA, 30.11. 00:00

      Als ein greller Lichtblitz Erna dieses Mal aus dem Schlaf riss, war sie darauf
      vorbereitet. Darauf, wie viele Personen sich in ihre kleine Zelle drängten, war sie
      allerdings nicht vorbereitet. Odin hatte dieses Mal nicht nur Alexander
      mitgebracht, dessen Augen bei ihrem Anblick aufleuchteten. Er hatte auch zwei
      andere gute Bekannte im Gepäck. Die beiden Trolle Wumm und Wamm hatten
      sie vor einem guten Jahr erfolgreich ins Jenseits befördert. Hinterher hatten sie
      aber großes Bedauern über diese Tat geäußert und sich kurz darauf mit Erna und
      Alexander angefreundet. Für Edda waren sie ideale Patenonkel und Babysitter.
      Erna starrte Odin an.
      „Vater?“
      Für Alexander klang es wie „Faðir?“
      Gönnerhaft klopfte Odin seiner Tochter auf die Schulter.
      „Ich habe ein paar Freunde mitgebracht, die gerne dafür sorgen möchten, dass
      die Schwarzalben heute Abend ihre Henkersmahlzeit einnehmen.“
      „Ihr letztes Stündchen hat geschlagen!“, rief Wamm und schlug die Faust in
      seine andere Handfläche.
      „Können Stunden schlagen?“, fragte Wumm und bekam kurz darauf einen Schlag
      auf den Kopf.
      „Sei still!“
      Odin und die Trolle berieten kurz daraufhin eifrig, wie sie den Kindesentführern
      am effektivsten den Garaus machen konnten. Während Wumm einen Autounfall
      vorschlug, war Wamm eher für eine Bombe. Odin hingegen wollte es subtiler
      angehen.
      Erna wurde das Gespräch zusehends unangenehmer. Sie kauerte sich auf ihr
      Bett und hielt sich die Ohren zu. Egal, was man ihr angetan haben mochte, sie
      verabscheute Gewalt.
      Alexander bemerkte sofort, dass mit ihr etwas nicht stimmte und setzte sich
      neben sie. Dann zog er sie auf seinen Schoß und legte die Arme um sie. Er
      verstand zwar kein Wort von dem, was gesprochen wurde, erahnte aber den
      Unterton. So sah er seine Aufgabe darin, für seine Erna da zu sein, die sichtbar
      litt. Liebevoll streichelte er über ihren Rücken und Erna entspannte sich langsam.
      Dann geschah etwas Seltsames.
      Er spürte eine Wärme in sich und kurz darauf diese Wärme auch an Erna. Sie
      blickte ihn überrascht an, als sie dasselbe bemerkte. Odin sagte etwas für
      Alexander Unverständliches und unvermittelt küsste Erna ihn. Sie tat es lange
      und ausgiebig, innig und liebevoll. Das Gefühl der Wärme war nun noch
      intensiver und es erschien Alexander, dass er geradezu glühte und seine Frau in
      seinen Armen ebenso. Als Erna sich von ihm löste, war irgendetwas anders.
      „Ich danke dir,“ flüsterte sie und Alexander blinzelte verwundert.
      „Du… ich… ich kann dich verstehen?!“
      „Ich habe dir doch gesagt, dass du ein Idiot bist,“ bemerkte Odin spitz.
      „Lass das, Vater!“, empörte sich Erna.
      Odin zuckte mit den Achseln und schielte zu Alexander. „Hast du es immer noch
      nicht kapiert?“
      Ratlos blickte Alexander von Erna zu Odin und den Trollen. Erst jetzt fiel ihm auf,
      dass er auch die Trolle verstehen konnte.
      „Was ist geschehen?“ fragte er.
      Odin verschränkte die Arme. „Du bist wirklich ein begriffsstutziger Dödel.“
      „Vater!“ (Es klang immer noch ein bisschen wie Faðir.)
      „Na schön.“ Odin warf einen Seitenblick auf Erna, die ihn streng über ihre Brille
      ansah. „Hast du dich eigentlich nie gefragt, wie ihr Menschen bis heute überlebt
      habt? Götter kommen und gehen. Manche verlieren ihre Macht, andere treten an
      ihre Stelle.“
      „Hast du deine Macht auch verloren?“
      „Du merkst aber auch alles. Es reicht noch für ein paar Taschenspielertricks hier
      auf dieser Welt.“
      „Du hast aber letztes Jahr Erna von den Toten zurückgebracht. Ist das nicht eine
      große Tat?“
      In Odins Blick machte sich Verzweiflung breit über so viel Unwissen.
      „Ich habe Macht in meiner Domäne. Erna war in meinem Reich. Aber hier
      auf Midgard sind meine Kräfte begrenzt.“
      „Und was ist mit Edda? Nach allen Regeln dieser Welt dürfte es sie nicht geben.
      Trotzdem ist sie da.“
      Odin zuckte mit den Achseln. „Das war Lokis Werk. Er macht viele Dinge, die
      unerklärlich sind. Ich glaube aber, dass…“
      „Wann hauen wir jetzt endlich die Schwarzalben zu Mus?“, wollte Wumm
      ungeduldig wissen.
      „Gar nicht,“ sagte Erna bestimmt. Sie war in die Mitte getreten und in der Zelle
      wurde es nun wirklich langsam eng.
      Alexander sah sie erstaunt an.
      „Aber was ist mit Edda?! Wollen wir ihnen einfach unser Kind überlassen?!“
      „Nein.“ Erna war erstaunlich ruhig und gefasst. „Aber schaut euch doch an. Es ist
      kurz vor Weihnachten und alles, woran ihr denken könnt, ist Gewalt. Besonders
      ihr beiden solltet es inzwischen besser wissen.“ Jetzt versah sie die Trolle mit
      einem strengen Blick. Ertappt blickten beide auf ihre Füße und versteckten ihre
      Pranken hinter dem Rücken.
      Odin blieb der Mund offen stehen.
      „Ich habe Asgard und Hel in Bewegung gesetzt, um dich heute Nacht hier
      rauszuholen und Gerechtigkeit walten zu lassen und du willst nicht?!
      „Ich will Edda wiederhaben. Es gab keine Sekunde, in der ich nicht an sie
      gedacht habe. Aber hast du nicht etwas vergessen, Faðir? Du hast Alexander das
      Wichtigste nicht gesagt.“
      Odin schnaubte. Es schien beinahe, als wäre ihm Wumms Unterbrechung
      geradezu recht gewesen.
      „Söhnchen, die einzige Kraft, die auf dieser Welt noch irgendetwas bewirkt, ist
      die Liebe. Du warst es mit deiner Liebe zu Erna, der bewirkt hat, dass wir hier in
      ihrer Zelle stehen. Und du hast ihr die Sprache zurückgegeben. In der
      Vorweihnachtszeit wirkt diese Kraft besonders stark.“ Dann wandte er sich an
      Erna. „Zufrieden?!“
      Sie nickte. „Ja.“
      „Du hast diese Lektion vor mir gelernt, aber bilde dir ja nichts darauf ein. Du
      warst trotzdem eine miserable Walküre.“
      Erna zuckte mit den Schultern.
      „Dann ist es ja gut, dass ich einen Karrierewechsel vorgenommen habe.“
      „Aber wie hilft uns das alles jetzt?!“ fragte Alexander verwirrt. Er verlor langsam
      den Überblick.
      „Das will ich euch sagen!“ Erna stemmte einen Arm in die Hüfte. Der andere war
      ja fixiert. „Hass gebiert neuen Hass. Glaubt ihr auch nur für einen Moment, die
      Schwarzalben werden mich zufrieden lassen, wenn wir uns Edda mit Gewalt
      zurückholen?“ Sie zeigte auf die Trolle. „Vor einem Jahr wolltet ihr meinen Tod.
      Und jetzt sind wir Freunde. Wieso sollte das nicht auch bei anderen
      funktionieren?“
      „Sie hat Recht,“ murmelte Wamm und Wumm nickte zustimmend. „Freunde. Die
      Mini-Walküre schafft Freunde.“
      „Ich will zuerst mit ihnen reden,“ fasste Erna ihren Entschluss zusammen. „Es
      wird schließlich Weihnachten.“
      „Na schön,“ seufzte Odin geschlagen und zückte ein Gerät, das aussah wie ein
      Insulinpen. Damit öffnete er Ernas Zellentür und sie spazierten hinaus.

      Handelsbank, Büro des Chefs, 1.12. 02:00

      Robin Goodfellow lächelte und rieb sich die Hände. Alles lief genau nach Plan.
      Sein Herr und Meister würde zufrieden sein, sehr zufrieden. Das Baby neben ihm
      in seinem Bettchen schlief tief und fest. Robin hatte allerdings ein paar Tricks
      anwenden müssen, damit das kleine unselige Balg endlich Ruhe gab. Es hatte
      seit seiner Entführung nur gebrüllt und war nicht zu trösten gewesen. Aber jetzt
      schlief es und war leise. In diesem Zustand brauchte es auch keine Nahrung. Die
      Mutter war ausgeschaltet und der kleine Weltengänger gehörte jetzt ihnen. Ein
      solch wertvolles Kind bei einer so wertlosen Mutter zu lassen, war die wahre
      Schande, auch wenn es Robin leidtat, dass sie den Wechselbalg verloren hatten.
      Aber mit Verlusten war immer zu rechnen gewesen. Für ihre Statur hatte die
      Mutter gekämpft wie eine Löwin. Das hätte er dieser ausgehungerten
      Vogelscheuche gar nicht zugetraut. Aber all das war nun egal. Am Ende zählten
      die Ergebnisse und die Macht.
      Da flog die Tür zu seinem Büro auf und Robin fand sich der traurigsten
      Ansammlung von Gruselgestalten gegenüber. Keiner von ihnen hatte die Grazie
      eines Alben. Nicht einmal die ausgehungerte, verhärmte Frau, die sie anführte.
      Robin musste blinzeln. Diese Krähe war die Mutter des Babys. Und im Gegensatz
      zu all den ahnungslosen und dummen Menschen, die tagein und tagaus in sein
      Büro kamen, wusste er – sie würde das Baby sehen können. Tatsächlich hielt sie
      einen Moment inne und eilte dann auf das Bettchen zu.
      „Edda!“, rief sie.
      Robin setzte ein falsches Lächeln auf. „Guten Abend, womit kann ich Ihnen
      dienen?“
      Hinter der Frau kamen zwei dümmliche Trolle, ein wertloser Sterblicher und…
      Odin persönlich in das Büro.
      „Ich will meine Enkeltochter zurück!“, knurrte Odin. „Wir wollen die Mini-Walküre
      wieder!“ riefen die Trolle im Chor und das mickrige Männchen eilte ebenfalls an
      die Wiege.
      Die Frau kniete sich zu dem Kind hinunter und streichelte seine Stirn. Sie konnte
      es aber nicht hochheben, da sie nur einen gesunden Arm hatte. Stattdessen
      holte das Männlein das Kind heraus und brach damit den Zauber, der es am
      Schlafen hielt. Es erwachte und brüllte. Robin hätte sich am liebsten die Ohren
      zugehalten.
      Die beiden versuchten eine Weile, das Kind wieder zu beruhigen, indem sie leise
      auf es einredeten, es küssten und der Mann es in seinen Armen wiegte.
      Irgendwann hörte das Gebrülle auf.
      „Da ihr das Kind jetzt habt, gibt es wohl nichts mehr zu sagen,“ säuselte Robin
      und wurde kurz darauf von sechs Augenpaaren feindselig angefunkelt. Nur die
      Eltern kümmerten sich um das Kind.
      „Wenn es nach uns ginge,“ sagte der eine Troll. „Dann lägst du jetzt da unten auf
      der Straße für das, was du Erna angetan hast.“
      „Und was hindert euch daran?“, fragte Robin patzig.
      „Erna,“ riefen die Trolle im Chor. Alle Augen wanderten zur Mutter. Auch Robin
      starrte sie an.
      Diese Frau musste die armseligste Walküre sein, die Robin jemals gesehen hatte.
      Sie war dürr, kurzhaarig und kurzsichtig. Aber seine Quellen hatten ihm
      zuverlässig davon berichtet, dass sie eine von Odins Töchtern war. Dessen
      Anwesenheit bestätigte das nur. Und doch… in dem Moment, als Robins und ihre
      Blicke sich trafen, erstarrte der Schwarzalb. Er hatte noch nie einen so starken
      Willen gesehen.
      Sie trat auf ihn zu – die Spuren ihres Scharmützels noch immer deutlich zu
      sehen, ihr rechter Arm hing schlaff nach unten.
      „Warum hast du mir Edda genommen?“, fragte sie und es lag weder ein Vorwurf
      noch Hass in ihrer Stimme. Sie wollte es einfach wissen.
      Robin zuckte die Schultern und grinste ein blütenweißes Lächeln.
      „Weil sie ein Weltengänger ist,“ sagte er dann. „Solche Kinder sind selten und
      wertvoll. Wenn alles gut gegangen wäre, hättest du den Tausch nicht einmal
      bemerkt.“
      „Und was soll jetzt geschehen?“, fragte sie weiter.
      Die Trolle schlugen unisono ihre Fäuste in die Handflächen.
      „Du wirst dich sicher rächen wollen,“ sagte Robin tonlos.
      „Nein. Rache gebiert weitere Rache. Ich will nichts weiter, als in Frieden mit
      meinem Mann und Kind leben.“
      Robin lachte. „Du weißt, wir werden es erneut versuchen.“
      „Darf ich jetzt?“, knurrte Wumm.
      Die Frau zeigte keine Regung. „Warum?“
      „Weil es unsere Natur ist,“ sagte Robin und fand, das war Erklärung genug.
      „Ich habe meine Natur geändert, die Trolle haben ihre Natur geändert, warum
      nicht auch du? Ich kann gute Freunde brauchen, die sich um mein Kind kümmern
      und ihm Dinge zeigen, die es als Weltengänger wissen muss. Aber ich möchte
      nicht in ständiger Angst um Edda leben.“
      Die Trolle funkelten bedrohlich.
      „Was schlägst du vor?“ Langsam bröckelte Robins arrogante Fassade und seine
      Verachtung für die Walküre schwand. Wie machte sie das?
      „Warum müssen wir Feinde sein? Warum möchtest du mich verletzen und meine
      Tochter nehmen? Kannst du nicht ein Einfluss sein, ohne Gewalt und Tod?“
      „Du… du willst, dass wir Freunde werden?“, stammelte Robin. Das war das
      absurdeste, was er jemals gehört hatte. Die anderen Anwesenden schienen das
      ähnlich zu sehen. Andererseits war das Glasfenster hinter ihm hoch oben und die
      Trolle schienen weniger Skrupel zu haben.
      „Warum nicht?“, fragte die Walküre. Das Baby war inzwischen von sich aus
      eingeschlafen. Seine Eltern hatten binnen Minuten geschafft, was Robin nur mit
      Tricks gelungen war.
      „Weil es das noch niemals gab?“, hakte Robin unsicher nach.
      „Es hat auch noch keine Walküre jemals zuvor ein Kind bekommen,“ rief das
      Männlein. Und Odin rief gar: „Die Zeiten ändern sich!“
      Robin stand hinter seinem Schreibtisch auf und trat auf die Walküre zu. Je näher
      er kam, um so weniger hässlich fand er sie. Ihre Schönheit kam von innen.
      Wortlos griff er nach ihrem verletzten Arm und drückte ihre Hand. Nach kurzer
      Zeit fiel der Fixateur ab – der Arm war nicht länger gebrochen.
      „Einverstanden,“ flüsterte er, immer noch unsicher. Und dann: „Darf ich sie
      einmal halten?“
      Die Walküre nickte und der Mann gab Robin das schlafende Kind. Dieses Mal
      wachte es nicht auf, sondern blieb friedlich. Sie testete dann ihren verheilten
      Arm.
      „Danke,“ sagte sie und Robin nickte.
      „Ich habe zu danken!“

      Amtsgericht, 5.12. 16:05

      Verwirrt schloss Jonas Gerst die Akte der Kindsmörderin. Das vermeintlich tote
      Kind war aufgetaucht und damit war auch die Grundlage für eine Anklage
      hinfällig. Sie kam pünktlich vor Weihnachten aus der Untersuchungshaft nach
      Hause. Und irgendwie freute ihn das.
      I wasn't playing baseball, no!
      I wasn't playing football, no!
      I wasn't playing basketball, noo!
      I was playing Class War!

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    • pondos Kein Schnaps der Welt

      Kein Schnaps der Welt



      Du hast Wunden und Narben
      Durch's Leben getragen
      Wie die meisten auch
      Nur schlechter versteckt

      An einem Montagnachmittag saß Madeleine in Raum 113, der Rumpelkammer unter den Klassenräumen im Oberstufentrakt des Lüdenscheider Gymnasiums, und wartete. Sie starrte ihre von Spliss geplagten Haarspitzen an und kochte innerlich. Es durfte doch nicht wahr sein, sie hatte Nachsitzen bekommen, Nachsitzen! Sie! Sie war Kurssprecherin ihres Bio-Leistungskurses, sie hatte sich so häufig schon für Schulprojekte engagiert, und trotzdem hatte Konrektor Breitkopf sie ohne mit der Wimper zu zucken zum Nachsitzen verdonnert.
      Ja, sie hätte nicht zurückschlagen dürfen, das wusste sie. Trotzdem war es nicht von ihr ausgegangen! Ülüsü hatte den Englischunterricht geschwänzt. Ülüsü hatte im Keller des Oberstufentraktes Kaffee getrunken und gekickert, als Madeleine das dortige Klo aufgesucht und sie gesehen hatte. Hatte sie eine Wahl gehabt? Nein. Also hatte Madeleine ihr gesagt, dass sie das melden müsse, dass ihr nichts anderes übrigbleibe. Dass Ülüsü sich ohnehin aufgrund ihres Hintergrundes genug gute Noten erschleichen würde. Und als Madeleine ihr anschließend den Rücken zugedreht hatte, um wegzugehen, hatte Ülüsü sie geschubst und sie war gestürzt. Was hätte sie tun sollen? Sie war aufgestanden und hatte dem Mädchen die Schminke aus dem Gesicht gepfeffert. In dem Moment war nur leider Konrektor Breitkopf eingetreten. »Prügelei? Nachsitzen, alle beide. Doch getrennt voneinander, ich habe den Eindruck, zwischen Ihnen gibt es bereits genug Spannungen«, hatte er trocken festgestellt und sich ihre Namen aufgeschrieben. Konrektor Breitkopf war auch einer dieser Anhänger linksgrün-versiffter Doktrinen, von falscher Gleichmacherei.
      Jetzt saß sie hier. Trübes Nachmittagslicht fiel durch die schmutzigen Scheiben herein, ihre Finger trommelten auf dem Tisch. Die Blätter auf den Bäumen vorm Fenster würden sich bald verfärben. Es war nicht gerecht, verdammter Mist. Es ging ihr sowieso schon beschissen genug. Unbewusst zog sie das große Tuch fester um ihren Hals. Sie versank in ihre Gedanken, während ihre Finger jetzt wieder über ihre Haarspitzen strichen. Vielleicht hätte sie ihre Haare nicht so häufig färben sollen, doch sie hasste es, wenn der Scheitel in ihrem blondgefärbten Haar sichtbar wurde. Sie musste also schon wieder zum Friseur. Doch wann bitteschön sollte sie dafür die Zeit finden? Sie musste zu Hause ihre Pflichten erfüllen, Pauls Eltern helfen, und beim Gedanken an ihren Lernplan fing sie innerlich etwas an zu zittern. Wenn sie kein gutes Abi machte, dann … Und sie hatte noch so viel zu erledigen, sie ging doch jetzt schon auf dem Zahnfleisch. Dieses Nachsitzen war komplett sinnlos; dass es das überhaupt noch in der zwölften Klasse gab!
      Die Tür ging auf und Frau Dornenbusch kehrte zurück. Und o Scheiße, sie hatte Gaby im Schlepptau – die genervt dreinblickte, innehielt, als sie Madeleine sah und daraufhin noch genervter mit den Augen rollte. Offenbar musste sie auch nachsitzen. Gaby setzte einen ihrer schweren Boots vor den anderen und schwang sich derart ungestüm auf den Stuhl am Tisch neben ihr, dass ihre Ketten und Schnallen klimperten, die sie an Hose, Jacke und an ihrer zerschlissenen schwarzen und mit zahlreichen Patches zugenähten Umhängetasche trug.
      »Gut, also«, sagte Frau Dornenbusch. »Wir werden den Nachmittag hier zusammen verbringen, Sie wissen beide, dass Sie bis 18 Uhr dableiben müssen. Sie können Ihre Hausaufgaben bearbeiten, ich werde Klassenarbeiten korrigieren. Wenn Sie fragen haben, fragen Sie mich gerne. Da wir heute unter uns und Sie nicht in meinem regulären Unterricht sind, können Sie mich Elke nennen.«
      Madeleine betrachtete sie abschätzig. Sie war eine Frau Mitte der Fünfzig, übergewichtig und sie roch immer nach Schweiß. Doch in der Schülerschaft war sie beliebt, sie war fair und verstrahlte eine Art feierlichen Ernst. Sie war verlässlich, eine herzensgute Frau, so sagte man.
      Das konnte man von Gaby nicht sagen.
      Gaby war weder beliebt noch war sie verlässlich. Gaby mit ihrem dunklen Teint lief immer schwarz geschminkt und mit abgeranzten, schwarzen Sachen herum, trug eine Lederjacke, hatte sich die Haare an den Kopfseiten abrasiert und das übrige Haar mal blau, mal grün und mal rot gefärbt. Aktuell waren sie pink. Sie war eines dieser Gossenkinder geworden, die vorm Bahnhof herumhingen, Fusel und Billigbier tranken und Leute anschnorrten. Wie die letzten Säue. Madeleine wusste nicht, wie das hatte geschehen können, sie waren schließlich einmal Freundinnen gewesen. Sie kamen beide aus Junkersdorf, einem Eintausend-Seelen-Dorf im Umland von Lüdenscheid, und ihre Freundschaft hatte immerhin von der ersten bis zur zehnten Klasse gehalten. Sie hatten sich im Blockflötenunterricht kennengelernt, doch dann hatte viele Jahre später eine Posse um einen Jungen sie entzweiht. Gemessen an dem, was Gaby seitdem widerfahren sein musste, tat Madeleine das immer noch leid. Man brauchte einen ordentlichen Kerl an der Seite.
      So wie ihren Paul.
      Allerdings war Paul auch … Sie nestelte an ihrem Halstuch herum, während sie durch die alten Erinnerungen glitt.
      In den Sommerferien zur zehnten Klasse hin waren sie beide, Madeleine und Gaby, jeden Tag im Junkersdorfer Freibad gewesen, und sie beide hatten sich insgeheim in denselben Jungen verknallt: Paul, den Aushilfsbademeister, der zwei Jahrgänge über ihnen war. Zwischen Madeleine und Paul hatte es in dieser Zeit kleine, von Gaby nicht bemerkte Sommerflirts gegeben, und auf der Dorfkirmes dann, die alljährlich im Frühherbst stattfand, hatten sie sich alle sehr betrunken und, nun, Madeleine war an diesem Abend mit Paul zusammengekommen. Von einem Tag auf den andern hatte Gaby nicht mehr mit ihr gesprochen, sie hatte den Kontakt, nein ihre ganze Freundschaft einfach abrupt beendet. Erst zwei Monate später hatte Madeleine sie das nächste Mal wiedergesehen – ohne dass Gaby mit ihr geredet hätte. Gaby war plötzlich mit Glatze herumgelaufen und hatte sich in zerfetzten Klamotten gezeigt. Sie hatte die Enttäuschung in der Liebe offenbar nicht gut verwunden und Madeleine wusste natürlich, dass Gaby aus einer schlechten Familie kam. Ihre Mutter war alkoholkrank, ihr Vater war ein Marokkaner. Das musste den übrigen Einfluss gehabt haben.
      Gaby riss sie aus ihren Gedanken. »Wie es dir geht, hab ich gefragt?« Gaby sah sie stirnrunzelnd an.
      »Ganz gut«, antwortete Madeleine so freundlich, wie sie konnte. Gaby lächelte sie verhalten mit ihrem Bullenring-Piercing an. Sie sah schlimm aus.
      Ohne aufzuschauen, schaltete sich Frau Dornenbusch ein. »Kein Gequatsche, Mädels. Nachsitzen soll eine Strafe sein, kein Vergügen.« Sie sagte es seelenruhig und korrigierte ebenso weiter.
      Also widmeten sich Gaby und Madeleine ihren Hausaufgaben.
      Nach einer Viertelstunde jedoch fluchte die Lehrerin. »Scheiße, Mädels, ich meine, das habt ihr nicht gehört. Jedenfalls, ich muss etwas kopieren gehen, das dauert einen Moment. Ihr macht weiter eure Arbeit, verstanden?«
      »Selbstverständlich, Frau Dornenbusch«, sagte Madeleine.
      »Na klar, Elke«, sagte Gaby und nickte ihr zu.
      Als Frau Dornenbusch den Raum verlassen hatte, grinste Gaby Madeleine süffisant an und spottete: »›Selbstverständlich, Frau Dornenbusch‹, Mann Mäddi, du müsstest dich mal hören.«
      »Bist du neidisch darauf, sich ausdrücken zu können?«, fragte Madeleine spitz. Früher hatte Gaby sie schon immer wegen ihrer angeblichen Hörigkeit aufgezogen.
      »Ja, schon«, sagte Gaby ernst. »Aber auf wirkliche Eloquenz und nicht auf steifes Nachplappern.«
      Madeleine seufzte. »Von mir aus.«
      Sie arbeiteten eine Weile vor sich. Dann schob Gaby ihre Mappe in die Tasche, lehnte sich zurück und spielte mit ihrem Kuli herum und drückte dabei den Druckknopf immer wieder.
      »Ist ja schön, wenn du schon fertig bist, aber kannst du das bitte sein lassen?«, fragte Madeleine genervt.
      »Ich bin noch nicht fertig, aber das muss reichen. Du warst doch selber immer schnell mit den Sachen, was hast du denn am Wochenende gemacht? Nichts vorbereitet?«, fragte Gaby. Sie grinste schon wieder. »Machst du doch sonst bestimmt immer.«
      Gaby hatte zwar Recht damit, aber an dem Wochenende hatte sie nichts geschafft. Es war ein furchtbares Wochenende gewesen. Sie sagte: »Nein, hab ich nicht. Und du, du warst wahrscheinlich das ganze Wochenende auf Assi-Tour, hm?«
      »Ach, wenn du’s so nennen willst. Wir sind ans Meer gefahren, Claudi, Gwendoline, Johnny und ich. Das war echt super!«
      »Schön für dich.«
      »Ja, wir waren auf einem Konzert im JuZI, wollten danach eigentlich nur in die Kneipe und haben spontan beschlossen, nach Norden zu trampen, ans Meer zu fahren. Noch in der Nacht sind wir los. Die zweite Nacht haben wir in einer Jugendherberge gepennt und sind dann mit der Bahn zurück. War super.«
      Madeleine blickte jetzt doch auf. »Wieso?«
      »Wie, wieso? Uns hat halt das Reisefieber gepackt. Weil’s schön ist. Weil’s das Meer ist.«
      »Na ja, die Nordsee. Und die Tickets zurück habt ihr geschnorrt oder was?«
      »Bist du bescheuert? Nein.«
      »Hängst du da nicht vorm Bahnhof mit den Assis ab?«
      »Vielleicht hab ich da mal mit ’nem Kumpel ein Bier getrunken, aber nein, ich schnorre nicht.«
      Gaby mochte das sagen, aber Madeleine wusste es besser. Und dann war sie auch noch mit diesem Johnny unterwegs gewesen, der sich überall als ›Rock’n’Roller‹ gab und zentnerweise Pomade im Haar trug, und Claudia, die so in ihren Hund vernarrt war wie sonst niemand. Gwendoline kannte sie nicht, doch hatte die bestimmt auch ihr asoziales Geheimnis.
      »Und was hast du so am Wochenende gemacht?«, fragte Gaby.
      Madeleine sah auf und sah wieder weg.
      Das konnte sie ihr wohl schlecht sagen. Sie konnte es sich ja selbst nur schlecht erklären.

      Samstagnacht waren sie in der Dorfkneipe gewesen, sie, Paul, Sascha, Henning, Sergej und Sabine. Das war nicht ungewöhnlich, das waren sie ständig. Sie hatten Würfelspiele, Dart und Billard gespielt und einiges getrunken, und das war auch schön gewesen. So wie immer. Und als sie schließlich alle betrunken waren und keine Konversation mehr stattfinden konnte, die immergleiche Musik aus der Jukebox lief, fielen sich die Kerle in die Arme, hielten sich für die Partylöwen Nr. 1 in der Stadt und gröhlten zu den Onkelz mit, auch so wie immer. Auf gute Freunde, Terpentin, Nur die besten sterben jung, Mexiko natürlich, und so weiter. Sie stimmte bei manchen Liedern mit ein, doch hielt sich sonst eher etwas zurück. Die Jungs übertrieben es manchmal mit ihrer rabiaten Art; sie boxten sich, schlugen sich gegenseitig auf den Rücken und beim Zuprosten ihre Bierflaschen aneinander. Sie hatte schon zu oft eine Bierdusche abbekommen, nein danke. Aber es war da noch nett gewesen. Doch als Sergej schließlich gegen vier Uhr die Kneipe schließen wollte, zogen sie weiter zu Saschas Privatbar. Auch das war nicht ungewöhnlich. Er hatte in seinem Schuppen einen langen Tresen gezimmert und den ganzen Raum schön ausgestaltet. Doch sie mochte Sascha nicht so wirklich und sie ging immer nur ungern zu ihm mit. Ständig fabulierte er darüber, was sie als Freundin von Paul zu tun und zu lassen hatte, und auch wenn Paul es nicht zugeben mochte, ließ er sich doch von Sascha und seinen klaren Positionen beeindrucken.
      Sascha war fünf Jahre älter als sie und war seit seinem Schulabbruch arbeitslos gewesen, bis er den Tischlereibetrieb seines Vaters übernommen und darin sein Handwerk gefunden hatte. Er war ein großer, grobschlächtiger und kampfsportbegeisterter Kerl. Außerdem neigte er dazu, die ganze Gruppe mit seinen politischen Statements aufzupeitschen. Bei ihm lief immer die etwas härtere Musik, die die Jungs noch mehr aufstachelte, Landser, Sleipnir, Frontalkraft, heimatverbundene Musik eben, wie Sascha sie nannte und was die anderen auch etwas übertrieben oft betonten. Sie mochte da die Onkelz schon lieber. Madeleine hatte außerdem keine Lust, mit zu Sascha zu gehen, weil die Trinkerei dann meist bis zum Mittag des nächsten Tages ging. Doch Paul bestand darauf, dass sie mitkam, und mit ein, zwei weiteren Absackerbierchen hatte sie eigentlich kein Problem, sie trank schließlich auch gerne. Doch so lange?
      Bei Sascha angekommen saßen sie am Tresen, tranken Rum-Cola und hörten Musik, ganz wie erwartet. Nach einer Weile sah Madeleine, wie Paul mit etwas glasigem, aber strahlendem Blick mit Sascha vom Klo kam.
      »Alles okay mit dir?«, fragte Madeleine.
      »Natürlich!«, rief Paul viel zu laut.
      O nein, dachte sie, sie hatten wieder gekokst. Sie hasste es.
      Als es 13 Uhr war, verabschiedeten sie sich endlich von Sascha und gingen in eigenartig stiller Eintracht nach Hause, in ihre gemeinsame Wohnung in Pauls Elternhaus. Madeleine wollte nur ins Bett, doch Paul war immer noch ungemütlich wach.
      »Hey Madi, was soll das?«, rief er ihr zornig zu, als sie sich ihre Schlafsachen anzog.
      »Ich will ins Bett, was denkst’n du? Ich bin müde.«
      »Und ich will, dass du mir was zu Essen machst. Es ist Zeit fürs Mittagessen.« Paul saß im Unterhemd am Küchentisch und blickte sie auf einmal so feindselig an, wie er es selten getan hatte.
      Dieses beschissene Koksen. »Nein«, sagte sie, etwas verzagt.
      Paul schmiss eine Zeitschrift vom Tisch zu Boden, stand auf und ging mit festem Schritt zu ihr. Madeleine war zu müde und zu erschrocken, um zu reagieren. Er packte sie am Hals und drückte zu. »Ich will – dass du – mir Essen machst. So wie es sich gehört. Hast du mich verstanden?« Madeleine keuchte, als er sie losließ.
      Also hatte sie ihm ein Omelette mit Speck gebraten.
      Doch ihr Hals schmerzte noch immer.

      Madeleines Blick kehrte zu Gaby zurück. »Wir waren im Dorfkrug. Nichts Spektakuläres«, sagte sie abweisend.
      »Mhm. Mit deinen Nazifreunden?« Gaby blickte sie konzentriert an.
      Gaby ließ nicht locker. Was wollte sie denn? Madeleine sagte: »Es sind keine Nazis, es sind Patrioten. Das ist ein himmelweiter Unterschied.«
      »Patrioten, na klar. Und heute hast du Ülü verpfeifen wollen. Wieso?«, fragte sie.
      Wieso, wieso. Schwänzen ging halt nicht, das galt für jeden, für sie selbst doch auch! Gaby und sie hatten seit zwei Jahren kaum drei Worte gewechselt, und jetzt war Gaby in der totalen Quatschlaune oder wie? Der Ärger fraß sich in sie herein. Es gab nun einmal Regeln! Das gefiel ihr doch auch nicht immer! Was wollte sie denn von ihr? »Weil Noten gerecht verteilt werden sollen, und wenn sie auf krank macht, es aber nicht ist, erschleicht sie sich einen Vorteil, ist doch klar«, sagte sie knapp.
      »Pff. Aber selbst wenn es so wäre, was interessiert es dich? Deine Noten werden dadurch doch weder besser noch schlechter?«, fragte Gaby und legte klimpernd ihre Füße auf den Tisch. Trotz dessen sah sie ehrlich interessiert aus.
      »Nein, aber«, Madeleine ärgerte sich, dass Gaby es mit so einer Leichtigkeit schaffte, sie zu provozieren. » Es geht um’s Prinzip! Das ist doch das Gleiche, als würde jemand in der Innenstadt parken, ohne sich einen Parkschein zu kaufen. Die Stadt, die die Infrastruktur bezahlt und in Ordnung hält, wird um ihre Mittel gebracht. Da ruft man ja auch das Ordnungsamt.«
      »Da ruft man ja auch das Ordnungsamt? Bist du bescheuert?« Gabys Füße rutschten mit einem Knall auf den Boden. »O Mann Mäddi, ich wusste gar nicht, dass du so’n Dachschaden hast. Das macht man überhaupt nicht! Nazis von der AfD machen das vielleicht, aber sonst keiner.«
      Madeleine fuhr sich aufgebracht durch die Haare. »Dir fällt auch nichts außer der Nazikeule ein. Das sind keine Nazis in der AfD, und überhaupt, auch bei den Nazis war nicht alles schlecht.« Madeleines Wangen glühten.
      »O Shit, lass das bloß nicht die Elke hören«, sagte Gaby kalt und wandte sich ab.

      Sie redeten kein Wort mehr, bis Frau Dornenbusch wiederkam. Als diese ihnen erklärte, dass sie doch früher nach Hause gehen konnten – der Kopierer sei kaputt, sie müsse sich darum kümmern und habe deshalb keine Zeit, die Mädchen zu beaufsichtigen –, schnappten sie jeweils entnervt ihre Sachen. »Glück gehabt«, sagte Frau Dornenbusch schelmisch und scheuchte die beiden hinaus.
      Sich ignorierend gingen sie nebeneinander her nach draußen. Beim Hinausgehen aus der Eingangspforte blieb Gaby jedoch abrupt stehen, als sie nach ihren Zigaretten kramte, und Madeleine, die direkt hinter ihr aus der Tür ging, stolperte in Gaby hinein. Die Pforte schwang dicht hinter ihr zu, sodass ihr Halstuch sich in der Tür verklemmte und, als sie zur Seite taumelte, es von ihrem Hals gezogen wurde.
      »O Scheiße, sorry«, murmelte Gaby mit einer Zigarette auf den Lippen und hob mit Feuerzeug und Zigarettenschachtel in den Fingern entschuldigend die Hände.
      Madeleine drehte sich hektisch um und befreite ihr Tuch aus der Tür. Gerade, als sie es sich wieder umbinden wollte, schnellte Gabys Hand vor und hielt es fest. Ihr fiel die Kippe aus dem Mund. »O … Scheiße.«
      Sie trat seitlich auf Madeleine zu, riss ihr jetzt das Tuch aus der Hand und starrte ihren Hals an. »Was ist denn das?« Sie zeigte auf die Würgemale, die Madeleine den ganzen Tag verborgen hatte.
      Madeleine riss ihrerseits das Tuch aus Gabys Händen und warf es sich wieder um den Hals. »Nichts!«, zischte sie und wollte schon weitergehen, als Gaby sie am Arm festhielt. Langsam drehte sich Madeleine wieder zu ihr.
      »Scheiße Mäddi, wer war das?« Gaby sah sie eindringlich an. »Rede mit mir, das sind üble Quetschwunden! Irgendwer aus dem Dorf? Oder war das etwa – Paul?«
      Es war das erste Mal seit der Kirmes vor zwei Jahren, dass der Name ihres Freundes zwischen Gaby und ihr fiel. Der Name des Kerls, in den sie beide verschossen gewesen waren. Madeleine fühlte sich überrumpelt, ihr wurde etwas schwindling. »Wie kommst du gerade auf ihn?«
      Gaby hob ihre Zigarette wieder auf, steckte sie sich an und ging rückwärts einen Schritt von ihr zurück, um sich mit Po und Händen auf das Metallgeländer einer Treppe abzustützen. »Das ist wohl ein Ja. Kann ich dir sagen, mein Schatz, ich hab Augen und Ohren und wohne auch in Junkersdorf, schon vergessen?«
      Madeleine zog intuitiv das Tuch fester um ihren Hals. »Na und?«
      Gaby sah auf einmal aggressiv aus. »Na und! Ich kenne das Pack gut, mit dem du rumhängst. Deine ganzen Scheißfreunde jagen uns Punks doch, wo sie uns sehen! Was meinst du, wie oft ich schon rückwärts aus dem Stadtbus wieder raus bin, wenn ich Sascha oder Flo oder auch deinen lieben Scheißfreund Paul drin gesehen habe. Als ich vor ein paar Wochen heimgelaufen bin, weil ich nicht in den Bus eingestiegen bin, haben mir Sascha und Henning aufgelauert und hätten mich verdroschen, wenn die alte Lilo Meier nicht aus ihrem dunklen Erkerfenster Steine auf die Jungs geschmissen hätte!«
      Madeleines Wangen erhitzten und ihre Stimmte überschlug sich, als sie sagte: »Die würden doch nie ein Mädchen verprügeln! Schon gar nicht Paul!«
      »Nie ein Mädchen verprügeln? Ach ja, und was ist dann mit deinem Hals?« Gaby stieß sich vom Geländer ab, kam auf sie zu und krempelte ihren rechten Ärmel hoch. »Die haben mich schon mehr als einmal verprügelt. Und andere! Hier, da«, Gaby zeigte ihr ihren nackten rechten Arm, »da siehst du noch die Narben von einem besonders schönen Abend, an dem sie es witzig fanden, mir nahe der Pulsadern mit den Scherben einer Bierflasche die Haut aufzuschneiden, deine guten Freunde, denen doch Ehre und Treue immer so wichtig sind!« Sie krempelte ihren Ärmel wütend wieder hinunter und drehte ihr den Rücken zu.
      Madeleine starrte noch auf die Stelle, wo Gabys Arm sich gerade noch befunden hatte. »Ich hatte geglaubt – ich dachte, du würdest dich ritzen?«, sagte sie verwirrt.
      Gaby drehte sich wieder um und funkelte sie böse und höhnisch grinsend an. »Mäddi, dass du so dämlich und dummdreist bist, hätte ich nicht gedacht, trotz allem. Und was damals bei der Kirmes passiert ist, hast du auch wahrscheinlich einfach vergessen, was? War einfach egal, hm?«
      »Ich … ich weiß wirklich nicht, was du meinst«, sagte Madeleine und meinte es auch so. Gaby war doch diejenige, die nicht damit hatte umgehen können, dass Paul sich für sie, Madeleine, entschieden hatte.
      »Dein Scheißernst?«, fragte Gaby. »Weißt du was, fick dich. Mich geht das ja alles nichts an. Ciao.« Sie nahm ihre Tasche vom Boden, drehte sich zur Straße und ging.
      Madeleine starrte ihr einen Moment hinterher und fuhr sich abwesend mit ihren Fingern über die Male am Hals, dann lief sie ihr nach und rief: »Warte!« Als Gaby nicht anhielt, rief sie nochmal, diesmal selber wütend: »Scheiße, jetzt warte doch mal!«
      Gaby hielt inne, doch drehte sich nicht um.
      Als Madeleine Gaby an der Straße unter einer Pappel eingeholt hatte, holte sie auch ihre eigene Bitternis ein. Sie fasste Gaby an der Schulter und drehte sie zu sich. »Nein, ich weiß nicht, was bei der Kirmes sonst gelaufen ist, nichts außer dass Paul und ich rumgeknutscht haben und du offenbar so kindisch beleidigt warst, dass du weggerannt bist. Mir tut’s ja sehr leid, dass dich das offenbar so fertiggemacht hat, und ich hätte dir vielleicht schon vorher sagen können – ja, sagen sollen –, dass Paul und ich im Freibad vorher bereits geflirtet hatten, wenn du nicht da warst, aber deswegen die eifersüchtigte, trauernde, beleidigte Mistwurst zu spielen? Mit mir nie wieder zu reden? Mir mein Glück nicht gönnen zu können?«
      Gaby schlug ihre Hand beiseite. »Dir dein Glück nicht zu gönnen?« Sie schubste Madeleine von sich. »Mädchen, du weißt nicht, was du redest!«, rief sie aus. »Du tust mir leid, mit solchen Arschlöchern rumzuhängen! Ich wäre eifersüchtig gewesen?! Ich war scheiße verdammt nochmal sauer, auf dich, dass du mir nicht geholfen hast! Sauer ist gar kein Ausdruck!«
      Madeleine versuchte in Gabys Gesicht zu lesen, was sie meinte. Doch Gaby starrte sie nur wütend an. Sie wich verwirrt zurück. »… Hä?«
      Gaby fuhr sich ungläubig mit der Hand über den Mund, schaute in den Himmel, wandte sich ihr wieder zu. »Dein Scheißernst? Echt? Okay. Ich helf deinem Erbsenhirn auf die Sprünge.
      Am Abend der Kirmes kam ich bei dir vorbei, du erinnerst dich. Wir tranken ordentlich Wodka, bis wir dann gegen zehn Uhr abends zum Festplatz aufgebrochen waren. Es war eine wundervoll laue Nacht, und du Knirpsbirne hattest schon ordentlich einen Tee. Auf dem Weg schwärmtest du mir pausenlos von Paul vor und davon, dass du hofftest, zwischen euch würde am Abend was laufen. Es war keine Überraschung. Ich war ein wenig neidisch auf dich, aber das war in Ordnung, damit konnte ich umgehen. Mir machte der Abend Spaß. Du weißt doch noch, als wir die anderen getroffen hatten, fuhren wir Autoscooter, tranken unsere mitgebrachten Getränke und gingen später zur Disco ins Festzelt hinein, und wir waren alle ziemlich betrunken. Irgendwann realisierte ich, dass du weg warst. Ich ging dich suchen, und als ich dich im Festzelt nicht gefunden hatte, ging ich raus, um da nach dir zu schauen. Und ach, wie schön, unweit vom Bierstand draußen standest du im Mondlicht und hast Paul fast aufgegessen.
      Und wie ich da stand und euch aus ein paar Metern Entfernung beobachtet habe – und ja, das hatte mir zu dem Zeitpunkt einen Pikser versetzt, vor allem allerdings weil ich das Gefühl hatte, dass sich unsere gemeinsame Zeit dem Ende zuneigen würde –, kamen kurz danach Sascha und Florian zu mir. Sie stellten sich zu mir, warteten einen Moment. Ich wusste nicht, was deren Anliegen war, und wollte gehen, doch sie hatten mich eng in ihre Mitte genommen. Und dann fragten sie mich, ob ich denn traurig sei, dass die Deutsche den geilen Typen abgekriegt hat.«
      Gaby hielt einen Moment inne. »Sascha fragte das. Ich hab’s nicht fassen können. Ich drehte mich deshalb zu ihm um und klebte ihm eine, und das war ein ziemlich großer Fehler. Das hatte ich auch sofort gemerkt, ich wollte gehen, doch da hatte Florian mich schon gepackt. Noch heute klingt mir sein genüssliches Schmatzen in den Ohren, das aus seinem Mund kam, als er mich am Arm gepackt hielt und mich zu sich zog. Ich hab geschrien, Mäddi, dass er mich loslassen solle. Aber die Musik aus dem Zelt übertönte unsere Stimmen weitgehend, und auch sonst schien sich niemand darum zu scheren, dass zwei Typen ein sechzehnjähriges Mädchen festhielten, obwohl sie sich wehrte. Es waren allerdings auch kaum andere Leute in der Nähe. Ich schaffte es nicht, sie wegzuschubsen, sie hielten mich einfach fest. Ich spuckte Sascha ins Gesicht. Aber Sascha wischte sich die Spucke nur lächelnd mit der Hand weg, sah sich einmal um und boxte mir in den Bauch. Dann nahm Florian sein Kaugummi aus dem Mund, zerteilte es in mehrere Teile und rieb es mir in die Haare. Dieses fette Schwein hat mich dabei angegrinst. Und dann steckte er sich noch ein Kaugummi in seinen Mund, kaute darauf herum und schmierte es mir ebenfalls ins Haar.« Gaby sah zu Boden. »Ich habe gebrüllt wie am Spieß, Mäddi, und ich bin mir sicher, du hast uns gesehen. Ihr hattet mit dem Knutschen aufgehört und habt beide in unsere Richtung geguckt. Ich hab geschrien –«, Gabys Stimme zitterte leicht, als sie aufblickte, »ich hab um Hilfe geschrien, ich hab dir mit erstickter Stimme zugerufen, ›Mäddi, lass das Glotzen sein, hilf mir doch, greif ein, auf dich hören sie‹, aber du hast nur dagestanden. Einfach nur dagestanden. Und als sie mich endlich losließen, bin ich weggerannt.«
      Madeleine stand stocksteif da. Was? Sie sah den Hass in Gabys schimmernden Augen funkeln. Sie fühlte sich taub und benommen. »Und deswegen hast du …?«
      »Ganz richtig. Deswegen habe ich mir eine Glatze geschnitten. Oder besser gesagt: eine Haarlänge von zwei Millimetern.«
      »O … Gott«, sagte Madeleine. Sie erinnerte sich nicht daran. Oder doch? Sie war draußen gewesen mit Paul, hatte in seinen Armen gelegen – endlich! –, doch war da auch etwas gewesen, was sie gestört hatte, draußen, und sie hatten ein kleines raufendes Grüppchen gesehen, doch sie war in Gedanken ganz bei dem jüngst Geschehenen gewesen, und ein paar Schlägereien gab’s bei den Dorffesten immer, und … Doch war es nicht …
      »O Gott«, sagte Madeleine noch einmal, leiser.
      Gaby schüttelte den Kopf. »Du hast das wirklich nicht gewusst?«
      Madeleine wollte antworten, sich die Wahrheit etwas zurechtbiegen. Doch als sie wahrnahm, dass ihre Finger unbewusst über ihre Male am Hals gefahren waren, fiel ihr der Magen in die Knie und sie sagte: »Ich, doch. Ich wollte nicht so genau hingucken. Ich wollte doch nur mit Paul alleine sein. Ich –« Was konnte sie sagen? »Ich – das – es tut mir leid.« In die letzten Worte versuchte sie so viel Wahrhaftigkeit hineinzulegen, wie sie konnte. Sie fühlte sich schlecht. Noch viel schlechter, als das ganze Wochenende schon. »Hast du deswegen mit diesem ganzen Punkergedöns …?«
      Gaby lachte unwillkürlich auf. »O Gott Scheiße Mäddi, selbst jetzt tust du mir noch leid. Du kapierst es nicht. Du hast nicht den Hauch einer Ahnung, was ich mache oder was ich warum gutfinde.« Gaby stieß erneut ein Lachen aus und schüttelte wieder den Kopf.

      Mäddi suchte nach Worten, doch sie fand keine. Sie standen da über Minuten hinweg da und schauten sich an.
      »Wieso hattest du mir das nicht gesagt?«, fragte Madeleine dann leise, unsicher.
      »Tss«, Gaby lachte hohl. »Ich war verletzt, ich hab mich geschämt. Du warst doch diejenige, die einfach nur dabeistand sich nicht darum gekümmert hat, wie’s mir geht«, sagte sie tonlos.
      »Ich …«, setzte sie an, doch blieb stumm. Gerade, als sie den Mund öffnete, um doch noch etwas vorzubringen, irgendetwas, erklang hinter ihr eine Stimme.
      »Hey Gäbbi!«, rief eine Madeleine noch frisch in Erinnerung gebliebene Stimme. Sie drehte sich um. Es war Ülüsü. »Und, oh.« Ülüsü stoppte, als sie Madeleine erkannte. Zu Gaby gewandt fügte sie an: »Was machst du denn mit der hier?«
      »Ach, wir haben über früher gesprochen. Ich rauch noch eine, willst du auch eine?«, fragte Gaby sie und strich sich ihre pinken Haare zurück.
      Ülüsü druckste vor sich. »Ach, hm …«
      Madeleine räusperte sich. Die beiden anderen sahen sie. Sie räusperte sich noch einmal. »Könnte ich eine haben?«
      Ülüsü zog die Augenbrauen hoch.
      Gaby zögerte. Dann kramte sie ihre Zigaretten hervor, öffnete die Packung und schnippte von unten gegen die Schachtel, so dass ein paar Zigaretten nach oben rutschten und herausgezogen werden konnten. »Da.«
      Madeleine nahm dankbar eine.
      Gaby reichte die Schachtel Ülüsü, und zögernd nahm sie auch eine.
      »Und weißt du was, wo wir jetzt dabei sind – entschuldige dich bei ihr«, sagte Gaby zu Madeleine gewandt.
      »Wofür?«, fragte sie.
      »Ich glaube, das weißt du ziemlich genau.«
      Ülüsü sah distanziert zu ihr. Madeleine zögerte und spürte dem bleiernen Gewicht ihres Magens nach, der noch irgendwo zwischen ihren Kniekehlen hing. »Also, ja. Tut mir leid, dass ich dich geschlagen habe.«
      Ülüsü lachte boshaft. »Das tut dir leid?«
      Madeleine zog an ihrer Zigarette und sah zu Boden. »Tut mir leid, dass ich gesagt hab, du würdest gute Noten wegen deines Hintergrundes kriegen.«
      »Mhm«, machte Ülüsü nur.
      Da sie alle drei in dieselbe Richtung mussten, kehrten sie ihrem Gymnasium den Rücken zu und schlenderten rauchend und wenig redend die Straße entlang. An der Bushaltestelle umarmte Ülüsü Gaby, nickte Madeleine kurz zu und lief weiter in Richtung der Innenstadt. Gaby und Madeleine warteten beide auf den Bus, der sie nach Junkersdorf bringen würde. Hauptsächlich schwiegen sie, doch es war kein so unangenehmes Schweigen mehr wie zu Beginn des Nachsitzens oder wie die Male, wenn sie sich in den letzten Monaten in der Buslinie 14 nach Junkersdorf mal begegnet waren.
      Der Bus war nur mäßig voll, doch Sitzplätze bekamen sie keine mehr. Deshalb stellten sie sich ins Gelenk im Mittelteil des Busses. Ein richtiges Gespräch kam nicht mehr zustande, sie beide schienen ihren Gedanken nachzuhängen. Kurz bevor sie jedoch in Junkersdorf an der Haltestelle ankamen, an der Gaby aussteigen musste, schien Gaby mit sich zu ringen und sagte schließlich zu ihr: »Hey, also. Ich geb am Samstag ’ne Party. Meine Eltern sind nicht da. Wenn du willst, kannst du kommen. Aber damit wir uns richtig verstehen – du alleine bist eingeladen. Deine Nazifreunde nicht, kein Schnaps der Welt lässt mich mit denen Freunde werden.«
      Madeleine war ehrlich überrascht. »Das ist, oh. Ich weiß noch nicht –«
      Gaby wirkte, als überlege sie noch, ob sie ihre Worte bereute. »Na, überleg’s dir. Ciao.« Und damit rauschte sie aus der Doppeltür, der Bus hatte angehalten.
      Madeleine sah ihr nach, während der Bus mit ihr davonfuhr. Sie sah Gaby in die entgegengesetzte Richtung zu ihrem Elternhaus laufen. Sah die Ketten um ihre Hüfte schwingen, die schweren Boots die Straße entlangstapfen, die Löcher in ihren Jeans und den weißen Schriftzug, der den schwarzen Rücken ihrer Lederjacke zierte: Viva la Muerte!

      Als Madeleine selbst ausgestiegen war, blieb sie vor dem Haus ihrer Wohnung stehen. Es war zugleich das Haus von Pauls Eltern, die ihre Dachgeschosswohnung extra für sie renoviert hatten, damit sie hatten zusammenziehen können. Eine Reichsflagge wehte im Garten. Madeleine stand da und starrte die vertraute Flagge an und fühlte sich, als würde sie sie zum ersten Mal sehen.
      »Was machst du denn da? Komm rein, ich hab gekocht!« Pauls Mutter Ursel rief ihr aus dem Küchenfenster zu. Sie war eine herzliche alte Dame, Madeleine mochte sie sehr gern.
      »Sofort!«, antwortete sie.
      Am Tisch saß bereits Pauls Vater Eckert, er war Frührentner und meistens übellaunig. Jetzt lächelte er sie jedoch an und fragte: »Na, Madi, wolltest du den Fahneneid leisten? Komm, tu dir was von der Suppe auf.«
      Paul kam erst spätabends nach Hause, er hatte nach dem Abi eine Stelle in einem Architekturbüro angenommen und musste unter der Woche meist lange arbeiten. Sie saß noch an einem Aufsatz, als er heimkam, seine Tasche in die Ecke warf, sie kurz küsste und sich ein Bier aufmachte. Er schaute fern, sie redeten nicht viel.
      Als sie im Bett lagen, begann er nach kurzer Zeit zu schnarchen. Doch Madeleine hatte Schwierigkeiten, in den Schlaf zu finden. Ihr schwirrte der Kopf. Gabys Erzählung von der Kimres raubte ihr noch immer den Atem, ließ ihr Herz schneller schlagen. Und Ülüsü …
      Sie lag auf der Seite, stützte sich auf ihre Hand und betrachtete die dunkle Silhouette Pauls. Er sah im Schlaf so friedlich aus.
      Am nächsten Morgen frühstückten und verabschiedeten sie sich genauso wortkarg wie am Abend zuvor.

      Nachdem der Schultag ohne größere Zwischenfälle verlaufen war – sie war jedem aus dem Weg gegangen heute –, war sie froh, dass niemand zu Hause war, als sie heimkam, weder Pauls Eltern noch er selbst. Sie saß an ihrem Schreibtisch im Schlafzimmer vor dem kleinen, schrägen Dachfenster und warf den Blick hinaus. Sie musterte die Flagge, die von hier exzellent zu sehen war. Als Paul und Sascha vor einem Jahr den Fahnenmast in den Vorgarten betoniert hatten, hatte sie wertfrei gefragt, mit Blick auf die noch am Boden liegende Reichsflagge, was das denn solle. Sascha hatte gelacht, Paul hatte nachsichtig lächelnd geantwortet: »Wir zeigen, dass wir nicht auf jeder Welle mitsurfen. Wir sind hier halt oldschool.« Dann hatte er gezwinkert. Es schien alles so normal gewesen zu sein. In der Zeit hatte Paul sie noch häufig mit roten Rosen überrascht, hatte sich mit viel Feingefühl um ihre Nöte gekümmert. War zärtlich gewesen. Er konnte noch immer zärtlich sein, aber …
      Sie hatten es immer Heimatliebe genannt.
      Sie selbst auch.
      War es das nicht auch?
      Die Verbrechen von früher wollte doch schließlich niemand wiederholen. Aber man konnte schließlich auch das Land nicht mit Ausländern überfluten, die nicht wussten, was richtig und was falsch ist, die aus rückständigen Gesellschaften stammten.
      Die ihren Gotteskrieg führen wollten.
      Die kein Erbarmen darin kannten.
      Waren sie nicht so?
      Ülüsü schien ihre Entschuldigung akzeptiert zu haben.
      Ihre Mutter trug ein Kopftuch.
      Damit verteidigte sie doch eine Moral, die Frauen unterdrückte, eine Gesellschaftsform, in der die Männer tatsächlich die Frauen in ihrer Gewalt hatten. Nicht wie die Hardcore-Emanzen das hier so wild für sich als Problem proklamierten, obwohl Frauen doch hier alles machen durften, und andere Problematiken herbeifantasierten, die Konstrukte ihrer eigenen indoktrinierten Denke waren.
      Sie wollte hier keine Ehrenmordscheiße, keine Clankriminalität.
      Madeleine fuhr sich gedankenverloren mit den Fingern über ihre immer noch sichtbaren Male am Hals.
      So war es doch.
      Oder?

      Sie ließ den Rest der Woche über sich ergehen. Sie half Pauls Eltern beim Heckeschneiden und jätete mit seiner Mutter Unkraut, lernte und zog sich, wann immer es möglich war, zurück. Paul schien zu merken, dass sie nicht allzu gut auf ihn zu sprechen war, und er schien auch zu wissen, woran das lag. Er entschuldigte sich nicht explizit bei ihr, aber er war ausgesucht höflich. Doch mehr kam nicht, sie blieben distanziert.
      Am Freitagabend gingen sie wieder in den Krug. Sie tranken, es wurde freundschaftlich herumgepöbelt. Henning und Sascha regten sich über die kommunale linksgrünbeschissene Mainstreampolitik gegen das Volk auf. Die Kneipe füllte sich und leerte sich wieder, und Madeleine fand sich, wenn sie nicht direkt von Bine oder Paul angesprochen oder zum Dart genötigt wurde, die meiste Zeit entrückt in ihren eigenen Gedanken wieder. Irgendwann nach Mitternacht waren sie wieder unter sich. Sergej spülte noch ein paar Gläser und Sascha stand betrunken lächelnd vor der Jukebox.
      »Hey! Jetzt kommt was!«, rief er.
      Er hatte ein paar Euro eingeworfen und ließ die CD Zwölf doitsche Stimmungshits in den CD-Wechsler der Jukebox schieben, die in einer anderen CD-Hülle als versteckte Auswahlmöglichkeit in der Boxplatziert war. Als daraufhin die Zillertaler Türkenjäger aus den Boxen schallten, bekam Madeleine Kopfschmerzen.
      Sie entschuldigte sich bei den anderen, ihr gehe es nicht gut. Paul küsste sie, und mit Watte im Kopf lief sie nach Hause. Als Paul Stunden später zu ihr ins Bett kletterte, war ihr Kissen noch immer etwas nass.

      Am darauffolgenden Tag, dem Samstag, blieb sie im Bett. Sie fühlte sich bleiern, ihre Glieder waren tonnenschwer. Paul brachte ihr Frühstück ans Bett, danach lernte er. Sie roch den Weichspüler ihres Bettbezuges und starrte an die Decke. Abends fragte er besorgt, ob es ihr besser gehe, ob er zu Hause bleiben solle?
      Sie verneinte.
      Paul ging sich im Krug besaufen.
      Sie fühlte, als er fort war, dass eine nervöse Energie in ihren Körper zurückkehrte. Sie warf die Decke von sich und verdrängte alle Gedanken. Duschte, doch schminkte sich nicht. Zog sich ihre Kleider an, aber keine, die sie als schön empfand.
      Und plötzlich stand sie draußen auf der Straße, besah den klaren, frühherbstlichen Himmel und beobachtete sich dabei, wie sie ins Neubauviertel lief, wo Gaby wohnte.
      Als sie in die Mainzer Straße einbog, hörte sie schon die wummernde Musik einer Party. Während sie aus der Ferne auf das Haus blickte, aus dem die Geräusche definitiv drangen, fragte sie sich, was sie sich von diesem Abend erwartete.
      Irgendetwas hatte sie die ganze Woche innerlich gekratzt, irgendein Gedanke, den sie nicht fassen konnte. Dieses verdammte Etwas hatte ihrer Seele einen Stich versetzt, und den konnte sie, zur Hölle nochmal, nicht ignorieren.
      Es beschäftigte sie selbstverständlich, dass ihre damals gute Freundin, die Gaby nun einmal gewesen war, von ihren jetzigen Freunden – waren es denn wirklich ihre Freunde? – wegen ihres Aussehens verletzt wurde. Es beschäftigte sie natürlich auch, dass sie selbst Ülüsü möglicherweise falsch eingeschätzt hatte. Aber das war nur die Spitze des Eisbergs, sie hatte sich nie für rassistisch gehalten, nur für besorgt. Und auch, wenn sie jetzt genau darüber so viel nachgedacht hatte wie seit langem nicht mehr, war es das nicht.
      Es war etwas anderes.
      Sie konnte es nicht greifen.

      Vor Gabys Elternhaus angekommen, atmete Madeleine noch einmal tief durch. Sie blickte auf das Gebäude, in dem sie früher so oft gewesen war. In dem Gabys Mutter schon früh am Morgen besoffen herumgeschrien hatte, auch wenn Gabys Freundinnen bei ihr übernachtet hatten. In dem Gabys Vater, der so schlimm nur Deutsch sprach, immer versucht hatte, das Schlimmste von seiner Tochter abzuwenden, doch oft auch nur stumm in einer Ecke gesessen hatte.
      Madeleine hatte ewig nicht daran gedacht, doch sah jetzt klar vor sich, wie gut sie mit Gaby befreundet gewesen war, sah es, als wäre sie aus einer Art Winterschlaf erwacht. Es war sicher nicht das beste Zuhause gewesen, das ein Mensch haben konnte. Aber es waren auch … keine Nazis im Haus. Keine alten Männer, die den Kriegsorden ihrer Väter huldigten, von der Wolfsschanze träumten und auf alles schimpften, was auch nur der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts entstammte, keine alten Männer, die sagten, dass es die große Verschwulung unterm Führer ja nicht gegeben hätte.
      Der kleine Vorgarten lag vor ihr, zwei kleine Tannen ragten vor ihr auf. Der Bass dröhnte und das Haus war hellauf erleuchtet. Ein buntes Grüppchen aus Punks und Hippies saß draußen, sie sah Irokesenschnitte und Dreadlocks, große Anarchiezeichen auf Jacken und Shirts, Peace-Zeichen, Nazis-raus-T-Shirts und Embleme von Bands, die sie nicht kannte. Wie Vagabunden sahen sie aus, wie sie da zusammensaßen, kifften und lachten. Niggerdroge hatte Paul Gras immer genannt. Niggerdroge. Sie roch recht intensiv.
      Noch hatte niemand Notiz von ihr genommen.
      Die Musik verstummte kurz, und nun drang Rockmusik sanft nach draußen, dazu Gelächter und Geschepper. Madeleine strich sich die Haare aus dem Gesicht, öffnete die Gartenpforte, durchquerte den Vorgarten und sprang zur Seite, als ein Junge von drinnen an ihr vorbeistürzte, um ins nächste Blumenbeet zu kotzen. War das Uwe aus ihrem Jahrgang? Sie klopfte unsicher an der Haustür. Eine völlig verballert aussehende Gaby öffnete. Zur Feier des Tages hatte sie ihre Haare quietschbunt gefärbt.
      Gaby blinzelte zweimal ungläubig. »Mäddi! Du bist echt gekommen! Krass!« Sie sah sich um, lugte zur Straße, dann trat sie zu Madeleine hinaus und schob sie mit der Hand ein Stück zurück. »Sorry, aber ich muss dich das fragen. Du bist alleine?«
      Madeleine nickte.
      »Weiß Paul, dass du hier bist?«
      Madeleine schüttelte den Kopf.
      Ein Lächeln breitete sich in Gabys Gesicht aus. »Na dann, komm rein.«

      Drinnen schlug Madeleine eine ungeheure Wärme entgegen. Im Eingangsflur lagen tausend paar Schuhe, die offenbar den gefühlt tausend Menschen gehörten, die im Wohnzimmer zum übersteuerten Sound ihrer Lieblingslieder herumsprangen und, wenn gerade textfreie Stellen in den Liedern vorkamen, einfach die Riffs mitgröhlten von irgendwelchen Punkrocksongs. Aus dem Bad, das dem Eingangsbereich angeschlossen war, kam ein Mädchen heraus, das im Jahrgang unter ihnen war. Sie hatte slawische Züge, Madeleine war sich nicht sicher, wie sie hieß.
      Das Mädchen hatte ganz offensichtlich schon gut getrunken. Sie kam ihr ganz nah, nahm Madeleines Gesicht in beide Hände, kam mit ihrem eigenen Gesicht sehr dicht heran und glotzte sie mit großen Augen an. Dann ließ sie von Madeleine ab und drehte sich zu Gaby. »Ey Gäbbi, was macht die denn hier?«
      Gaby grinste. »Ach, sie kommt hier auch ausm Dorf, weißt du, wir kennen uns von früher.«
      Das Mädchen drehte sich wieder zu Madeleine. »Echt? Du bist ja die Allerschürfste, hätt ich nicht gedacht, dass eine wie du hier auftaucht! Nice! Ich bin Marie.« Sie drehte sich einmal um sich selbst und hatte plötzlich zwei Biere in der Hand. »Hier!«, sagte sie und drückte Madeleine eins davon in die Hand. »Ich gehör zu den besoffenen Russen da drüben!« Und damit zwitscherte sie davon.
      Gaby lachte schallend, als sie Madeleines verdutztes Gesicht sah. »Komm mal mit in die Küche.«
      Madeleine folgte ihr.
      In der Küche war es noch gedrängter als im Wohnzimmer, sofern das möglich war. Dichter Rauch umhüllte sie, man konnte kaum durch den Raum schauen. Madeleine folgte, noch immer etwas beklommen, Gaby durch die Meute, dann sah sie, dass Gaby einem dunkelhaarigen Mädchen auf die Schulter tippte. Es drehte sich herum. Erst als sie in das cremefarbene Gesicht starrte, das von schwarzem Haar umrahmt wurde, sah Madeleine, dass es sich um Ülüsü handelte.
      »Ey, schließt mal Frieden«, sagte Gaby zu ihr. »Ich glaub, Mäddi hat es ernst gemeint mit ihrer Entschuldigung.«
      Ülüsü musterte sie. Dann deutete ihr Mundwinkel ein Lächeln an. »Okay. Trinken wir einen Schnaps drauf?«
      Jetzt musste auch Madeleine lächeln. »Ja, klar.«

      Über Stunden standen sie in der Küche und unterhielten sich immer unbefangener; sie rauchten, tranken und merkten, dass sie sich sogar gut unterhalten konnten, wenn sie unter sich waren und Gaby andernorts ihren Gastgeberpflichten nachkam. Als Gaby irgendwann in die Küche zurückkehrte, hatte sie noch eine Freundin im Gepäck, die sie mit »Das ist Sheena!« den anderen vorstellte und die, wie so viele hier, wie der Inbegriff einer Punkrockerin aussah. Wäre Sheena mit ihrer rotschwarz-karogemusterten Tartanhose mit den aufgesetzten Reißverschlüssen, den entsprechenden Tattoos und Piercings und ihren kurzgeschorenen Haare im Krug aufgetaucht, hätte sie zu hören bekommen, dass eine Frau so nicht auszusehen habe, sie wäre als Feindin begrüßt worden.
      Hätte sie selbst dort anders reagiert?
      Zusammen gingen sie ins Wohnzimmer zurück, wo ein paar Leute reglos auf dem Boden lagen und im Vollsuff schliefen, während andere auf Couch, Tischen und anderem Mobiliar standen, ihre Arme in die Luft warfen und lautstark zur Musik mitsangen. Zerbrochenes Geschirr lag herum, leere Bierflaschen kullerten über den Teppichfußboden und halbvolle Drinks standen in jeder Ecke. Vor der Stereoanlage rempelten ein paar Mädels tanzend aneinander und schmissen versehentlich ein kleines Regal um. Es herrschte Chaos, und über allem lag eine absolut herzliche Atmosphäre. Ülü, Gaby, Sheena und sie setzten sich in eine Ecke. Sie spielten gerade ein Trinkspiel, als einer der Dreadheads von draußen zu Gaby geeilt kam und hektisch eröffnete: »Draußen sind ein paar Dorfprolls und ich glaube, die suchen Streit.«
      Scheiße! Madeleine durchfuhr es eisig. Das Dorf war nicht groß genug, als dass die anderen es nicht bemerkten, wenn eine derart laute Hausparty stattfand.
      Gaby sprang auf, drehte die Musik ab und versuchte sich zwischen dem empörten Gejohle Gehör zu verschaffen. Von draußen hörte man bereits aggressive Stimmen tönen.
      »Leute!«, rief sie. »Leute! Sorry, echt, aber das ist wichtig! Draußen sind die Dorfnazis von hier!«
      Es wurde mucksmäuschenstill. Gaby sah nicht zu ihr, doch Madeleine fühlte sich, als würden ausnahmslos alle sie anstarren.
      »Wir müssen da jetzt rausgehen und hoffen, dass sie nicht zu viele ihrer Freunde holen. Und wenn’s zu ’ner Prügelei kommen muss, muss es eben so sein. Aber dann alle zusammen! Death or Glory, ihr wisst schon!«
      Die Stimmung lud sich auf.
      Die Meute ging gemessenen Schrittes nach draußen.
      Madeleine folgte, sich im Hintergrund haltend. Ihr war schlecht. Sie wusste, dass Sascha und ein paar andere Schlagringe, Schreckschusspistolen und anderes besaßen.
      Im Schein der Straßenlaterne sah sie, wie Paul, Sascha und etwa acht andere mit Bierflaschen in der Hand im Vorgarten von Gabys Eltern standen und spöttisch grinsten. Sie standen breitbeinig nebeneinander und machten den Max.
      Die Partygäste versammelten sich vor ihnen.
      Sascha rief laut: »Ihr habt Glück, dass ihr so viele seid, ihr beschissenen Schmarotzer! Ihr dreht jetzt besser die Musik ab, eure Scheiße will hier niemand hören! Ihr seid hier nicht willkommen!« Die anderen lachten. Paul auch.
      Madeleine sackte ein wenig an der Hauswand hinter ihr hinab.
      Johnny, der auch aus Junkersdorf kam, entgegnete: »Halt die Fresse, Sascha, verpisst euch lieber! Hier will keiner Stress, also verzieht euch!«
      Im Stillen ging Madeleine die Partygäste durch, es mussten etwa dreißig sein.
      Sascha ging auf Johnny zu. »Für so ’ne kleine Schwuchtel hast du ein ganz schön großes Maul.«
      Madeleine sah dieses Glasige in Saschas Blick, dieses Quäntchen vom Verrückten. Die Idioten hatten schon wieder gekokst. Sie wusste, dass insbesondere Sascha völlig austicken konnte.
      »Und das, um hier die Party von so einer Marokkanerzeckenschlampe zu verteidigen. Ich pisse auf dich und das Grab deiner Vorfahren, Jonathan. Die würden sich schämen, für was du dich hergibst, du kleiner Vaterlandsverräter!«
      Gelächter dröhnte hervor. Es war Gaby, die rief: »Das einzig Schämenswerte bist du hier Sascha, du faules, dummes Stück Scheiße! Du unfähiges Baby, jeder weiß doch, dass du zu denken nicht imstande bist, dass du dir schon fünfzehn Gehirnerschütterungen zu viel zugezogen hast beim Boxen, du unbegabter Affe! Aufrecht willst du sein, aber –«
      »Halt dein dreckiges Maul!« Saschas Stimme schnitt durch die Luft, er zog eine Pistole aus seinem Hosenbund am Rücken und zielte direkt auf Gaby. »Keiner bewegt sich. Schauen wir mal, wie mutig ihr wirklich seid«, fügte er leise an.
      Madeleine sah den Wahnsinn in seinen Augen.
      Mit butterweichen Knien schob sie sich durch die starr dastehende Menge. Die Leute traten beiseite, ohne sie anzusehen, bis sie zwischen Sascha und Gaby stand und mit zitternder, leiser Stimme sagte: »Das alles hier hat nichts mit Mut zu tun, Sascha. Nichts.«
      Sascha ließ sie Knarre etwas sinken. »Madi. Was – zum Teufel – machst du hier bei diesem Gesocks?« Nach kurzer Verwirrung formte sich sein Gesicht zu einem aggressiven Ausrufezeichen. Dann richtete er seine Waffe wieder höher, zielte mal auf Gaby und mal auf sie.
      Madeleine hob sachte die Arme. »Gaby und ich kennen uns von früher.«
      Einen langen Augenblick geschah nichts. Dann trat ein entgeisterter Paul neben Sascha und flüsterte: »Madi, komm sofort zu uns rüber jetzt. Mach keinen Scheiß.«
      Madeleine sah aus dem Augenwinkel, wie sich die anderen Partygäste zwar kaum bewegten, doch plötzlich immer mehr Steine und andere Gegenstände in den Händen hielten. »Und dann? Nein, tut mir leid, Paul.« Madeleines Blick wurde flehend. »Tut mir leid.«
      Paul wurde bleich und sagte nichts.
      Madeleine schloss die Augen und sagte leise: »Das ist doch alles unnötige und dumme Scheiße hier.« Sie öffnete sie wieder und konzentrierte sich auf Paul. »Was soll passieren? Selbst wenn Sascha einen Schuss loslässt, seid ihr doch in der Unterzahl. Ihr –«
      »›Ihr‹? Madi, du zählst dich also zu denen?«
      Madeleine begriff es nicht. Hier wurde eine Party gefeiert, auf der es keinen Stress gegeben hatte, bis sie gekommen waren. Und jetzt fühlte sich Paul ungerecht behandelt? Ihre Stimme war brüchig. »Paul, hier gibt’s nur euch, die hier Stress machen. Das ist schwachsinnig.«
      Paul legte eine Hand auf Saschas ausgestreckte Arme und drückte sanft die Pistole nieder. Er blickte Sascha an und sagte: »Wir gehen.« Zu Madeleine gewandt fügte er an: »Und du Fotze brauchst zu Hause gar nicht mehr aufzutauchen.« Und dann gingen sie.
      Madeleine sah ihnen nach, bis sie merkte, dass Gaby bei ihr stand und einen Arm um sie gelegt hatte. »War ganz schön mutig von dir«, sagte sie leichthin. In den Gesichtern der anderen las sie immer noch eine gewisse Kampfeswut, doch niemand machte Anstalten, den Dorfprolls – ihren Freunden – hinterherzulaufen.
      Als sie außer Sichtweite waren, atmete Madeleine auf, und mit einem Mal brach das Leben wieder in all seiner Pracht auf sie herein. Sie roch die laue Herbstluft, spürte, wie sich der nächtliche, hauchdünne Feuchtigkeitsfilm auf sie legte, hörte wieder Gelächter ertönen und die Musik wieder einsetzen. Sie sah sich um und betrachtete den wolkenlosen Himmer, blickte auf die Nachbarshäuser, die etwas entfernt im Dunklen dalagen und sich nicht regten, und zu den Sternen hinauf. Sie strich sich langsam durch die Haare.
      »Komm«, sagte Ülüsü, die jetzt neben sie getreten war. »Wir gehen wieder rein.«
      Madeleine war schwindlig, sie wusste nicht, was sie morgen erleben würde, ob sie morgen nach Hause gehen konnte? Wusste nicht, was jetzt geschehen sollte? Und doch, gleichzeitig wusste sie – und es überraschte sie, wie befreiend sie das empfand –, dass sie genau das jetzt, in diesem Augenblick, nicht wissen musste.
      »Lass uns was trinken«, sagte sie bestimmt zu Gaby.
      Gaby runzelte die Stirn, aber nickte.
      Die nächsten zwei Stunden vergingen wie im Rausch, Madeleine langte zu, zu sehr, das wusste sie, aber sie wusste genauso, dass sie heute drauf scheißen würde. Sie spielten Trinkspiele, die sie nicht kannte, und tanzten zu Musik, deren raue Energie ihr in die Glieder fuhr. Nach einigen Schnäpsen und noch mehr Bieren zog sie Gaby beiseite und nuschelte ihr zu: »Scheiße, Gaby, mir tut so leid, was dir damals passiert ist, eh-ehrlich, und –«
      Gaby nahm sie fest in die Arme, drückte ihr einen Knutscher auf die Wange und strahlte sie ebenso betrunken an. »Ich glaube, heute hast du das mehr als wieder gut gemacht!«
      »Du Gaby, kann ich vielleicht heute hier pennen, weil, na, du weißt scho–?« Sie brachte es gerade noch heraus, die Antwort wiederum musste auf sich warten lassen. Sie stieß eine Person neben sich beiseite, stürzte zum Klo und erbrach sich geräuschvoll hinein. Nach drei, vier Wiederholungen dieser Prozedur lehnte sie sich leicht zitternd zurück und strich sich über die schweißnasse Stirn. Da bemerkte sie, dass Ülü neben ihr saß, an die Wand gelehnt, sie anlächelte und ihr ein Glas Wasser hinhielt. »Wenn ich dir das so sagen darf – du siehst aus wie Madonnas Dickdarm.«
      Madeleine prustete los und hielt sich direkt darauf gequält den Bauch. Ülü grinste. Dann nahm Madeleine stumm dankend das Glas an.
      Ülü zog sie hoch und zusammen kehrten sie ins Wohnzimmer zurück. Draußen wurde der Himmel von der Morgensonne geküsst, doch der Feierlaune der anderen tat es keinen Abbruch, auch wenn ein paar schon nach Hause gegangen waren. Nach ein paar Minuten kehrten auch Madeleines Lebensgeister zurück, sie lehnte sich an Ülü, dachte sich abermals, scheiß drauf, und mixte sich und ihr noch einen Cuba-Libre. Und je weiter die Sonne sich ihren Weg empor erkletterte, desto unbeschwerter wurde sie wieder. Irgendwann waren es nur noch Gaby, Ülü, sie und drei, vier andere, die sich auf der improvisierten Tanzfläche zwischen den an die Wände geschobenen Stühlen und Sesseln befanden. Sie fand sich inmitten dieses seltsamen Grüppchens wieder, wie sie im herumsprangen, tanzten und altbekannte Smashhits aus den 80er-Jahren mitsangen wie auch Songs, die sie noch kaum kannte. Bei einem dieser Lieder insistierte sie darauf, es noch einmal und noch einmal zu hören. Sie lagen sich in den Armen und sangen alle aus voller Kehle den Refrain wieder und wieder:

      »BABY BABY BABY – ES KÖNNT SO SCHÖN SEIN MIT DIR
      IST ES ABER NICHT
      SCHADE !!
      BABY BABY BABY – ES KÖNNT SO SCHÖÖN SEIN MIT DIR
      IST ES ABER NICHT
      SCHADE !!
      BABY BABY BABY – ES KÖ…«

      Irgendwann fiel Madeleine in irgendein Bett. Und als sie schon im Begriff war einzuschlafen, fiel ihr ein, was sie früh an diesem langen Abend nicht hatte greifen können. Sie wusste, was sie vermisst, sie spürte, was sie geneidet hatte.
      Es war so einfach.
      Sich frei zu fühlen.
      Freiheit.
      Die Freiheit, die Regeln der anderen zu brechen.
      Der morgige Tag würde scheiße werden, keine Frage. Aber … was war das für ein Gefühl.
      Sie dachte noch, dass Gaby davon … als sie …
      Doch dann war Madeleine eingeschlafen.





      ---
      OSTEREIERSUCHE
      Ey,
      vielen Dank fürs Lesen! Möglicherweise hast Du beim Lesen die eine oder andere Referenz zu dem einen oder anderen Song entdeckt – falls ja, Jackpot!
      Aber hast Du auch alle bemerkt?
      So Du es sicher wissen willst, findest Du hier eine kleine Auflistung der 27 Songreferenzen, die im Text entweder wörtlich als Titel oder als prägnanteste Zeile des Liedes unverwechselbar eingeflochten sind (habt Nachsehen, wenn sie kontextuell möglicherweise etwas aus ihrem Rahmen gehoben sind):

      Madeleine aus Lüdenscheid (Die Toten Hosen), Partylöwe (Die Kassierer), Nazis im Haus (Terrorgruppe), Disco (Die Toten Hosen), Zwickau sehen und sterben (Pascow), Die Allerschürfste (Die Ärzte), Greif ein (Dritte Wahl), Viva La Muerte (Slime), Paul (Die Ärzte), Sheena Is A Punk Rocker (Ramones), Gabi gibt ne Party (Die Ärzte), Claudia hat nen Schäferhund (Die Ärzte), Sweet Sweet Gwendoline (Die Ärzte), Elke (Die Ärzte), Ülüsü (Die Toten Hosen), Sascha ein aufrechter Deutscher (Die Toten Hosen), Death or Glory (The Clash), Reisefieber (Die Toten Hosen), Lilo Meier (Quetschenpaua), Marie (Pascow), Trampen nach Norden (Pascow), Mainzer Straße (Dritte Wahl), Madonnas Dickdarm (Die Ärzte), Baby schade (Die Mimmis), Die letzte Sau (Wizo), Rock’n’Roller Johnny (Loikämie), Wunderkind (Pascow)

      super Songs, die allesamt auf Youtube zu finden sind!




      Crex Im Schneekirschen-Weg 4/2

      Im Schneekirschen-Weg 4/2

      Tosender Lärm. Ein Mischmasch aus durcheinander stürmenden Schritten, lauten Rufen und ohrenbetäubenden Signaltönen. Ab und zu ist eine Durchsage zu hören. Eine Frauenstimme, die eine Portion vorgetäuschte Gelassenheit ausstrahlt, verkündet in regelmäßigen Abständen die verbleibende Zeit, Planänderungen und weitere Ausfälle im System. Die Leute reagieren mit verschiedenen Emotionen auf diese Stimme. Viele werden panisch und stürmen noch hektischer umeinander. Andere bleiben stehen, rufen lauthals unverständliches Gebrabbel und werfen Gegenstände durch die Luft oder auf den Boden. Dabei gestikulieren sie stark in alle Himmelsrichtungen. Wieder andere scheinen die Hoffnung aufgegeben zu haben, sinken neben ihrem mitgeführten Hab und Gut auf den Boden und klammern sich daran. Manche scheinen vor Wut zu rauchen.
      Immer wieder löst sich ein großes Teil aus Eisen und weiteren Metallen ab, das sich mit lautem Dröhnen und Boden erschütternder Masse in Bewegung setzt. Es löst eine Kettenreaktion aus die weitere Metallteile hinter sich herzieht. Und überall ist weißer, blickdichter Dampf, der die Schwaden der rauchenden Menschen restlos verschluckt. Wenn das passiert hört man die Leute nicht mehr rufen und husten. Der Lärm ist so laut und gleichmäßig, wirkt wie von einem anderen Ort, an den einen die die umschließenden Dampfwolken tragen und versetzt ein jeden in einen Zustand von absoluter Ruhe und Frieden. Dann plötzlich ein helles Licht.

      Die Sonne bohrt sich durch die dampfende Gegend. Das Teil aus Eisen ist verschwunden und mit ihm einige der Menschen.
      Genug herumgestanden. Der Waschbär rückt sich seine Schiebermütze auf dem Kopf zurecht und hebt die kleine ledrige Reisetasche auf, die zu seinen Füßen liegt. Er bahnt sich seinen Weg durch den Wald voller Hosenbeinen, der sich um ihn herumbewegt. Selbst er, der für einen Waschbären überdurchschnittlich groß erscheint, reicht den meisten Menschen gerade einmal bis zur Hüfte. Natürlich ist da immer mal wieder auch ein Mensch dabei, dem er bis zum Bauchnabel reicht. Diese erinnern ihn aber eher an Miss Piggy, eine alte Schauspielkollegin seinerseits, als an einen Menschen. Und dann sind da noch die ganz kleinen Menschen, die er stellenweise sogar überragt. Seiner Meinung nach stellen gerade sie sich sehr unbeholfen an. Welch ungeschickte Spezies!

      Der Waschbär öffnet eine der zwei großen Glastüren, die in die Bahnhofshalle führen und tritt ein. Die durch die Kälte aufgewirbelte Wärme empfängt ihn aufgeregt und er muss für eine Sekunde seine Schiebermütze festhalten. Selbst sein grauer Winterpelz ist bei diesen Temperaturen um den Nullpunkt machtlos. Aber es gibt keine Kleidung für Waschbären. Deswegen lässt er die willkommene Wärme einen Moment auf sich wirken. Lieber habe ich meinen schönen Pelz als das ganze widerliche Fett und Speck, das die Menschen auf den Rippen tragen.
      Die Schuhe der Leute klacken auf dem polierten Boden laut. Das Geräusch hallt von den nahe beieinanderliegenden Wänden ab, verteilt sich gleichmäßig in der Halle und vermischt sich mit dem regelmäßigen Ticken der großen Bahnhofsuhr, die einsam aber mächtig an einer Wand hängt. Hier ist etwas weniger los, als draußen auf den zwei Gleisen, obwohl es hier drinnen ein paar kleine Geschäfte gibt, die Zeitungen und Snacks verkaufen.
      Der Waschbär tritt an einen der Zeitungsständer heran.

      Die Hausfrau

      „Keto-Diät und die Auswirkung auf mein Sex-Leben.“ – Lesen Sie den ganzen Artikel von Kanne Chim Lan auf Seite 1

      Außerdem: Clue! Tara Spreizbein stellt ihre Yoga-Hosen in ihrem neusten Pilates-Video vor. DVD gratis zum Heft!

      Der Zeitungsverkäufer nimmt das Geld des Waschbären entgegen und wünscht: „Einen schönen Nikolaustag!“
      Der Waschbär nickt ihm zu. „Das wünsche ich auch“, und stopft das Heft in seine Tasche. Eine Lokalzeitung klemmt er sich unter den Arm, dann geht er auf der anderen Seite der Halle durch eine weitere Glastür auf die Straße. Es liegt kein Schnee, aber der Ort ist nass. Von den laublosen Bäumen, die entlang der Straße gepflanzt sind, tropft Wasser. Alles wirkt kalt, besonders die Luft. Der Ort vor dem Bahnhof ist um einiges entzerrter an Menschenmasse, sodass die Gegend beinahe verschlafen erscheint. Stimmiges Bild.
      Die drei Stufen, die auf den Gehweg vor dem Gebäude führen, hüpft der Waschbär einzeln herunter. Hinter ihm ist die riesige Bahnhofshalle mit der Glasfront, die nur riesig erscheint, weil er so klein ist. Das Ortsschild an der Front ist das einzige Deko-Element, ansonsten ist sie sehr schlicht. Vor ihm befindet sich eine kleine Fläche neben der Straße, die von braun-grünen Hecken umsäumt ist, über die er gerade so blicken konnte und mit Taxen vollgestellt ist. Genau was ich brauche.
      Er wirft einen Blick in die Lokalzeitung und schlägt die Seite mit den Immobilienanzeigen auf.

      „Und falls Sie sich doch anders entscheiden, so rufen Sie mich doch gerne an“, verabschiedet Herr Frauengold das Pärchen, welches sich gerade nicht dazu entschieden hat, seine Immobilie zu mieten.
      Er lässt sich schulterhängend auf den kleinen Gartenstuhl herab, der prompt seine Beine von sich streckt. Seine Hände graben sich in den feuchten Erdboden, der spärlich mit Rasen gesät ist, um sich abzustützen.
      Die letzten Mietinteressenten, die er hatte, haben sich soeben verabschiedet und es sieht nicht so aus, als gäbe es noch jemanden der diese Bruchbude mieten wollen würde. Ich muss das Teil wohl abreißen lassen.
      Er zieht seine Knie an den Körper, beugt seinen Rumpf nach vorne, zieht sich mit Hilfe der Hände über den Boden in die Hocke und richtet sich auf. Zumindest beinahe, denn ihm fährt es saumäßig ins Kreuz. Über einen erstickenden Seufzer, in den er all seine Verzweiflung packt, lässt er seinen Schmerz ab. Ich hätte die letzte Physiotherapie nicht absagen sollen.
      Autotür auf. Autotür zu. Motorstart. Anfahrt. Das Motorengeräusch wird langsam leiser. Und plötzlich steht jemand auf dem Gehweg, der genauso groß ist wie das kleine Gartentor.
      „Entschuldigen Sie die Störung werter Herr. Ist das hier der Schneekirschen-Weg vier strich zwei?“

      Wie es scheint, gibt es wohl doch noch jemanden der sich für das Häuschen interessiert. Herr Frauengold wischt sie die erdbedeckten Hände an der weiten Anzugshose ab und fährt sich mit der Linken über den ebenso rar weiß gesäten Kopf. Räuspern.
      „Richtig, Sie sind bei der richtigen Adresse“, mit schmerzadaptiven Bewegungen geht er auf das Gartentor zu. „Darf ich fragen, ob Sie Interesse daran haben zu mieten?“ Nur leicht gebeugt öffnet er das niedere Tor und stöhnt dabei sichtlich angestrengt.
      „Genau deswegen bin ich hier“. Der Waschbär betritt das Grundstück und schaut an dem älteren Mann hinauf. „Dann müssen Sie wohl Herr Frauengold sein. Sehr erfreut Ihre Bekanntschaft zu machen“, begrüßte er sein Gegenüber und machte eine angedeutete Verbeugung, während der er seine Schiebermütze zog. „Ich bin der Waschbär und ich suche für eine Weile eine Unterkunft in diesem Ort“. Er stellt seine Reisetasche auf den Steinplattenweg, der das Gartentor mit der Tür des Häuschens verbindet und dreht sich begutachtend auf der Stelle.
      Zwischen den Steinplatten sprießt Unkraut hervor. Der Garten ist Unkraut. Ein einfacher Holzzaun knüpft nahtlos an das Gartentor an und zäunt das Grundstück ein. Nicht, dass es andere Grundstücke um das Häuschen geben würde. Außerhalb des Zauns sind nur dichte, hochgewachsene Büsche. Und irgendwo hinter dem Häuschen muss sich ein kleiner Bach befinden, der vor sich hinplätschert. Das nächste andere Haus befindet sich gegenüber auf der anderen Straßenseite. Es hat eine weiße Fassade ist etwas größer als die angebotene Immobilie und hat einen gepflegten Garten mit allerlei Gewächsen.
      Überhaupt ist der Weg, an dem die Häuser stehen geschmückt mit Schneekirschen, die in voller Blüte stehen und sich im Dämmerlicht von den kleinen Straßenlaternen anstrahlen lassen.
      „Dann haben sie Glück“, fährt Herr Frauengold fort. „Die Immobilie ist frei und Sie sind der erste Interessent“. Manchmal muss man flunkern.
      „Das ist ja wunderbar“, freut sich der Waschbär. Sein flauschiger Schweif zuckt euphorisch.
      „Wollen wir vielleicht eintreten? Ich kann Ihnen die Räumlichkeiten vorstellen“.
      „Oh das ist nicht nötig ich nehme es. Was wird es denn kosten?“
      Herr Frauengold hält kurz inne und hebt die Augenbrauen, besinnt sich dann wieder. „Na das nenne ich mal eine Zuversicht!“, lacht er. „Beabsichtigen Sie hier allein zu hausen?“
      „Ja“
      „Unter diesen Umständen beläuft sich der Mietpreis auf 1000 im Monat“.
      „1000?“, fragt der Waschbär. „Das habe ich nicht“.
      „Das Haus ist vollständig möbliert. Ich versichere Ihnen, Sie werden auf Ihre Kosten kommen“.
      „Ich zahle 500“, antwortet der Waschbar und reckt dabei seinen Rücken gerade.
      „Das ist inakzeptabel, ich bitte Sie. Das Haus hat sechs Zimmer, ein Bad und eine Küche auf zwei Stockwerken. Zusätzlich einen Dachboden und diesen Garten“.
      Der Waschbär blickt von dem Mann auf das Haus und wieder auf den Mann. „Tja, sie haben Recht. Wenn sich das Innere des Hauses im selbigen Zustand wie der Garten und die Fassade befindet… Sagen wir 350“.
      Herr Frauengold knickt ein und schluckt. „Na schön, wir sind im Geschäft. Ich vermiete Ihnen das Haus. Die restlichen Details halte ich im Vertrag fest, den ich Ihnen morgen zum Unterschreiben vorbeibringen werde“.
      Der Waschbär und der Mann geben sich die Hand und verabschieden sich.

      Das Häuschen ist simpel. Es hat eine Tür aus stabilem Eichenholz, in das ein kleines Fenster eingebettet ist. Die heruntergekommene, vordere Fassade wird außerdem von 5 weiteren Fenstern geziert. Ein Fenster je links und rechts von der Tür und drei weitere im ersten Stock. Vor jedem hängt ein leerer Blumenkasten. Die Vorhänge, die man von außen sehen kann, sind entweder gelb oder vergilbt.
      Der Waschbär tritt ein. Die Türscharniere quietschen, die Dielen knarzen. Vor ihm erstreckt sich ein schmaler Flur, an dessen Ende eine Kommode steht, über ihr ein Fenster. In diesem Flur führt eine Treppe hinauf in den ersten Stock. Am Fuß der Treppe führt ein Durchgang in ein Zimmer auf der rechten Seite. Zwei Durchgänge auf der linken Seite des Flurs führen ebenfalls jeweils in Zimmer. Auf dem Boden ruht ein langer grüner und platter Teppich, der an der Treppe vorbei bis vor die Kommode verläuft.
      Der Waschbär betätigt den Lichtschalter und die Lampe, die an der Decke hängt, beleuchtet den Flur, nicht ganz so prompt, in einem schwachen, flackernden Licht.

      Tag 1

      Die Zeiger des Weckers, der neben dem Bett, gefüllt mit modrig riechender Bettwäsche, auf einem Nachttisch steht zeigen auf 5:43 Uhr. Draußen ist es noch dunkel, aber die Lampe neben dem Wecker erhellt den Raum. Auf der Bettwäsche sitzt der Waschbär, der sich gerade die Schiebermütze zurechtrückt. Das verstrubbelte Fell streicht er sich glatt, so gut es eben geht. Dann hüpft er von der Matratze. Um das Zimmer zu lüften öffnet er das Fenster und kann auf den Vorgarten schauen, in dem Herr Frauengold und er sich gestern unterhalten hatten. Tatsächlich, der Garten ist absolut scheußlich. Auch von hier oben. Nein. Besonders von hier oben. Zeit sich darum zu kümmern.
      Der Waschbär geht ins Badezimmer, welches sich ebenfalls auf dem ersten Stock befindet. Dort stellt er sich einen großen Hocker vor das Waschbecken, sodass er den Wasserhahn erreichen kann. Er säubert seine Schnauze und streicht die abstehenden Haare in seinem Fell mit Wasser glatt. Das Badezimmer ist nicht besonders groß und bietet neben dem Spiegel am Waschbecken nur noch eine Blechwanne und eine Toilette. Zeit zu arbeiten.
      Es ist mittlerweile 6 Uhr vorbei und der Waschbär betrachtet den etwas kleineren Garten hinter dem Häuschen. Der Garten umschließt das Gebäude vollständig. Der Eingangsbereich befindet sich auf der Ostseite. Es führt ein schmaler Trampelpfad, der zwischen diversen Sträuchern verläuft, über die Süd- auf die Westseite. Hier ist der Garten etwas größer als am Eingang und es führt ein kleiner Abhang hinunter zu einem Bach, hinter dem das Grundstück aufhört und der Wald beginnt. Der Rasen auf dieser Seite ist wild und wächst hoch. Über der dünnen, klapprigen Tür, die aus dem Häuschen in diesen Garten hinausführt, hängt eine Lampe, die den Bereich bis zum Bach gut beleuchtet. Einige Gartengeräte liegen auf den Steinplatten, die einen schmalen Bereich um die Hausfassade säumen. Der Waschbär nimmt eine Sichel in die Hand und fängt an das hohe Gras in rhythmischen Bewegungen zu mähen.
      Das ist genau was er sich vorgestellt hatte, als er sich von daheim aufmachte, um sich in einem abgelegenen Ort, wie hier, nieder zu lassen. Etwas Pause von der Schauspielkarriere die er hinter sich hat. Ein simpleres Leben führen, denn es kommt ihm vor wie reine Verschwendung, sich rund um die Uhr für die Kamera vorzubereiten. Er wird diesem Häuschen den fehlenden Schliff verabreichen, da ist er sich sicher. Auf der Nordseite wachsen entlang der Fassade bis zum Zaun trockene und stachelige Ranken, die sich zu einem großen Dornenbusch vereinen. Dieser bringt vereinzelt kleine, rote Beeren hervor. Eine davon befindet sich im Schnabel einer Krähe, die auf dem verzweigten Geäst, dieses unfreundlichen Busches hockt.
      „Was machst du da?“, krächzt die Krähe laut und schüttelt dabei ihr schwarzes Gefieder auf.
      Der Waschbär hält inne und schaut zu ihr auf.
      „Guten Morgen die Dame“, begrüßt er sie. „Ich mähe diesen Rasen, wie du siehst“.
      Die Krähe lehnt sich neugierig nach vorne und verschlingt dann noch eine Beere, die sie dabei im Gestrüpp findet. Sie klappert aufgeregt mit ihrem Schnabel. „Interessant. Wieso mähst du anderer Leute Rasen?“. Sie legt den Kopf beinahe 90 Grad auf die Seite.
      „Dieser Rasen ist nicht anderer Leute Rasen. Es ist mein Rasen. Weißt du, ich habe ihn zusammen mit dem Häuschen hier gemietet“, der Waschbär deutet mit der Sichel auf das Gebäude. „Das macht das Grundstück technisch gesehen nicht zu meinem Eigentum, aber ich werde mich doch darum kümmern und es wohnlich machen“.
      Die Krähe hüpft auf einen etwas niedereren Ast des Busches. „Wohnlich, ja?“. Die Krähe schaut sich um. „Dann hast du augenscheinlich noch einen Haufen Arbeit vor dir“.
      „So ist es. Aber sobald ich mit der Arbeit fertig bin kann ich die Füße hochlegen, stolz sein und die gute Zeit genießen“.
      „Interessant“, krächzt die Krähe laut und schüttelt dabei wieder ihr Gefieder auf. „Ich möchte dir helfen, wenn ich im Gegenzug etwas von dieser guten Zeit abhaben kann“.
      „Großartig!“. Der Waschbär freut sich. „Du kannst das Unkraut dort unten an der Fassade mit deinem Schnabel entfernen“.
      Die Krähe gleitet auf den Boden hinab und zusammen kümmern sie sich um den Garten.

      Pünktlich um 8 Uhr, die Sonne ist inzwischen aufgegangen und erhebt sich leicht über dem Horizont, taucht Herr Frauengold über den Trampelpfad auf. Er hat ein Stück Papier in der Hand. Der Waschbär und die Krähe sind soeben mit ihrer Arbeit fertig geworden.
      „Guten Morgen“, sagt der Vermieter und macht dabei eine unbedeutende Geste mit der Hand.
      „Einen guten Morgen wünsche ich ebenso Herr Frauengold“, grüßt der Waschbär zurück.
      „Grüße!“, krächzt die Krähe.
      „Ach du liebe Güte! Sie haben schon Besuch?“
      „Ja, und sie hat mir dabei geholfen mich um den Garten zu kümmern“, antwortet der Waschbär.
      „Genau. Und jetzt werde ich die gute Zeit hier genießen“. Die Krähe flattert aufgeregt auf der Stelle.
      „Das bedeutet, Sie wohnen hier nicht mehr allein?“. Der alte Mann schaut auf die Krähe hinab.
      „So ist es. Ist das nicht großartig?“.
      „Naja, wenn das so ist“, beginnt Herr Frauengold. „Muss ich wohl die Miete noch etwas anpassen. Mehr Abnutzung des Mietgegenstands, Sie verstehen? Sagen wir 400“
      „Oh das wird nicht nötig sein Herr Frauengold. Das Häuschen ist ja schön und gut, aber man muss noch viel Arbeit hineinstecken. Ich habe nachgerechnet und die Renovierungskosten würden eine Mietsenkung von 50 decken“.
      „Eine Mietsenkung von 50? Also Sie meinen 300? Inakzeptabel!“. Herr Frauengold schlägt in die Luft.
      „Sie haben Recht“, gibt der Waschbär zu. „Wir treffen uns in der Mitte. 350 halte ich für angemessen“.
      Der alte Mann knickt wieder ein und stimmt zu. Er legt das Stück Papier auf einen kleinen Gartentisch. „Das ist der Mietvertrag. Ich habe alle wichtigen Absätze mit einem Textmarker markiert. Die Miete ist im Voraus fällig, ich werde sie im Laufe der Woche abholen kommen. Zu unterschreiben ist ganz unten“. Herr Frauengold zeigt irgendwo auf das Dokument. „Ich bitte Sie beide zu unterschreiben.“
      Der Waschbär und die Krähe überfliegen den Vertrag und setzen ihre Unterschriften auf die vorgesehene Linie.
      „Dann wünsche ich Ihnen noch einen schönen Tag“, verabschiedet sich Herr Frauengold und macht sich mit dem Mietvertrag in der Hand wieder auf den Weg.
      „Schade… Halten von Haustieren untersagt“, zitiert die Krähe einen Absatz.

      Tag 3

      Der Waschbär und die Krähe haben den Garten vor und hinter dem Häuschen wieder auf Vordermann gebracht. Die Krähe sät gerade noch ein paar Rasensamen im Vorgarten an den Stellen, an denen kein Gras wächst und der Waschbär studiert am Gartentisch Die Hausfrau.
      „Hast du gewusst, dass Butterschmalz nicht nur zum Kochen verwendet werden kann?“, fragt er die Krähe.
      „Interessant“, antwortet sie, drückt mit ihrem Schnabel ein Loch in den Boden und lässt ein paar Samen fallen.
      „Apropos. Uns gehen die Vorräte zu Neige. Wir müssen dringend einkaufen gehen“. Der Waschbär schlägt die Lektüre zu und reißt sich ein Stück Papier davon ab. „Mal sehen, was könnten wir brauchen?“
      „Nüsse und Früchte“, überlegt die Krähe. „Brot? Nuss-Frucht-Brot?“
      Der Waschbär schreibt eifrig mit und drückt der Krähe den Zettel, der nun einiges Gemüse, Gewürze, Käse, Wurst und Fleisch auflistet, in den Schnabel.
      „Meinst du, du kannst das besorgen?“. Er hängt ihr seine Geldbörse um. „Das Geld müsste reichen“.
      „Klar, ich kümmre mich drum“, und die Krähe fliegt davon.
      So wie das Flattern der Krähe leiser wird, ertönt ein näherkommendes Summen. Am Zaun entlang auf der Straße läuft jemand.
      „Schönen Tag!“, grüßt die Katze über den Zaun. Sie hat weißes Fell und graue Akzente auf Kopf und im Nacken.
      „Schönen guten Tag!“, ruft der Waschbär zurück und tritt näher an den Zaun heran, um ein Gespräch zu fördern.
      „Du bist also der neue Mieter? Ich habe davon gehört, dass das alte Haus endlich wieder bezogen wurde und wie ich sehe warst du schon fleißig“. Sie macht mit dem Kopf eine Bewegung in Richtung Garten.
      „Stimmt, die Krähe und ich wohnen hier zusammen. Wir teilen uns das Haus und die Arbeit. Was führt dich hierher?“
      „Ach ich… Ich bin nur neugierig. In der Nachbarschaft ist nicht viel los. Gar nichts, um genau zu sein. Und so habe ich mir gedacht, ich schaue mir an wer so verrückt war dieses Haus zu mieten. Weißt du, der alte Mieter ist gestorben. Schon lange her. Es war ein junger Mann. Der oft in der Mine auf der anderen Seite des Baches nach Erz gegraben hat, dort hinten im Wald“. Sie versucht am Häuschen vorbei auf den Wald zu zeigen. „Und dort wurde auch seine Leiche gefunden. Man sagt er hatte Würgemale am Hals“.
      „Ich hoffe Geschichte wiederholt sich nicht, denn ich habe vor hier noch eine Weile wohnen zu bleiben“.
      „Ich frage mich, wieso du dir diesen trostlosen Ort ausgesucht hast“. Die Katze zeigt auf das andere Haus gegenüber. „Das ist das einzig andere Haus in dieser Straße. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, das ist ein Lebkuchenhaus, weil seine Bewohner so aktiv wie Lebkuchen sind“.
      „Na wenn das hier so eine trostlose Gegend ist, wieso sorgen wir dann nicht für etwas Stimmung hier? Ja richtig, wir veranstalten eine Feier! Eine Einweihungsfeier!“, der Waschbär schnipst mit den Fingern. „Katze, bring all deine Freunde mit. Am Wochenende ist für Trunk und Speis gesorgt“.

      Tag 6

      Es ist Samstagabend und es dämmert schon. Draußen ist es kühl, aber angenehm für einen Dezembertag. Im Garten hinter dem Häuschen ist ein Buffettisch errichtet, der allerlei Speisen darbietet. Um einen Gartentisch sind fünf Stühle aufgestellt, die allesamt besetzt sind. Die Katze hat zwei ihrer besten Freunde mitgebracht, um die Einweihung des Hauses zu feiern.
      „Sag, wie kommt es, dass jemand der so fleißig ist wie du hierherzieht?“, fragt der Wackeldackel den Waschbären. „Du könntest woanders groß rauskommen“.
      „Richtig“, wirft die Krähe ein.
      „Wisst ihr, da wo ich herkomme habe ich schon alles erreicht. Ich hatte ein großes Penthouse mit einer gnadenlosen Aussicht über alle anderen Gebäude der Stadt. Man hat mir gekocht und mich chauffiert. Ich habe mein Geld durch Schauspielern verdient und habe in großartigen Filmen mitgespielt“.
      Der im Moment Winterschlaf haltende Bär, dem die Katze eine Currywurst vor die Nase gestellt hatte, grunzt im Schlaf kurz auf. Vielleicht vor Begeisterung.
      „Aber all das ist nichts wert“, fährt der Waschbär fort. „, wenn man nichts davon teilen kann. Zum Feiern hat man kaum die nötige Zeit. Meine einzigen Kontakte waren Geschäftspartner und mein Manager. Ihr mögt das Leben hier trostlos nennen, aber es ist immer das, was man daraus macht. Und ich bin froh eure Bekanntschaft gemacht zu haben. Es ist mir eine Ehre!“. Er hebt das Glas zum Prost und alle stoßen an. Der Bär schnarcht teilnehmend.

      „Guten Abend“, grüßt Herr Frauengold in die Runde.
      „Guten Abend“. Der Waschbär erhebt sich von seinem Stuhl. „Welch Freude Sie zu sehen. Nehmen Sie doch Teil an unseren Feierlichkeiten und nehmen Sie sich etwas zu essen.“
      „Danke, aber nein danke“, würgt Herr Frauengold ab. „Von fettigen Speisen bekomme ich Durchfall. Ich verzichte. Ich bin hier wegen der Miete. Haben Sie das Geld zufällig bei sich?“
      „Tja, was das angeht,“ beginnt der Waschbär. „Ich befürchte mein gesamtes Erspartes ist für diese Feierlichkeit draufgegangen“.
      Herr Frauengold fasst sich mit einer Hand krampfhaft dorthin, wo das Herz sitzt. „Machen Sie keine Witze. Denken Sie an meinen Bluthochdruck! Ich leide doch sowieso schon an Arteriosklerose“.
      „Antelefon-Bein-Hose?“, versucht die Krähe nachzusprechen.
      „Nein“, sagt die Katze. „Er sagte Arterio-…“
      „Arteriosklerose!“, schreckt der Bär auf. „Das ist eine Krankheit der Blutgefäße. Eine Arterienverstopfung“, ruft er mit erhobenem Zeigefinger aus, ehe er wieder in seinen Winterschlaf verfällt und dabei rücklinks vom Stuhl kippt.
      „Na schön, treiben Sie das Geld bis nächste Woche auf. Ich werde mich wieder melden“, verabschiedet sich Herr Frauengold und verlässt die Feier über den Trampelpfad.

      Und so endet die erste Woche des Waschbären in seiner neuen Heimat im Schneekirschen-Weg 4/2 zusammen mit seinen neuen Freunden.



      Vaylins Wunderhöhle

      Wunderhöhle

      Die Luft brennt in meiner Lunge, das Atmen fällt schwer, die Augen zugefroren. Ich… ich weiß nicht wo ich bin. Lebe ich noch? Fühlt sich so der Tod an? In meinen Ohren klopft es wie verrückt. Ich würde schreien, wenn ich meinen Mund auch nur ein Stück weiter öffnen könnte. Ich würde meine Hand zur Faust ballen und um mich schlagen, in der Hoffnung etwas zu treffen, das mich aus dieser misslichen Lage befreien kann, doch ich kann nichts tun, rein gar nichts? Wird es so mit mir zu Ende gehen? Gefangen in absoluter Dunkelheit, ohne zu wissen warum. Ein schäbigeres Abtreten ist wohl kaum möglich…
      Doch das Klopfen in meinen Ohren ist in Wahrheit direkt neben mir, keine Einbildung meines schwindenden Geistes. Der Wille kehrt zurück! Es besteht eine Chance, das zu überstehen. Eine Chance zu leben, zu regenerieren, zu genießen.

      Aufgeben kommt nicht mehr in Frage, kämpfen ist angesagt! Meine Muskeln fühlen sich an wie festgefroren. Mein Arm schmerzt, wie ich es nicht für möglich gehalten hätte. Zitternd kann ich ihn anheben, in Richtung des Klopfens, dem sich mittlerweile eine Stimme hinzugesellt hat. Ich fühle meinen Körper, wie nie zuvor. Könnte ich schreien, würde ich schreien. Meine Zunge klebt in meinem Mund fest, fühlt sich an wie abgestorben. Meinen Knochen geht es nicht besser, vor allem meinem Arm. Es tut weh, es tut so schrecklich weh! Was in aller Welt habe ich getan, um diese Pein zu verdienen? Warum gebe ich nicht einfach auf? Ich habe nichts, für das es sich lohnen würde so zu leiden. Sekunde um Sekunde vergeht so langsam qualvoll… Doch die Stimme lässt mich nicht aufgeben. Verstehen kann ich nichts, doch sie schreit nach mir. Soll ich kämpfen? Soll ich weiter den Schmerz unterdrücken? Mein Arm bewegt sich wieder, leichter als zuvor. Da ist er, Widerstand. Was auch immer ich versuche zu greifen, ich habe es erreicht. Meine Finger sind zu steif, um zu fühlen, was ich erreicht habe. Ich presse mich dagegen. Ob ich so in die Freiheit komme? Mein Körper wird leichter, ich kann mich selbst wieder bewegen! Ich drücke mit meinem ganzen Gewicht gegen die kalte Wand, bis… sie nachgibt!

      Ich stolpere in die Freiheit, immer noch nicht Herr meiner Sinne. Ein Schritt, ein zweiter und schon stolpere ich. Die kalte Luft klärt sich aus meiner Lunge, ich huste meine Seele hinaus. Fertig damit, reibe ich meine Augen. Ich will wiedersehen, sehen wo ich bin, wo ich mich hier hineingeritten habe. Ich blicke mich um. Eine Höhle, merkwürdig dekoriert. Überall stehen kleine, futuristische Kammern, gehüllt in blaues Licht. Mittendrin Ein Sofa, das seine besten Tage schon hinter sich hat.

      “Also vom Winterschlaf erwacht?”, fragt die Stimme, ich erkenne sie. Ein Mann mittleren Alters steht vor mir mit einer Tasse in der Hand. “Für mich?” erwartungsvoll strecke ich meine Hand nach dem Glas aus. Das braucht mein trockener Hals jetzt, leider wird es mit einem “verdammt, nein!” verwehrt. Was?
      “Du hast schon genug zerstört, dann lass mir wenigstens meinen Pharisäer.”, entgegnet er, während er sich lässig aufs Sofa setzt. “Was… zer… stört?” mehr kriege ich nicht hinaus. Jeder Laut brennt in meiner Kehle. Der Mann lehnt sich nach vorne, schaut mir streng in die Augen und beantwortet meine hervorgekeuchte Frage: “Mein Feng-Shui”

      Die Esoteriker haben die Welt erobert. Unsere Welt! Seine Antwort raubt mir die Luft, die ich nur schwerhalten kann. Mein Husten dauert abermals Minuten, bis es sich beruhigt. Vor meine Füße rollt eine Wasserflasche. Ich will aufschrauben und sehen, ob er sie mir geschickt hat, doch ich giere zu sehr nach dem Wasser. Hastig öffne ich sie und trinke, bis sich mein Spiel mit dem Husten erneut wiederholt. “Alle guten Dinge sind drei”, kann ich aus Richtung Sofa hören.
      Ich trinke nochmal einen kleinen Schluck und sammle mich für einen Moment. Mit viel Konzentration stehe ich auf und gehe Richtung Sitzgelegenheit. Seine Tasse ist mittlerweile leer, wie er mir zeigt. Ich stehe ihm gegenüber und frage, was mir auf der Seele brennt: Wo bin ich und was ist passiert?

      “Also das legt ja schonmal nahe, dass du weißt wer du bist. Bravo!” er hebt mir sein Glas entgegen, als würde er mit mir anstoßen wollen “Allerdings wüsstest du dann auch, was passiert ist und könntest dir auch denken wo du bist, wenn man deinen IQ nicht von der Uhr ablesen kann, hm?” Wer bin ich? Ich kenne meinen Namen, meine Laufbahn und meine Vergangenheit. Genau deswegen kann ich mir nicht erklären, was mich hierhergeführt hat. Ich war durchschnittlich in jeder Kategorie, nicht herausragend in irgendeiner Definition. Wie konnte ich hier landen? Meine letzten Tage sind unklar.
      “Genug gegrübelt, folg mir.” mein “Retter” steht auf und eilt in einen Tunnel. Ich gehe hinterher. Ich meine, welche Wahl habe ich? Hier sitzen oder einen anderen Weg einschlagen würde mich kaum weiterbringen. Was ich nun brauche, sind Antworten.

      Nach Minuten voller Schweigen kommen wir an einer Klippe an und die Aussicht ist unbeschreiblich. Ich werde es trotzdem versuchen: Die Höhle endet in einem kleinen Vorsprung aus braunem Stein. Unterhalb, mindestens 100 Meter, ist nichts weiter als ein Sandmeer, gehüllt in Rot von der Sonne, die bereits tief am Horizont steht. Alles funkelt, glitzert, leuchtet.
      Nur eins stört mich, die Größe der Sonne. Sie kommt mir so unnatürlich nah vor. Als würde sie jeden Moment herabstürzen. “Sind wir noch auf der Erde?” - “Sie dich genau um. Nein, natürlich nicht. Nach dem Fallout haben wir noch versucht in dieser Endzeit zu überleben, bis wir irgendwie Raketen bauen konnten, die uns zu einer weit, weit entfernten Galaxie brachten. Diesen Wüstenplaneten haben, als Erinnerung an alte Klassiker, Tatooine genannt. Was du gerade siehst, ist die dritte Abendsonne. Wenn du zum Aufgang der zweiten Sonne Richtung erste Sonne läufst, kommst du nach vier Tagen in Mos Eisley an. Wenn du Glück hast, spielt vielleicht die Cantina Band für dich.” Ich brauche einen Moment zum Verarbeiten. Wie könnte das alles passieren? Bin ich so in dieser merkwürdigen Kammer gelandet? Als Passagier, der nie geweckt wurde? Mir fehlen die Worte.

      “Gut, da wir den Unsinn nun hinter uns haben, soll ich dir erzählen was wirklich passiert ist?” Was? Wie? “Das war nur ein Scherz?”, frage ich verwundert. mein Herz rast von Sekunde zu Sekunde mehr. Kann ich endlich erfahren was hier vor sich geht?
      “DU HÄTTEST MIR DAS GEGLAUBT?” Er starrt mich mit offenem Lächeln an. Ich drücke ein leises “Ja” hervor und schaue in eine andere Richtung. Ich möchte nicht wissen wie rot ich gerade geworden bin. Und sein Gesichtsausdruck macht mir ein wenig Angst. Er wirkt wie ein Golem, dem halbherzig Leben eingehaucht wurde und nun seine Gesichtsmuskulatur zum ersten Mal austestet. Gruselig.
      Und nun ist er in einen Monolog vertieft. Ich kann hören wie er vor sich hin grummelt, dass er wohl doch Autor hätte werden sollen und weiterer Schwachsinn. Ich räuspere mich, unauffällig auffällig. Er schaut wieder zu mir und erkennt, dass er wohl wieder anfangen sollte zu erklären was passiert ist. Immer noch mit einem golemartigen Gesichtsausdruck.

      Er setzt sich im Schneidersitz an die vorderste Kante, die Sonne halb untergegangen direkt hinter ihm. Er wirkt ein wenig wie ein Guru, der dir erklärt wie eine Umstellung deiner Ernährung den Klimawandel stoppen wird, bevor er mit Aladdins fliegendem Teppich im Sonnenuntergang verschwindet. Muss am leicht ergrauten Bart liegen.
      Ich ergreife das Wort. Ich will wissen, wo wir wirklich sind. “im Tal der Könige”, ist diesmal seine unlustige Antwort. “Ja, hab' ich mir gedacht, als der erste Ahnengeist an uns vorbei geschwebt ist.” Er ist sichtlich beeindruckt. Denkt wohl, ich habe seinen Humor verstanden und würde darauf einsteigen. In Wahrheit bin ich sarkastisch und genervt. “Erzähl die Wahrheit”, sage ich so ernsthaft, wie es mir mein erschöpfter Körper erlaubt “bitte.” Er grübelt. Schweigt noch eine Weile. “Falls du wirklich Autor werden willst, solltest du lernen, wann man einen Witz beendet und wann man mit den wichtigen Dingen weitermacht.” Damit habe ich ihn wohl überzeugt.

      “Die Wahrheit wird dir nicht gefallen.”, sagt er mit erstmals wirklich ernster Miene “Sonst könntest du dich schon daran erinnern.” Das ist mir egal. Ich dachte heute bereits, dass ich sterben werde, durchs Weltall zu fremden Galaxien gereist bin und einem Golem-Guru auf einem Wüstenplaneten gegenüberstehe. Ich bin es leid.
      “Nun gut. Als die ersten Kryokammern entwickelt wurden, kamen viele Bedenken auf, ob sie überhaupt für Menschen geeignet sind. Laut den Physikern sind sie sicher, klar, aber welche Langzeitfolgen wird es wirklich geben? Also wurde in… sagen wir weniger menschenrechtfreundlichen Ländern nach ersten Versuchskaninchen gesucht. Da kamst du wohl irgendwann ins Spiel. Warum du dich dafür gemeldet hast? Keine Ahnung. Ich kann dir nur erzählen, warum du ausgesucht wurdest.”
      Ich bin also ein Versuchskaninchen, ein Testlauf für die Wissenschaft. Aber wie kam ich in diese Höhle? Und warum wurde ich ausgewählt? “Willst du es wissen?”, fragt er mich, nun mit einem traurigen Blick. Ich nicke.

      “Um ausgewählt zu werden, muss man austauschbar sein. Nicht auf gentechnischer Ebene, sondern sozial. Keine Verwandtschaft, die einen vermissen könnte. Keine Freunde, die fragen wo du bist. Man muss komplett allein sein. Du hast niemanden, nur deswegen dürftest du in die Kammer.”
      Ich habe niemanden. Ich bin völlig allein. “Und wie komme ich zu dir? Und was hast du damit zu tun?” sind die Fragen, die noch offenstehen, während mein Herz blutet und mich erinnert, wie einsam ich war. Er schaut weg. “Bereit für einen weiteren Knaller?” Er will mich nicht ansehen. “Sprich weiter” Eigentlich will ich es gar nicht mehr hören.

      “Das Experiment galt als gescheitert, die geheime Forschungseinrichtung wurde verlassen. Du würdest für tot erklärt und einfach da gelassen. Ich? Ich bin nur ein einfacher Räuber, mit meinem Kamel durch die Wüste geritten und hab' dich gefunden. Als Langeweile wollte ich eine Kapsel an meinen kleinen Stromgenerator anschließen und du bist aufgewacht. Als Einzige. Die anderen sind… höchstens noch als Eiswürfel für einen Drink von Nutzen.” Ich wurde also für tot gehalten, habe irgendwie durch zufällig überlebt, ein Bandit hat mich mitten im Nirgendwo gefunden und dann in sein Nirgendwo gebracht.

      “Aber woher weißt du dann über all das so gut Bescheid?” - “Ein Forscher hatte vergessen seine Festplatte zu löschen und ich bin ein neugieriger Mensch, wie hätte ich dich sonst gefunden?” Ernsthaft? “Du bist einfach so dort hineinspaziert, hast alles über die Experimente nachgelesen und wolltest dann ein paar Kryokammern klauen, um deine Bude damit zu schmücken? Wie soll ich dir das glauben?” “Gut, erwischt”, er atmet erleichtert auf “In Wahrheit hat mir der Dornenbusch dort drüben alles erzählt.” Er zeigt zur Seite. Da ist kein Busch. “Glaub was du willst, ich bin genauso überfragt wie du.” Er steht auf und geht in den Tunnel zurück. “Ich kann dir nur sagen, was ich weiß.” Ich bin entzürnt, geladen. Dieser Tag ist zu viel für mich. Ich gehe ihm hinterher, greife seinen Hals und drücke ihn gegen die Wand. “Was weißt du denn schon?!” ich verleihe meiner Wut Ausdruck. Er wehrt sich nicht wirklich, während ich ihm jede Beleidigung an den Kopf werfe, die mir in den Sinn kommt. Nach nur ein paar Minuten fällt mir nichts mehr ein. Er drückt mich weg und schnappt nach Luft. “Was habe ich ein Glück, dass du noch nicht bei vollen Kräften bist, sonst hätte ich jetzt mehr Probleme als ein paar Würgemale.” Er reibt sich den Hals. “Abreagiert?”, fragt er mit einem leichten Lächeln. Hat er meinen Wutanfall nur hingenommen, damit ich mich beruhige? “Komm, ich mach uns Essen.” Er geht normal weiter, als wäre nichts passiert. Was stimmt nur nicht mit ihm?

      Mein Magen zwingt mich ihm zu folgen. Ich vertraue ihm kein Stück, aber ohne ihn bin ich hier wohl verloren. Fast genauso verloren wie seine Kochkünste, denn mehr als wabbliges Fladenbrot und vertrocknete Weintrauben kriege ich nicht serviert. Ich verschlingen trotzdem alles gierig, während er mir seelenruhig gegenübersitzt. Irgendwann fängt er an von sich zu erzählen: “Weißt du, ich bin nicht einfach nur ein Pappmaul”, ist sein erster Satz. “Ich bin recht gut belesen, habe mich von den Weltreligionen wie dem Koran über die zehn Gebote bis zu Lovecrafts Fantasyromanen geschlagen. Ohne dass mir jemand etwas beigebracht hat. Jemals. Ich habe alles aus Neugier und adaptiven Verständnis gelernt. Wenn ich in einer anderen Welt, oder nur einem anderen Land geboren worden wäre, hätte ich alles getan, um selbst einer der Wissenschaftler zu werden, der an dir herumgedoktort hat. Ich hätte dir zum Beispiel keine Geschlechtsumwandlung verpasst.” Ich habe mich verschluckt. Bitte was? “Ach komm, so langsam solltest du meinen Humor verstehen!” Was ein merkwürdiger Mensch.

      “Das Labor, aus dem ich dich habe, wird in zwei Tagen gesprengt. Das solltest du vielleicht noch wissen. Ich schätze, deswegen waren die Sicherheitsvorkehrungen auch so niedrig.” Er steht auf und fühlt sich sein Glas nach. Das Wasser schmeckt leicht nach Meersalz. “Wie überlebt du hier draußen?”, frage ich, als letzte Frage des Abends. “Mit Glück. Ich habe mir vor ein paar Jahren ein Kamel entführt und reise damit umher. Weil ich auf einem Tier angeritten komme, hält mich niemand im ersten Moment für einen Räuber und bis sie es bemerken, habe mich genug Vorräte für ein paar Wochen.”

      “Und dein Feng Shui?” “Mein Feng Shui ist mein Humor, komm schon, soll ich erst einen Tee mit Bowser und Super Mario herrichten, damit du endlich verstehst, dass ich mich über alles im Leben lustig machen muss, um es zu ertragen?” Ein… interessanter Ansatz ein Leben zu leben. “Sag, kannst du mich zu dem Labor bringen? Ich glaube, ich habe da noch etwas zu erledigen…”
      I wasn't playing baseball, no!
      I wasn't playing football, no!
      I wasn't playing basketball, noo!
      I was playing Class War!

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    • Hallo, ich fang dann einfach mal an und hoffe, es passt diesmal alles in einen Post! Ich bin der Reihe in der PDF nach vorgegangen mit Lesen und Feedback schreiben.

      Abbel
      Erster Eindruck: Omg, der staubtrockene Humor!
      Inhalt: Was mir als Erstes auffiel und auch im Gedächtnis blieb, war definitiv der im Ersteindruck schon erwähnte trockene Humor. Entschuldigung, bei der Stelle mit der Katze, die das Traum-Ich jetzt auch nicht mehr hat, musste ich meinen Tee ausspucken :D Ansonsten fand ich den Inhalt interessant und da nicht so viel "Außergewöhnliches" (mangels besserer Wörter) passiert, lässt es sich auch sehr gut lesen. Einige Stellen fand ich auch, obwohl ich nie in der Situation war, sehr relatable, zum Beispiel das mit dem Winterschlaf, aus dem man aufwachen möchte, wenn einfach alles wieder gut ist. Beim ersten Lesen dachte ich, dass mir irgendwas fehlt, den Schluss fand ich irgendwie zu offen und mir fehlte irgendwie die Pointe, aber jetzt, nachdem ich es erneut gelesen habe, finde ich den Schluss eigentlich sehr passend. So liest es sich wie ein Auszug aus diesem doch recht besonderen Tag im Leben der Protagonistin, der einfach so für sich stehen kann, ohne jetzt unbedingt eine Moral haben zu müssen. Auch wenn ich schon gerne noch mehr gelesen hätte! Zum Beispiel, ob der Tripsitter noch an seinem Humor arbeitet oder was aus der hübschen Psychologin so wird. Hihi. Oh, auch super fand ich den Running Gag mit "Die Psyche? (TM)!
      Stil: Der knappe Stil passt eigentlich ziemlich gut zum trockenen Humor. Hier und da sind ein paar doppelte Wörter (wahrscheinlich Tippfehler) und durcheinander geworfene Zeitformen, aber Letzteres könnte man ja auf Medikamente oder die Psyche der Protagonistin schieben, hm.
      Assoverwendung: Die Assoverwendung fand ich 1a. Ich hab nur eine erkannt und das war Stinketofu, die ich ja selbst vergeben hab. Sie war aber sehr gut eingebaut. Ansonsten ist mir nichts ins Auge gestochen, auch die Würgemale und der Dornbusch waren echt gut eingebracht (das war auch so random, als der Typ einfach in den Dornbusch geschubst wurde, hat mir irgendwie gefallen.)
      Gesamteindruck: Alles in allem solide gearbeitet, vor allem mit den Assos, ich hätte auch gern noch ein paar Seiten mehr davon haben können.
      Lieblingsstelle:"Zum Glück hab ich eigentlich keine Katze, aber die hat mein Traum-Ich ja jetzt auch nicht mehr."


      CAMIR
      Erster Eindruck: ODIN UND DIE SNICKERS!
      Inhalt: Es hat Ernas Ernigkeit, es hat Alexanders und Odins absolut geniale Schwiegersohn-Schwiegervater-Dynamik, es hat die lieben Trolle und es hat einen schrulligen neuen Bösewicht - es hat also alles, was eine Erna-Story so braucht. Wir haben ja schon ein wenig drüber gequatscht; in gewisser Weise kann man sagen, es ist ein bisschen die gleiche Story wie letztes Mal, nur mit ein bisschen anderen Charakteren. Nächstes Mal wünsche ich mir also wieder was Abgefahreneres mit Zerstörung, Chaos, Feuer und co. :D Nee, aber Spaß beiseite, sehr solide gearbeitet. Am tollsten fand ich natürlich die Szene, in der Odin in Alexanders Haus spaziert und sich so richtig fies breit macht und dabei noch den überheblichen Besserwisser raushängen lässt. Alexanders Verzweiflung war förmlich greifbar. Und was macht Odin? Stopft sich mit Snickers voll. Erstens lieb ich den Running Gag, zweitens ist mir beim zweiten Lesen dann aufgefallen, dass er die nicht mal selbst mitgebracht hat, sondern die eiskalt aus Alexanders und Ernas Snackschale klaut, bis die leer ist! Da musste ich doch sehr lachen. Den neuen Bösewicht fand ich auch lieb; ich hätte gerne noch mehr über ihn erfahren, zum Beispiel, warum er sich diese Tarnung ausgesucht hat und was er jetzt genau mit Edda vorhat. Das Ende ging mir ein bisschen zu schnell, da hätte ich gern noch mehr gelesen und hätte mir gewünscht, dass Robin vielleicht etwas länger braucht, bevor er von der Freundschaft überzeugt ist. Aber trotzdem freu ich mich drauf, ihn in zukünftigen Geschichten wiederzusehen.
      Stil: Ich mag den Stil mit den wechselnden Zeiten und Orten. Das hat es für mich beim ersten Lesen richtig spannend gemacht. Zwar war mir schon irgendwie klar, dass Edda ja nicht tot sein kann (auch der Titel lässt es erahnen), aber trotzdem hat es mich doch sehr dazu angetrieben, weiterzulesen, weil ich wissen wollte, was jetzt genau passiert war. Gegen Ende war das Pacing dann ein wenig seltsam, aber ich kann's nicht so genau in Worte passen. Ich glaub, das Ende ging mir zu schnell, der Bösewicht wurde irgendwie zu schnell überzeugt.
      Assoverwendung: Zwei sind mir aufgefallen, der Fixateur externe (aber das ist auch ein wirklich fieses Wort, das man so im Alltag einfach nicht benutzt) und die Postangst (gleiche Begründung eigentlich). Nicht, dass die Assos nicht gepasst hätten, aber sie fielen halt auf. Dafür wurden aber alle verwendet und das find ich natürlich super. Vor allem die Russenmafia fand ich absolut grandios eingebaut, musste sehr lachen.
      Gesamteindruck: Solide Story, toller Stil, gute Assoverwendung; für nächstes Mal wünsche ich mir nur etwas mehr Innovation und Verrücktheit. Aber das ist Jammern auf hohem Niveau.
      Lieblingsstelle:"»Willst du deine Frau nicht zurück?«, fragte Odin, schälte das Snickers und warf es sich am Stück in den Mund."


      pondo
      Erster Eindruck: Spannend!
      Inhalt: Wie schon im Ersteindruck angedeutet, der Spannungsaufbau war gerade am Anfang super. Madeleine finde ich als Charakter sehr gelungen und glaubwürdig, Gaby ist ebenfalls sehr authentisch gelungen. Die kleinen Einwürfe hier und da bzgl. Paul haben mich als Leser schon Ungutes erahnen lassen, ohne zu viel zu verraten. Auch die Andeutungen auf den Rassismus, den Madeleine offensichtlich, wie man ja später erfährt, von ihren Schwiegereltern und Paul aufgeschnappt hat, hinterlassen ein ungutes Gefühl, das einen sehr dazu bringt, weiterlesen zu wollen.
      Dann die Kneipenszene, in der sich auch langsam immer mehr Abscheu vor Paul und seinen Freunden aufbaut, was dann ja in Pauls Angriff auf Madeleine endet und ihn endgültig zum absolut ekelhaften Unsympathen werden lässt - großartig gearbeitet.
      Die Szene danach ist vielleicht meine Lieblingsszene; man merkt (vor allem beim zweiten Lesen), dass Gaby eigentlich doch noch was an Madeleine liegt und sie ihr eigentlich helfen will, gleichzeitig merkt man, dass Madeleine selbst nicht so genau weiß, warum sie tut, was sie tut und die Ansichten vertritt, die sie vertritt. Man versteht noch besser, dass sie einfach nachplappert, was sie zu Hause so hört.
      Ja, und ab dann verläuft sich das Ganze für mich irgendwie so ein bisschen. Die darauf folgenden Szenen find ich auch immer noch gut geschrieben und interessant, aber irgendwie... hört es mir zu früh auf? Fehlt mir irgendwie die Pointe? Klar, es geht wohl irgendwo um dieses Im-Moment-Leben, das Gefühl von Freiheit, das die anderen Madeleine bei der Party beibringen. Aber ich als Leser denk mir halt... Scheiße, die hat das Schlimmste noch vor sich. Was passiert als Nächstes? Wie wird Paul reagieren? Wie wird ihr Leben weiter verlaufen? Sie wohnt ja bei Paul und dessen Eltern, also scheint's bei ihr zu Hause ja nicht gut gelaufen zu sein? Wo geht sie hin? Zu Gaby wohl kaum, das wäre irgendwie zu klischeehaft und passt ja mit Gabys Hintergrund auch nicht so recht zusammen. Hm. Und das sind so Fragen, die mich dann beschäftigen, denn in dieser ja doch recht langen Geschichte ist mir Madeleine schon ein bisschen ans Herz gewachsen und ich frag mich, wie es ihr weiter ergehen wird. So fühlte sich der starke Aufbau für mich irgendwie zu abrupt abgebrochen an, was ich irgendwie sehr schade finde. Denn die Charaktere fand ich total stark, wie gesagt, alle sehr glaubhaft, auch die, die eigentlich nur ganz kurz vorkommen; ein Highlight für mich war beispielsweise Marie auf der Party, die hat mich total an unsere Barfrau erinnert. :D
      Auch fand ich, dass ein paar schöne Themen aufgegriffen wurden, zum Beispiel eben dieses Gefühl von Freundschaft und Freiheit und auch, dass nicht alle Nazis mit Keulen und Springerstiefeln rumlaufen, sondern dass es halt auch heute noch viele "casual" Nazis gibt, wie zum Beispiel Pauls Eltern, die jetzt nicht offensichtlich kriminell oder "böse" sind, aber trotzdem ja problematisch. Nur hat mir am Ende irgendwie so die Quintessenz gefehlt, die alles zusammenführt.
      Den Abschnitt am Ende mit der Erklärung zu den Liedern fand ich übrigens auch nett! Ich bin schon im Text selbst über Claudia, die ihren Hund so lieb hat, gestolpert. Iek! :D
      Stil: Stilistisch wie immer eigentlich nichts auszusetzen. Einzig eine Sache fiel mir stark ins Auge, und zwar in der Szene, in der Gaby erzählt, was damals bei der Kirmes geschehen ist. Komplett im Präteritum. Klar ist das die Form der Wahl fürs Geschichtenschreiben, aber... ich weiß nicht, wenn ich was erzähle, dann eigentlich immer im Perfekt. Und da wir es hier mit einer Zwölfklässlerin zu tun haben, fällt es mir noch schwerer zu glauben, dass sie sich so ausdrücken würde. Hier hätte ich es glaub ich besser gefunden, wenn das Ganze einfach vom Erzähler aus Gabys Perspektive beschrieben worden wäre oder aber wenn Madeleine sich doch dunkel erinnert hätte oder ihre Erinnerung langsam zurückgekommen wäre, eventuell mit ein paar Hints von Gaby. Aber so wirkte dieser lange, im Präteritum erzählte Abschnitt ein bisschen off. Ergibt das Sinn?
      Assoverwendung: Mir ist keine aufgefallen, waren alle mega souverän eingearbeitet. Haben auch glaub ich ziemlich gut zusammengepasst, oder? :D Pluspunkte natürlich für die Verwendung aller Assos. Sogar die Blockflöte 1a eingebracht.
      Gesamteindruck: Sehr guter Spannungsaufbau, schöner Stil, authentische Charaktere; mir persönlich fehlt am Ende so ein bisschen das "Ok, und jetzt?"
      Lieblingsstelle:"»Ich gehör zu den besoffenen Russen da drüben!« "


      Crèx
      Ersteindruck: Was für ein genialer Titel!
      Inhalt: Ja, wie schon gesagt, das könnte der schönste Titel sein, den meiner Meinung nach je eine BFS hatte. Der macht einfach schon total Lust aufs Lesen und lädt irgendwo auch zum Träumen ein.
      Beim ersten Lesen war ich mir nicht sicher, ob ich die Geschichte verstanden hab. Nach dem zweiten Lesen bin ich mir nicht sicher, ob man sie wirklich verstehen muss. Die Atmosphäre ist jedenfalls sehr gut ausgearbeitet, ich kann mir alles richtig gut vorstellen. Die nachkriegszeitlich anmutende Szene am Anfang, die wuselnde Bahnhofshalle und vor allem das Grundstück im Schneekirschenweg, alles ganz wundervoll beschrieben, man möchte direkt ein Gemälde dazu malen.
      Der Waschbär als Protagonist ist sehr süß und sympathisch. Außerdem haut er ein paar echte Kracher raus, die mich beim zweiten Mal immer noch sehr amüsiert haben; wie er beispielsweise den Vermieter übers Ohr haut beim Verhandeln des Mietpreises - und das gleich zwei mal, einfach super. Der Vermieter selbst ist dabei auch überaus gut gelungen, find ich, man kann ihn sich sehr gut vorstellen und er wirkt trotz der gewollten Schrulligkeit immer noch glaubwürdig. Die anderen Tiere haben für mich auch gut gepasst, sie haben mit ihren Charaktereigenschaften (die auch in Fabeln passen würden) den Waschbären gut ergänzt.
      Ja, und insbesondere die Atmosphäre muss ich einfach noch mal erwähnen. Gerade, wie die neuen Freunde alle zusammen, als ob sie sich schon lange kennen, im frostigen Dezember zusammen im Garten sitzen, der ja noch viel Arbeit benötigt, um wirklich wohnlich zu sein, und einfach die Zeit genießen, das war irgendwie einfach schön.
      Leider hatte ich mit der Geschichte das gleiche Problem wie mit einigen anderen in dieser Runde auch, sie hat mir zu abrupt geendet. Ich könnte mir ohne Weiteres vorstellen, ein ganzes Buch zu lesen, in dem erzählt wird, wie es mit dem Waschbären weitergeht im Schneekirschenweg, wie er sich das Haus herrichtet, gerne auch noch mehr aus seiner Vergangenheit (für die BFS fand ich die kurzen Schnipsel durchaus ausreichend)... kurz, es wirkt wie ein Kapitel aus einer größeren Geschichte, das Lust auf mehr macht, aber in sich irgendwie unvollständig wirkt, weil es keinen rechten Höhepunkt hat. Und den braucht es auch eigentlich nicht, wenn es wie gesagt der Auftakt zu was Größerem ist, und irgendwie kann ich nicht anders, als es als solchen zu lesen. Ergibt das Sinn? Langer Rede kurzer Sinn: Mehr vom Waschbären, bitte!
      Stil: Hier und da sind ein paar kleinere Tippfehler, Zeitendreher und dergleichen drin, nichts, was man mit noch mal Korrekturlesen nicht wegbekommen würde. Aber ansonsten finde ich's stilistisch wieder top. Du kannst einfach sehr gut schreiben und besonders gut Atmosphären einfangen, und das ist dir auch in dieser Geschichte wieder richtig gut gelungen.
      Assoverwendung: Ich fand's ja lustig, dass in dieser Runde neben mir noch einige auf die Idee gekommen sind, eine der schwereren Assos als Nachnamen zu verwenden. :D Ansonsten ist mir glaub ich nur das Lebkuchenhaus aufgefallen, aber auch nur wegen der Aussage dahinter, dass die Bewohner so aktiv wie Lebkuchen seien, das wirkte auf mich irgendwie seltsam. Ansonsten sind alle sehr gut eingebaut, selbst die fiese Keto-Diät, 1a.
      Gesamteindruck: Stilistisch großartig, toller Inhalt, schöne Geschichte, aaaaber ich will mehr davon, bittedanke.
      Lieblingsstelle: "»Unter diesen Umständen beläuft sich der Mietpreis auf 1000 im Monat«.
      »1000?«, fragt der Waschbär. »Das habe ich nicht«.
      »Das Haus ist vollständig möbliert. Ich versichere Ihnen, Sie werden auf Ihre Kosten kommen«.
      »Ich zahle 500«, antwortet der Waschbar und reckt dabei seinen Rücken gerade.
      »Das ist inakzeptabel, ich bitte Sie. Das Haus hat sechs Zimmer, ein Bad und eine Küche auf zwei Stockwerken. Zusätzlich einen Dachboden und diesen Garten«.
      Der Waschbär blickt von dem Mann auf das Haus und wieder auf den Mann. »Tja, sie haben Recht. Wenn sich das Innere des Hauses im selbigen Zustand wie der Garten und die Fassade befindet… Sagen wir 350«.
      Herr Frauengold knickt ein und schluckt. »Na schön, wir sind im Geschäft."


      Vaylin
      Erster Eindruck: ???
      Inhalt: Ok, beim ersten Lesen hab ich irgendwie nur Bahnhof verstanden. Jetzt beim zweiten Lesen weiß ich gar nicht mehr, warum eigentlich; jetzt konnte ich ganz gut folgen. Die Geschichte ist gewohnt absurd, aber irgendwie eigentlich auf eine geile Art und Weise. Erst mal natürlich Bonus-Sympathiepunkte für die Spongebob-Anspielung ("Unsere Welt!!"), da musste ich herzlich lachen! Und irgendwie finde ich es doch beruhigend, dass man in unbestimmt ferner Zukunft immer noch Star Wars kennt, haha. Allerdings hat die Geschichte natürlich auch viele, viele Fragen aufgeworfen. Wie weit in der Zukunft befinden wir uns überhaupt? Und von welchem Zeitpunkt aus überhaupt gesehen? Wann wurde der Protagonist denn eingefroren? Ist wirklich so viel Zeit vergangen? Immerhin versteht der Räuber den Protagonisten ja noch und kennt Star Wars, Super Mario und Bowserund überhaupt... Ist aber glaub ich eigentlich gar nicht so wichtig. Die eigentlich skurril-lustige Geschichte erhält zwischendurch einen unerwartet ernst-traurigen Touch durch den Einschub, dass der Protagonist für dieses Experiment ausgewählt wurde, weil er ganz allein auf der Welt war - und jetzt ist er es quasi wieder. Das fand ich sehr eindringlich geschrieben und hat mich irgendwie nachdenklich gestimmt. Immerhin hat er ja jetzt den Räuber und sein Kamel und sein Feng-Shui (wtf? :D). Das hat ja schon noch Potenzial für weitere Geschichten.
      Beim Ende fühle ich mich leider immer noch ratlos. Der Protagonist will dem Labor, in dem er so lang gefangen war, noch mal einen Besuch abstatten, aber ich habe nicht verstanden, warum. Er will noch etwas erledigen - aber was? Argh, die Ungewissheit! Und ich bin mir nicht sicher, ob das so offen sein soll oder ob ich zu doof war, das zu verstehen, ob ich vielleicht was überlesen hab?
      So oder so, beim ersten Lesen war ich irgendwie einfach nur verwirrt, beim zweiten Lesen hab ich mich aber gut unterhalten gefühlt!
      Stil: War schon stellenweise ein bisschen wirr, noch mal Korrekturlesen hätte gut getan, aber ansonsten gewohnt locker-flockig und flott geschrieben, gefällt mir.
      Assoverwendung: Bowser ist mir ins Auge gefallen, aber jetzt auch nicht großartig negativ; in der skurrilen Prämisse der Geschichte hat sich eigentlich alles gut eingefügt. Ich glaub, den Tigeriltis und die Damplok hättest du da locker auch noch unterbringen können. :D
      Gesamteindruck: Rundes Teil, gut erzählt, ich frag mich immer noch, was der Protagonist jetzt noch vorhat in dem Labor. Mal sehen, ob das Feedback der anderen mich schlauer macht!
      Lieblingsstelle:"Die Esoteriker haben die Welt erobert. Unsere Welt!"

    • Reviewzeit!

      Abbel

      Die Geschichte war ein interessanter Slice-of-Life mit einem wunderbar sarkastischen Ich-Erzähler. Sie gewährte Einblicke in ein Umfeld, von dem ich tatsächlich wenig weiß, weswegen sie auch interessant zu lesen war und ich kann mir gut vorstellen, dass es autobiographisch war. Sprachlich las es sich flüssig, bis auf 2-3 Flüchtigkeitsfehler. Ich bin nur generell kein so großer Freund von Stream-of-Consciousness und fand den Erzähler manchmal etwas zu aggressiv.


      Wons
      Piraten! Die Story hat eine meiner 2 Stimmen bekommen, weil sie so wunderbar verrückt war und sämtliche Klischees gleichermaßen bedient wie auf den Kopf gestellt hat. Ich bin ein großer Fan von der Trope, dass das Tier auf der Schulter in Wahrheit die Fäden zieht (wie der Entenmann bei Terry Pratchett) und so war es ein großer Spaß den schrägen Piratenabenteuern dieser Möwe zu folgen. Hat mich gut unterhalten.


      pondo
      Meine zweite Stimme! Wie ich schon am Anfang schrieb, war ich traurig mit der Geschichte zunächst aufhören zu müssen. Gaby und Madeleine waren als Figuren so interessant, dass man ihre Geschichte wissen wollte, was sie entzweit hat, was vorgefallen war und die kleinen Dorfkonflikte. Ich teile Wons' Kritikpunkte an der Story, auch sagt mir das Milieu nicht so zu. Dennoch war sie bis auf ein paar Typos flüssig und spannend geschrieben.


      Créx
      Der Anfang war wundervoll und ich wollte sofort mehr über die Welt wissen, die du da erschaffst. Atmosphären kannst du ganz wunderbar erschaffen und man war sofort in deiner Welt. Der Waschbär ist eine interessante Figur und ich mag es, wie deine Welt absolut akzeptiert dass da sprechende Tiere sind ohne dass du es erklärst. Dann leider plätschert die Geschichte ohne Höhepunkt vor sich hin und am Ende habe ich mich gefragt, was denn eigentlich ihr Inhalt war. Das verschenkt Potential, schade.


      Vaylin
      Ich gebe zu, ich habe die Geschichte nicht verstanden. Sprachlich war sie in Ordnung, aber leider habe ich nicht verstanden, was ich da gelesen habe und wie ich es einordnen soll. Die Fragen die du selbst stellst, beantwortest du nicht und so bleibe ich ein wenig ratlos zurück. Auch schade.
    • Heya!

      Nach etwas längerer Zeit, als wie immer gedacht, folgen hier nun ein paar resonierende Gedanken meinerseits.

      Abbel

      Fand ich super.
      Die Story ist ein gutes Beispiel dafür, was so Reizwörtergeschichten eigentlich ausmachen: Die Wörter zu einer unterhaltsamen Geschichte zu verflechten, und das in knackiger Kürze (also so ungefähr das Gegenteil von dem, was ich getan habe :D). Das ist meines Erachtens sehr gut gelungen, und auch beim dritten Lesen musste ich bei Einlassungen wie, dass das Traum-Ich auch keine Katze mehr habe, oder dem völlig willkürlichen Schubsen in den Dornenbusch lachen. :D Asso-technisch wirkten nur der "Dreck am Hals", also die Würgemale etwas hingezweckt und die Partymeile hat mich aufhorchen lassen, aber nicht so, dass es mich gestört hat. Der trockene Stil hat dabei schlicht gut amüsiert.
      Für mich der stärkste Beitrag der Runde, hat dementsprechend einen meiner beiden Votes bekommen.



      Wons

      Eine süße Geschichte, bei der mich ein paar Punkte leicht rausgerissen oder irritiert haben, was aber nicht davon ablenkt, dass es einfach eine durch und durch liebevoll geschriebene Geschichte ist.

      Ein großes Plus der Story ist, dass sie so locker-leicht zu lesen ist und sie sich, fast ohne dass es der Leser merkt, in dessen Herz schreibt. Die Story ist einfach durchweg sympathisch.
      Es gibt ein paar Dinge, die mir fragwürdig erschienen, die aber durch den inhaltlichen Kniff, dass es sich zunächst um einen Tagtraum von Edgar handelt und es sich dann auch noch als Kindergeschichten-Beitrag entpuppt, nicht weiter stören. Eventuell hätten sie mich sonst mehr gestört; dass zB die Marionette Edgars nicht viel zu tun hat und eigentlich nicht gebraucht wurde oder dass der Brocken die Crew auf See aufsucht, seine Mannschaft aber daheimgelassen habe (ist er etwa alleine durch die Meere gesegelt?), geschenkt. Ich konnte dadurch aber trotzdem das Gefühl nicht gänzlich abschütteln konnte, dass die Story erst unmittelbar beim Schreiben entstanden ist, also der Gedanke an den Entstehungsprozess immer mal wieder hervorgeblitzt ist.
      Beim Beispiel mit der Marionette wird das daran deutlich, dass anfangs der Eindruck vermittelt wird, dass Edgar die Marionette auch über die Story hinweg brauchen würde; später liest es sich so, als wäre Edgar als Kapitän auch schon zu Anfang unbefangen mir der Crew saufen gegangen (wo sie dann herausfanden, dass er Teil der Wilden Dreizehn werden wollte), ohne dass er die Marionette in irgendeiner Form brauchen würde. Und auch das letzte Ende wirkte auf mich, ich komm gleich noch genauer drauf, ein klein wenig aufgesetzt. Überhaupt nicht schlimm, aber es machte sich - nach meinem Leseempfinden - als leise Disharmonie im Text etwas bemerkbar.
      Allerdings ist das letztlich nicht weiter der Rede wert. Vor allem überwiegt das Wohlgefühl beim Lesen; die Charaktere wirken sehr liebevoll und wie aus einem Comic entsprungen, genauso wie zB das Bild, wenn der Brocken (dessen Namen und Einführung auch super sind) der Windhose entsteigt und aufs Schiff der Crew kommt. Die Farben der Szenerie bzw deren Grafik, die ich automatisch vor Augen hatte, haben mich übrigens frappierend an die aus Wind Waker erinnert. :D

      Dass sich die Piratenhandlung als Binnenerzählung entpuppt, fand ich gut, dass sich dann aber auch das Tagträumen Edgars wiederum auch weitere Ebene der Binnenerzählung entpuppt und die Rahmenhandlung dann die mit der Hausarbeit ist, war natürlich auch okay und hätte vermutlich in einer Nicht-BFS auch nicht gestört. Aber als doppeltes Ende in einer BFS hat es mich etwas irritiert, was daran liegt, dass ich so das Gefühl hatte, dass das vor allem wegen der Assos geschehen ist. Deshalb hat es mich leicht rausgerissen. "Eis" hätte zB auch gut in den letzten Schluss gepasst. Allerdings glaube ich wiederum auch, dass mir das, wie gesagt, in einer Nicht-BFS gar nicht groß aufgefallen wäre, weshalb das Monieren dessen ehrlicherweise schon auch einfach Korinthenkackerei grenzt.
      Speaking of Korinthenkackerei - zu den sonstigen Assos ist zu sagen, dass ich alles wunderbar geschrieben fand - nur "Meuterei" hat mich durch die inhaltlich falsche Verwendung bei jedem Lesen leider rausgerissen. Vielleicht irre ich auch, aber ich glaub, eine Meuterei ist es nur, wenn innerhalb der eigenen Crew gegen den Käptn gemeutert wird, er gestürzt werden soll. Ein befürchteter Angriff von außen wiederum ... hat das einen Namen? Ich weiß nicht. :D Aber es ist keine Meuterei.

      Die Kritik wirkt jetzt vielleicht ausführlich, aber es sind Kleinigkeiten, die nicht schwer wiegen. Die Story bleibt eine liebe, leicht zu lesende Geschichte, die durch guten Stil und liebevolle Figuren hervorsticht. Ich hab ein bisschen überlegen müssen, aber letztlich wars für mich klar, dass die Story den zweiten Vote verdient.



      CAMIR

      Eine gute Fortsetzung der Erna-Reihe mit viel Potenzial. Den Einstieg fand ich besonders spannend, nur entstand dadurch das Problem, dass die Story leider an ihren eigenen Ambitionen scheitert.

      Strukturell fand ich die Story sehr gut: die Perspektiv- und Ortswechsel in der hiesigen Verwendung fand ich sehr passend, sie haben die Story gut vorangetrieben und auch generell las sie sich sehr gut.
      Ich mag es ja blutig und düster, und gerade der Einstieg begann dementsprechend sehr verheißungsvoll, das fand ich super.
      Bis zur Hälfte war ich begeistert und hab die Story innerlich als Favorit gehandelt, aber ab der Szene in der JVA, Mitternacht, als Odin mit Wamm und Wumm und Alexanders zurückkehrte, kippte das dann leider etwas. "Kippen" ist vielleicht ein etwas starkes Wort, beschreibt es aber am besten, weil sich vorher so starke Erwartungen aufgebaut hatten.
      Zum einen blieben bis zuletzt einige Fragen offen, was sich vor allem in der zweiten Hälfte dann bemerkbar gemacht hat (Wieso hatte Erna überhaupt die Sprache verloren? Zu was befähigt es die Kidnapper, ein Wechselbalg zu stehlen? Zu was genau befähigte Alexanders Liebe ihn bzw. die Gruppe, oder anders gesagt, was passierte da genau, abgesehen davon, dass Liebe die wichtigste kosmische Kraft ist? Was sind Schwarzalben für Kreaturen? Wie kam es, dass Wamm und Wumm richtige Freunde von ihnen wurden, nachdem sie schließlich Erna ein Messer in die Brust gestoßen haben - auch wenn Erna ihnen verziehen hat?), und zum anderen vollzieht sich der Wechsel vom grässlichen Bösewicht zum unbescholtenen Dude, der nur Freundschaft will, bei Robin Goodfellow zu schnell.

      Gerade das Letztgenannte geschieht so schnell, dass sämtliche Leiden, die Erna zu erdulden hatte, plötzlich nicht mehr ernst wirken. Außerdem will es nicht so recht zu Ernas lieben Charakter passen, dass zB auch das Wechselbalg, das an Eddas statt getötet wurde, grausam in der Gosse liegen gelassen wurde, nicht mehr von ihr beim Gespräch mit Robin angesprochen wurde. Dazu kommt, dass sich - bei mir im Kopf zumindest - die Schwarzalben durch die düstere Prämisse (Erna mit gebrochenen Knochen auf der Straße, totes Kind daneben) zu furchteinflößenden, dunklen Gestalten aufgebaut haben. Diese werden sicherlich ihre Gründe gehabt haben, das wertvolle Wechselbalg zu stehlen und dazu noch ein furchtbares Verbrechen zu begehen (-> Kindsmord), um Erna einknasten zu lassen - auch wenn ihre genauen, klareren Motive unbenannt bleiben. Dennoch werden sie jawohl ihre Motive nicht so schnell brechen - oder? Dass Erna Robin einfach so vergibt (ein Kind wurde ja dennoch ermordet), kratzt schon an der Grenze des Vorstellbaren, auch wenn Erna anerkanntermaßen gütig und naiv ist. Aber dass auch Robin sofort drauf eingeht, wirkt der ganzen Szenerie nicht angemessen. Zum Schluss dachte ich schon, uh, krass!, als Robin fragt, ob er Edda nochmal halten dürfe, und Erna es erlaubt. Gleich haut er doch mit Edda wieder ab und nutzt Ernas bekannte Gutmütigkeit noch einmal aus! Dass es dann nicht so war, fand ich schade, weil dieser ehrliche Wechsel vom Bösen zum Guten für mich nicht nachvollziehbar war. Unter anderem auch deshalb, weil vorher gesagt wird, dass "die Schwarzalben", Plural, dieses Komplott ausgeheckt hätten. Man denkt, da müsse doch mehr dahinterstecken, als ein Dude, der sich so fix vom Ultrabösewicht, der Kinder tötet, zum Freund von Erna wandelt. Die Story behauptet diese Wandlung, doch konterkariert sie damit auch die vorherigen Ereignisse.

      Das ändert aber nichts daran, dass ich die Story extrem gern gelesen habe. Gerade Odin fand ich super, und irgendwie passt es auch sehr gut, dass er wiederum der Vater einer Tochter ist, die sich eben wie Erna entwickelt hat. Das habe ich schon in der letzten BFS gedacht.
      Ich hatte auch anfangs befürchtet, dass sich vielleicht eine Erna-Müdigkeit einstellen könnte, aber die Befürchtung war aus oben genannten Gründen sofort weggewischt. Vielmehr hat die Story wieder davon profitiert, über eine so reiche Vorgeschichte zu verfügen und auch die kleineren und größeren Anspielungen auf vorherige Storys fand ich sehr schön, wie zB dass Loki ja eigtl für die Schwangerschaft Ernas gewissermaßen verantwortlich war oder dass die Trolle wieder auftauchen, die schon in der letzten BFS für Lacher gesorgt haben. Denen kauft man das "Erna macht Freunde!" auch völlig ab. Was mir in dem Zug noch einfällt: Die Trolle überlegen ja, wie sie den Schwarzalben den Garaus machen können. Hier kommt die Natur der Schwarzalben leider generell etwas zu kurz; die Trolle und Odin schlagen Autounfälle und Bomben vor, doch als mystische Wesen (?) ging ich als Leser davon aus, dass derlei weltliche Gewalt denen doch nichts anhaben kann - obwohl ich wiederum den Trollen und Odin ihre Vorschläge geglaubt habe im Sinne von, dass die wussten, wovon sie sprachen. Das war auch ein kleiner Widerspruch - nach meiner Wahrnehmung. Abgesehen davon fand ich auch die Gewichtung der Rollenverteilung sehr gut. Von Ernas naiver Art hat man schon viel gelesen; dass der Fokus jetzt mehr auf Odin und Alexander lag und Erna trotzdem nicht zu kurz kam, fand ich auch sehr gut.

      Sprachlich und, wie gesagt, strukturell ist die Story generell sehr gut. Asso-technisch habe ich mich jetzt nicht an Fixateur externe gestört; gerade in der Wortstellung (statt bspw. "externer Fixateur") war das hart und trotzdem gut umgesetzt. Das einzige, was mich rausgeworfen hat, war der Insulinpen. Erstens weil man in der beschriebenen Szene viel eher an einen Schlüssel oder Stift denken würde als an einen Insulinpen, und zweitens - wieso hat Odin die Zellentür überhaupt aufgeschlossen? Und wo sind sie hingegangen? Früher oder später mussten sie sich ja doch wieder hinausteleportieren wie zuvor.

      Ja. Letztendlich hätte ich mich wahrscheinlich einfach über eine doppelt so lange Story gefreut. Die Ausgangslage ist top, sie ist atmosphärisch und macht neugierig. Als Odin, Alexander und Wumm&Wamm in Ernas Zelle kommen, geht schon alles etwas arg schnell, und mit Robin Goodfellow bleibt das Storyschiff dann leider auf einer Sandbank hängen, sozusagen.
      Letztendlich hat es mir aber vor allem, beim Lesen und auch jetzt beim Feedback, sehr viel Spaß gemacht, mich mit dem Erna-Kosmos auseinanderzusetzen.



      Crex

      Einfach eine wundersam liebe Story. Ich muss aber zugeben, dass ich auch nach zwei-, dreimaligen Lesen ein bisschen auf den Knall gewartet habe.
      Der Waschbär ist dabei auf jeden Fall ein super Protagonist; und ich find sehr schön, dass er nicht nur einfach ein lieber Kerl ist, sondern schon auch ziemlich schlitzohrig daherkommt, gerade wie er mit dem Vermieter verhandelt oder auch später kaltschnäuzig sagt, dass er jetzt die das Geld habe, die Miete zu bezahlen.
      Die Story las sich durchweg gut, einzig das Gewusel am Anfang am Bahnhof wirkte kurz unübersichtlich. Nur nach dem Lesen bleiben ein paar Fragen offen - ist es wirklich der einzige Grund, dass der Waschbär sein Starleben satthat, dass er dorthin zieht? Verbirgt er nicht etwas - denn sonst könnte er doch gewiss seine Miete pünktlich zahlen, wenn er denn vorher schon so'ne Karriere hingelegt hat? Nach dem Lesen hatte ich deshalb das Gefühl, dass da Konflikte unter der Oberfläche brodeln, die nicht zur Sprache kamen - und das war etwas unbefriedigend.
      So liest sich die Story so angenehm vor sich hin und - endet. Schön, aber unaufgeregt.
      Ja, ich kann deshalb gar nicht so viel dazu sagen. Sprachlich fand ich es gelungen, gerade der Waschbär wirkt so plastisch sehr greifbar, über seinen Charakter wiederum hätte ich wiederum gerne mehr erfahren. Asso-technisch fand ich es auch sauber, selbst das Lebkuchenhaus ist mir nicht groß aufgefallen, einfach weil alles durch die sprechenden Tiere so Fabel-haft angehaucht war.
      Ich fand die Story dementsprechend gut, aber mir hat auch etwas gefehlt, ohne das genau benennen zu können.



      Vaylin

      Ich fand gut, dass die Story irgendwie quirlig ist, aber sie lässt mich auch ziemlich ratlos zurück.
      Mich lässt dabei vor allem der Eindruck eines Wimmelbildes in Gestalt des Räubers nicht los; so sehr der Protagonist auch herausfinden will, was geschehen ist - so richtig gelingen tut es ihm nicht. Das habe ich auch nochmal gemerkt, als ich Wons' Feedback gelesen habe; sie hat es so aufgefasst, als seien viele viele Jahre vergangen zwischen dem Einfrieren in der Kryokammer und dem Erwachen, ich wiederum hab daraus gelesen, dass nicht viel Zeit vergangen wäre, vielleicht 1-2 Jahre höchstens. Genau erfahren tut man es nicht, oder? Diese Ungewissheit erstreckt sich über die ganze Story.
      Der alte Räuber zB ist so absurd wie sympathisch, und immer, wenn man glaubt, ihn etwas einschätzen zu können, kommt verquerer Humor oder eine popkulturelle Referenz, die einen etwas raushauen und fragen lassen, inwiefern das jetzt vom Autor gewollt war. Bowser war ne Asso, die brachial reingehämmert wirkte ("ein Tee mit Bowser und Super Mario", wtf), genauso wirkte allerdings auch das Erwähnen der Cantina-Band, die ja nun wiederum gar keine Asso war. Also - äh. :D
      Letztlich hat es mich ziemlich amüsiert, die Story zu lesen, allerdings vor allem weil - nimm mir diese Ehrlichkeit bitte nicht übel - ich vor meinem inneren Auge stets einen BFS-Schreiberling vor mir gesehen habe, wie er spätnachts, voller Freude und womöglich etwas angetrunken vor der Story sitzt und ohne ganz genauen Plan, aber voller Enthusiasmus in die Tasten haut. :D
      Ein richtig rationaler Eindruck stellt sich deshalb auch nach mehrmaligem Lesen bei mir nicht ein. Wieso die anderen Leichen aus dem Forschungslabor eingefroren sind, obwohl sie in der Wüste liegen und nicht an den Strom angeschlossen sind (schließlich schließt ja erst der Räuber wieder einen Generator an)? Wie der Protagonist überhaupt dorthin gekommen ist? Was der Räuber für Motive hat? Alles n büsch'n egal, aber aus genannten Gründen macht das auch irgendwie nichts.
      Für einen Vote hat es vielleicht nicht gereicht, dazu war es mir dann zu inkohärent. Aber für das genommen, was es ist, hat mich die Story auch bei mehrmaligem Lesen sehr unterhalten.




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      zur Kritik zu meiner:

      klick mich

      CAMIR schrieb:

      Meine zweite Stimme! Wie ich schon am Anfang schrieb, war ich traurig mit der Geschichte zunächst aufhören zu müssen. Gaby und Madeleine waren als Figuren so interessant, dass man ihre Geschichte wissen wollte, was sie entzweit hat, was vorgefallen war und die kleinen Dorfkonflikte. Ich teile Wons' Kritikpunkte an der Story, auch sagt mir das Milieu nicht so zu. Dennoch war sie bis auf ein paar Typos flüssig und spannend geschrieben.



      Vielen Dank, das freut mich sehr! Ich hatte vor allem nach der letzten BFS zumindest den Figuren mehr Leben einhauchen wollen, deshalb freuts mich, dass das einigermaßen geklappt hat. :)


      Wons schrieb:

      Ja, und ab dann verläuft sich das Ganze für mich irgendwie so ein bisschen. Die darauf folgenden Szenen find ich auch immer noch gut geschrieben und interessant, aber irgendwie... hört es mir zu früh auf? Fehlt mir irgendwie die Pointe? Klar, es geht wohl irgendwo um dieses Im-Moment-Leben, das Gefühl von Freiheit, das die anderen Madeleine bei der Party beibringen. Aber ich als Leser denk mir halt... Scheiße, die hat das Schlimmste noch vor sich. Was passiert als Nächstes? Wie wird Paul reagieren? Wie wird ihr Leben weiter verlaufen? Sie wohnt ja bei Paul und dessen Eltern, also scheint's bei ihr zu Hause ja nicht gut gelaufen zu sein? Wo geht sie hin? Zu Gaby wohl kaum, das wäre irgendwie zu klischeehaft und passt ja mit Gabys Hintergrund auch nicht so recht zusammen. Hm. Und das sind so Fragen, die mich dann beschäftigen, denn in dieser ja doch recht langen Geschichte ist mir Madeleine schon ein bisschen ans Herz gewachsen und ich frag mich, wie es ihr weiter ergehen wird. So fühlte sich der starke Aufbau für mich irgendwie zu abrupt abgebrochen an, was ich irgendwie sehr schade finde.


      Habs ja schon mal gesagt, ich weiß schon, was du meinst, und kann mich davon selber auch nicht so ganz freisprechen, auch wenn ich es eigentlich anders gedacht hatte anzulegen. Das Dilemma war da ein selbst gemachtes; als lose Idee hatte ich vor allem "Gabi gibt ne Party" im Kopf, passend zur Asso, die ich von Abbel bekommen hab, woraus sich die Story entwickelt hat. Als ich dann bei der Party angekommen war, standen schon letztlich 8500 Wörter und dann dachte ich, dass es ein guter Break ist, da die Kurzgeschichte enden zu lassen, weil dann das Wichtigste geschehen war: die Erkenntnisfindung Madeleines. Aber natürlich lässt es den Knall außen vor, der noch kommen könnte - in meinem Kopf allerdings auch gar nicht so eklatant vorhanden war. Madeleine konnte mit ihren Schwiegereltern ja gut; sie wäre mit einer neutralen Freundin zum Sachenabholen hingefahren und Paul wäre nicht da gewesen. Ende. Allerdings hab ichs mir auch so ein bisschen schöngeredet; wenn cih es wirklich noch geschrieben hätte, wäree es ohne Knall natürlich auch nicht abgelaufen. :D

      Ach so, und zum anderen. Vielleicht ist es Wortklauberei, aber das Gefühl von Freiheit, das sich bei Madeleine einstellt, sollte ihr nicht bei der Party "beigebracht" werden, die Party ist nur Beiwerk und sie merkt da, dass sie die "Assis", auf die sie vorher durch gruppendynamische Beeinflussung herabgeblickt hat, eigentlich ziemlich knorke findet. Das Gefühl von Freiheit stellt sich von selbst ein, als Madeleine merkt, u.a. durch die Beeinflussung der anderen, dass es okay ist, mit dieser dogmatischen Last ihrer Nazikumpels zu brechen. Sie merkt, dass es völlig okay ist, mit egal welchen anderen eine Party zu schmeißen, solang diese anderen n gutes Herz haben, und sie merkt, dass sie es Gaby geneidet hatte, das zu tun, wonach ihr war, auch wenn es von außen vielleicht komisch wirkte oder "es sich nicht gehörte". Denn Madeleine hatte immer ein Magengeschwür bei dieser ganzen Rechtsrhetorik, war angekotzt davon, was sie in den Augen der Männer zu tun und zu lassen hatte, doch davon freimachen konnte sie sich bis zu dieser schicksalhaften Woche nicht, weil sie in ihrer Beziehung Liebe und Gewohnheit, Fremdeinfluss und eigene Positionen irgendwann nicht mehr trennen konnte. Sie fühlte sich durch die allgemeine Erwartung, ein gutes Abi machen zu müssen, durch die spezielleren Erwartungen ihres Freundeskreises und ihrer Schwiegereltern, eine gute Frauenrolle für Paul einzunehmen, und durch ihre tendenziell zwanghaftere Natur extrem unfrei.
      Im Laufe der Woche, mit Höhepunkt auf der Party, hat sie das, was vorher hauptsächlich in ihrem Unterbewusstsein gelauert hatte, für sich endlich realisiert. Dass es sie freimacht, wenn sie auf ihr Herz hört und nicht auf das, was als Konvention gerade in ihrem dörflichen Dunstkreis unausgesprochen vorgeschrieben war. Dass es scheißegal ist, was andere, bornierte Menschen denken. Das war das Hauptanliegen der Story und die Erkenntnis schien mir als Höhepunkt bei der Party und damit am Schluss der Story angemessen zu sein. Aber ich fürchte, das habe ich nicht gut genug rausgearbeitet. :/ Das Ding dabei war, dass ich auf gar keinen Fall zu klischeehaft / holzhammerartig Phrasen dreschen wollte, und so bin ich ja schon hart an der Grenze daran entlanggeschrammt. :D Es sollte implizit wirken, aber ... nun ja.


      ein Highlight für mich war beispielsweise Marie auf der Party, die hat mich total an unsere Barfrau erinnert. :D


      Marie und insbesondere die besoffenen Russen entspringen diesem Lied:
      (Das ist auch ein sehr eingängiges Lied, jetzt vllt kein klassischer "Punkrock", kann ich nur allerwärmstens empfehlen, es einmal ganz zu hören (ganz, weil es eigtl erst bei Sekunde 14 losgeht) und dann am besten mit "Wunderkind" (Ballade) und "Silberblick & Scherenhände" und dann der gesamten Pascow-Diskografie weiterzumachen ... :) )

      Nur hat mir am Ende irgendwie so die Quintessenz gefehlt, die alles zusammenführt.

      Ja, ach, ich ärgere mich, wieder so kurzfristig erst mit dem Scheiß angefangen zu haben. Ich glaub, gerade das oben Beschriebene hätte sich wohl noch besser zusammenführen lassen. NA JA. VERLIEBEN VERLOREN, VERGESSEN VERZEIHN. Das nächste Mal. :D

      Aber so wirkte dieser lange, im Präteritum erzählte Abschnitt ein bisschen off. Ergibt das Sinn?

      Hab es ja, glaube ich, schon mal gesagt - ja, ergibt total Sinn. Ich hab vor dem Abschnitt auch eine lange Weile gesessen. Ich hatte es erst im Perfekt geschrieben, doch das schien mir derart unleserlich zu sein, dass ich das als Kompromiss gewählt habe, damit sich die Lesende besser in den geschilderten Abend hineinversetzen kann. So bewirkt's wohl eher das Gegenteil, Damn. Ich hätte es, wie du schreibst, außerhalb des Dialogs aus der Perspektive Gabys schildern sollen.

      Mir ist keine aufgefallen, waren alle mega souverän eingearbeitet. Haben auch glaub ich ziemlich gut zusammengepasst, oder? :D

      Ja, mega. :D Und weil PUNKROCK ja das Oberthema war und die Assos sich alle so leicht und gängig in den Text eingeschmiegt haben, kam ich überhaupt erst auf die Idee, willkürlich Songs bekannter Bands zu nehmen und aus denen dann völlig freu irgendwie ne Story zu machen, alles angefangen bei der Ärzte-Asso von Abbel. War allerdings etwas halbseiden und kacke aufgelöst, da hätte ich mir mehr einfallen lassen können, aber dann war die Zeit plötzlich sehr, sehr knapp. :D


      Davon abgesehen, vielen lieben Dank für gelobten Punkte, mich freut vor allem, dass die Figuren offenbar ganz gut und auch authentisch angekommen sind! Ich hatte immer wieder etwas Schwierigkeiten, nicht zu sehr in Klischees abzudriften. Wenn ich da die größten Gefahren halbwegs umschifft habe, freut mich das. :)

      I wasn't playing baseball, no!
      I wasn't playing football, no!
      I wasn't playing basketball, noo!
      I was playing Class War!