Angepinnt ​ BFS Weihnachtsedition "Morgen besucht uns das genderneutrale Weihnachtswesen" - Die Stories

    Diese Seite verwendet Cookies. Durch die Nutzung unserer Seite erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Cookies setzen. Weitere Informationen

    • ​ BFS Weihnachtsedition "Morgen besucht uns das genderneutrale Weihnachtswesen" - Die Stories

      Welche Geschichte verdient den Weihnachtsthron? 7
      1.  
        CAMIR - Das Herz einer Walküre (6) 86%
      2.  
        Abbel - Traumhaft fernsehen (5) 71%
      3.  
        Wons - Hiraeth Oder: Von der hohen Kunst des Weitermachens (2) 29%
      4.  
        Termina - Kaemons Geschichten: Die unzerbrechliche Allianz (1) 14%
      5.  
        Crèx - Polare Expressionen (0) 0%
      6.  
        pondo - Fremde Blüte (0) 0%
      Liebe Freunde der gepflegten Weihnachtsunterhaltung!
      Hier kommen die Stories noch einmal im Sammelpack und als PDF. Weil aus irgendeinem Grund der Upload des PDFs im Forum nicht klappt, kann es für die Dauer der Abstimmung - die am 31. Januar endet, unter diesem Link heruntergeladen werden:

      Klick mich!


      Bei 6 unglaublichen Teilnehmenden hat jede/r 2 Stimmen, um den dies/nächstjährigen Weihnachtskönig oder Weihnachtskönigin zu bestimmen! Deshalb! Ran an die Geschichten, rauf auf die Couch! Gelesen, abgestimmt! :)
    • Traumhaft fernsehen von Abbel


      „Herzlichen willkommen, liebe Zuschauer, hier bei Talk mit Sorg! Mein Name ist Samuel Sorg und in meiner Show können Sie mir Sorglos die spannendsten, romantischsten und Uuuuunglaublichsten Geschichten erzählen.“

      „Oh nein, schon wieder diese bescheuerte Sendung. Der Typ ist so Banane, genau wie die Gäste.“ stöhnst du, nachdem du die Glotze eingeschaltet hast und eigentlich mal frei von Idioten haben willst. „Na egal, lieber Sorg vom Ork als diese kotzlangweilige Möchtegern-Doku über Vegas. ‚Po-po-pokerchips der Einarmige Bandit will sie hart in den Schlitz’. Wer denkt sich solche Jingles aus und warum nur müssen sie solche Ohrwürmer auslösen?“ trällerst und schimpfst du zugleich. Die Gehirnwäsche scheint wohl zu wirken. In die Wolldecke eingekuschelt, schaust du dir weiter Talk mit Sorg an.

      „Begrüßen sie unseren ersten Gast der heutigen Ausgabe! Applaus, liebe Zuschauer, für Frau Schlamm-Schmor!“

      „Ja, Hallo Herr Sorg. Gästin bitte, so viel Zeit muss sein!“



      Genervt rollst du die Augen:“Bitte, nicht wieder solch eine Nervensäge!“



      „Frau Schlomm-Schmar, sie..“ „Schlamm-Schmor!“

      „Sag ich ja. Sie wollen uns heute von ihrer Geschichte erzählen. Eine Nahtoderfahrung. Wie kam es dazu?“

      „Wie es mein Schutzengel so wollte, bin ich während einer OP gestorben, aber irgendwie auch doch nicht.“



      „Ja wow, klingt total Sinnvoll. Nicht. Und die Op war für eine gefährliche Analfissur oder was.“ mit genervtem Unterton lachst du.

      „Also Herr Sorg, ich bin ja nicht so ein Unglücksrabe wie der Gast ihrer letzten Sendung.“

      „Das Konzert mit dem Scharfschützen, ja das brachte mir viele Quoten ein..“



      WeeerBuUuUung



      Jetzt on Tour - es wird wieder geküsst und getanzt - bestellt euch heute noch Karten für ein einmaliges Konzert bei Lady Bafflewaffle!*



      *Scharfschützen oder Frontkämpfer sind nicht erlaubt







      Erschüttert stellst du fest, dass diesmal irgendwas nicht mit dem Programm stimmen kann. Deshalb sagst du laut vor dich hin:“ Entweder das ist Zufall oder heute ist besonders viel Müll im Fernsehen. Das kann doch nicht sein, erst dieses Interview und dann Werbung für ein Konzert mit zufälligem Hinweis? Vielleicht läuft ja diese witzige Backsendung mit Larissa..“
      Und während du darüber redest, schaltest du um siehst dir dein Lieblingsprogramm >Kuchen kochen mit dein Babe< an.

      „Hey ihr Süßis, die Larissa ist mein Name und ich mach so voll Weihnachtsessen für EUCH! Lebkuchen heißt das. Ey gibt es auch Todkuchen? Das wär so voll unheimlich. Ich glaub ich hab angst ey, wieso sag ich sowas? Hallo Regie, warum soll ich was mit Toten machen?.. achsooo ja tschuldigung. War ein Missverstehniss oder wie das heißt. Also Süßis ich mach so Lebkuchenherzen. Ich war auch so bei Aldi und da war es total voll. Da hatte ich voll kein Bock mehr, aber ich mach das ja nur so für euch. Und Geld. Jetzt muss ich diese Verpackung mit den Lebkuchen aufmachen und kochen. Das ist voll schwer, aber für Weihnachten macht man ja schonmal was schweres, oder? Oh nein keine Mandeln, ich könnte voll ausrasten ey. Wieso hast du nicht Mandel gekauft Regie? Jetzt muss ich so diese grünen Dinger da draufmachen. Wie heißt das? Pistazie? Häää nie gehört. Egal, grün ist gesund oder so. Ja also ich wünsche dich und die Familie und deine Family so voll schöne Weihnachten ja. Hab euch voll lieb! Oh und nächste mal auch einschalten wenn es heeeeeiiißt Kuchen kochen mit mir, also Larissa!“



      „Geil, die bringt mich einfach immer zum lachen. Hoffentlich wiederholen die mal die Sondersendung, als sie sich ein Cosplay Nähen soll und als Millennium Falke gehen muss. So blöd kann man real einfach nicht sein!“ halb totgelacht hast du den anderen Mist von vorher fast vergessen. Und schon fängt das nächste Serienintro an.

      -Er kommt angeritten mit seinem Rattenschlitten, Steppenwolf und sein seine Kumpel, manchmal auch im dunkeln-

      Erlebt in dieser Folge mit, wie Steppenwolf das äußerst knappe Rattenrennen gewinnt. Denn was wäre unser Held ohne Siege?











      Ein Wecker klingelt

      Uff! Was für eine Scheiße habe ich mir da wieder zusammengeträumt? Mit einem Erzähler war mal was ganz neues, danke Hirn..Wenn ich von einem Märchen geträumt hätte, wär die Moral wohl gewesen: keine Waffeln mit heißenKirschen vorm Schlafengehen. Ich weiß auch schon wem ich als erstes davon erzähle! Wird zwar nicht ganz leicht der Geschichte zu folgen, aber das kennt sie ja schon von mir.
    • Das Herz einer Walküre von CAMIR

      Außerhalb der Zeit

      Als Erna in Odins Gesicht blickte, wusste sie, dass sie tot war. Sie hatte weder erwartet noch gehofft, ihn so schnell wiederzusehen und schon gar nicht auf diese Weise. Noch immer ließ ihr der stechende Blick seines einen Auges Schauer den Rücken hinunterlaufen und auch dieses Mal fühlte seine stumme Anklage. Er zog eine Augenbraue hoch, seufzte und schüttelte den Kopf. Die Raben auf seiner linken und rechten Schulter krächzten spöttisch.

      Sie fühlte sich leer und reflexartig wanderten ihre Hände zu ihrem Bauch. Er war ungewohnt flach.

      „Mein Kind?!“ war das erste, das sie rief.

      Odin schüttelte erneut den Kopf und dieses Mal glaubte sie, Bedauern in seinem Blick zu erkennen. Mit einer Handbewegung wies er zu seinem Zauberspiegel, mit dem er die Geschicke der Sterblichen bisweilen verfolgte. Die Raben Hugin und Munin setzten sich auf den Rand des Spiegels und das Bild verschwamm.

      Erna nahm all ihren Mut zusammen und trat näher. Sie schluckte und blickte hinein. Darin sah sie Alexander, der über ihrem leblosen Körper zusammengesunken war und unkontrolliert schluchzte. Er war blutverschmiert und Erna wusste, dass es ihr eigenes Blut war. Hin und wieder streichelte Alexander über ihren geschwollenen Bauch, in dem sich ihr ungeborenes Kind befunden hatte. Es war mit ihr gestorben.

      Die Szene hatte etwas Hypnotisches und es fiel Erna schwer, sich davon zu lösen. Zärtlich legte sie die Hand auf das kalte Glas des Spiegels. Tränen sammelten sich in ihren Augen.

      „Ich bin hier, Alexander“, flüsterte sie, aber er konnte sie nicht hören. Irgendwann sah sie Menschen in weißen Kitteln zu ihm treten. Sie versuchten, Ernas Leichnam aus seinen Armen zu befreien. Dann kamen Uniformierte in das Sichtfeld, aber bevor sie mehr erkennen konnte, ließ Odin das Bild verschwinden.

      Erna schloss die Augen. Das letzte, woran sie sich erinnerte, war das Messer in ihrer Brust und wie die Wunde nicht aufhören wollte, zu bluten. Sie hatte keine Schmerzen und keine Todesangst verspürt, nur ein unglaubliches Bedauern. Alexander hatte sie in den Armen gehalten und sie beschworen, nicht einzuschlafen. Dann war alles schwarz geworden…

      Sie öffnete die Augen wieder und sah sich noch immer Odins urteilendem Blick ausgesetzt.

      „Wieso bin ich hier?“ fragte sie.

      24. März

      Es gab Tage, an denen konnte Erna vergessen, einmal eine Walküre gewesen zu sein. Nach einigen Startschwierigkeiten hatte sie das Gefühl, ihr Leben als Mensch lief in geregelten Bahnen. Ihre Beziehung mit Alexander war in dem einen Jahr, in dem sie nun zusammen waren, nur gewachsen und wenn sie wieder einmal an ihrer Existenz verzweifeln wollte, so war es seine Liebe, die allem einen Sinn gab. Es war auch Alexander gewesen, der sie ermutigt hatte, die Schule zu besuchen und ihr Abitur nachzuholen. Sie hatte inzwischen erkannt, dass es ohne entsprechende Ausbildung keine sinnvolle Arbeit gab und ihre Leistungen waren vielversprechend. Sie hegte insgeheim die Hoffnung, mit ein wenig Fleiß, eine Tätigkeit zu bekommen, die nicht in absolutem Desaster endete – zumal sich inzwischen schon einige Verschwörungstheorien um sie als Arbeitnehmerin rankten.

      Sie verzweifelte gerade an ihrer Hausaufgabe in Chemie, als sie den Schlüssel an der Haustür hörte. Alexander kam von der Arbeit nach Hause. Erna sah eine willkommene Gelegenheit, die lästige Schulaufgabe liegen zu lassen, indem sie aufsprang und zur Tür eilte. Noch bevor Alexander im Flur ablegen konnte, schlang Erna die Arme um seinem Hals und küsste ihn. Er griff ihre Oberschenkel und hob sie hoch, sodass sie an ihm hing, ohne den Kuss zu lösen. So trug er sie ins Wohnzimmer und legte sie behutsam auf der Couch ab bevor er sich neben sie setzte.

      „Wie war dein Tag?“ fragte er und strich über ihre Haare.

      „Sie haben heute bei einem Schüler Drogen gefunden. Dann wurde die Polizei gerufen und sie mussten ihn abführen, weil er alles abgestritten hat“, antwortete Erna geradezu begeistert. Sie liebte es, wenn etwas Außergewöhnliches passierte und sie weitere Gelegenheiten bekam, die Menschen zu studieren.

      „Dann war ganz schön etwas los!“

      Erna nickte. Dann setzte sie sich im Schneidersitz auf die Couch, legte die Hände in den Schoß und sah Alexander an.

      „Ich möchte ein Kind“, sagte sie.

      Alexander blinzelte mehrfach. Er wirkte überrascht.

      „Wie bitte?!“

      „Ich möchte mit dir ein Kind, Alexander.“ Dieses Mal wurde Ernas Stimme leiser. Sie hatte allen Mut zusammengenommen, ihrem Wunsch Ausdruck zu verleihen und nun wusste sie nicht, ob sie das richtige getan hatte.

      Alexander rückte ein Stück näher zu ihr hin und legte ihr den Arm um die Schulter.

      „Bist du dir sicher?“ flüsterte er und sie nickte entschlossen. „Und was ist mit…?“ fuhr er fort, unterbrach sich dann aber und suchte nach Worten. „…mit deiner Abstammung?“ versuchte er es dann.

      Er wusste inzwischen von Ernas wahrer Herkunft und aus irgendeinem Grund liebte er sie noch mehr dafür. Trotzdem war die Frage berechtigt.

      „Ich bin jetzt ein Mensch mit allen Stärken und Schwächen. Ich glaube nicht, dass es ein Problem sein wird.“

      Die Antwort schien ihm zu genügen. Er griff ihre Hände und beugte sich vor, um ihren Mund zu küssen.

      „Und ich will ein Kind mit dir, Erna. Ich glaube, du wärst eine wundervolle Mutter!“

      Außerhalb der Zeit

      „Du hast dich also dazu entschieden, ein Kind zu bekommen?!“ donnerte Odin. Erna nahm all ihren Mut zusammen und wich seinem einäugigen Blick dieses Mal nicht aus.

      „Ja“, sagte sie einfach nur.

      „Du liebst diesen Sterblichen?“ dröhnte Odin weiter.

      „Ja“, entgegnete Erna. Und fügte dann hinzu: „Sehr.“

      „Erna, Erna, Erna…“ Odin schnalzte abschätzig mit der Zunge. „Was soll ich mit dir nur tun?“

      „Warum bin ich überhaupt hier?“ wiederholte Erna die Frage, auf die sie noch immer keine Antwort hatte.

      „Was glaubst du?“ fragte Odin zurück. In seinem einen Auge blitzte es.

      Erna dachte einen Augenblick nach, dann schüttelte sie geschlagen den Kopf.

      „Ich bin gestorben…“ murmelte sie, aber es ergab trotzdem keinen Sinn.

      „Es war ein ehrenvoller Kampf“, half ihr Odin. „Du hast deinem Sterblichen das Leben gerettet.“

      „Und es mit meinem eigenen bezahlt…“ ergänzte Erna traurig.

      „Es tut mir leid“, sagte Odin. „Aber du hast dir deinen Platz in Walhalla zurückverdient.“

      24. Juni

      Ein Kind zu bekommen war gar nicht so einfach. Es lag nicht etwa daran, dass Erna und Alexander es nicht versuchten. Sie hatten sogar ein allabendliches Ritual dafür gefunden und Erna genoss jede Sekunde davon.

      „Meinst du es klappt dieses Mal?“ fragte Erna, als sie in das Schlafzimmer trat. Die letzten drei Monate waren in dieser Hinsicht nicht sehr erfolgreich gewesen.

      Mit nichts als einer Feinrippunterhose bekleidet lag Alexander auf dem Bett. Es war schwülwarm draußen und er hatte sich seiner Kleider entledigt, sobald er nach Hause gekommen war. Mit den Augen fuhr er die Konturen von Ernas Körper nach, den sie unter einer Robe aus Seide verbarg.

      „Bestimmt!“ rief er ermutigend und klopfte dann neben sich auf das Bett. Doch an diesem Abend war Erna nicht in der Stimmung. Traurig lehnte sie den Kopf an den Türrahmen und versuchte, die Tränen zu unterdrücken.

      „Ich habe Angst!“ flüsterte sie kaum hörbar. „Angst davor, dass es nie klappt, dass es nicht klappen kann, weil ich…“

      Alexander war aufgestanden und hatte die Arme von hinten um sie gelegt. Behutsam legte er seinen Kopf auf ihre Schulter.

      „Was immer passiert, ich habe dich gern. Und wenn es nicht sein soll, soll es nicht sein. Ich will nicht, dass du dich unter Druck setzt.“

      Außerhalb der Zeit

      „Ich habe einen Fehler gemacht!“ sagte Odin. „Ich habe nicht damit gerechnet, was es bedeutet, dich zu einem Menschen zu machen.“

      „Was willst du damit sagen?“ Ein Gefühl der Panik machte sich in Erna breit.

      „Du hast das Interesse vieler auf dich gezogen im Guten wie im Schlechten. Loki beispielsweise konnte deine Tränen nicht mehr sehen. Er war es, der einen kleinen… Fehler behoben hat. Natürlich, ohne mit mir Rücksprache zu halten.“

      24. September

      „Dann wollen wir uns Ihr Kind doch einmal ansehen, Frau…“ Der Arzt runzelte die Stirn, als er Ernas Krankenakte studierte.

      „Óðinsdóttir“, sagte Erna hilfreich. Sie war zum ersten Mal bei einem Arzt und fühlte sich zugleich neugierig und nervös.

      „Äh ja…“ Der Arzt blickte kurz von der Akte auf und studierte Erna, die erwartungsvoll auf der Pritsche saß und die Beine baumeln ließ. Ihre Hände ließ sie auf ihrem leicht geschwollenen Bauch ruhen. Sie strahlte wie ein geputzter Blecheimer. Alexander im Stuhl ihr gegenüber nickte ihr aufmunternd zu. Er war es, der sie dazu gedrängt hatte, eine Vorsorgeuntersuchung auszumachen, nachdem sich ihr größter Wunsch doch noch erfüllt hatte.

      „Wie lange sind Sie schon schwanger?“ fragte der Arzt.

      „Etwa drei Monate“, erwiderte Erna fröhlich.

      Der Arzt notierte etwas in der Akte und bedeutete Erna, sich auf die Pritsche zu legen und ihren Bauch freizumachen. Dann begann er die Ultraschalluntersuchung. Erna verfolgte alles sehr interessiert und bekam in ihrer Faszination das Stirnrunzeln des Arztes gar nicht mit.

      „Wie sind Sie schwanger geworden, Frau… äh?“

      „Óðinsdóttir.“

      Erna und Alexander blickten sich an. Alexander zuckte mit den Achseln.

      „Wir hatten Sex. Macht man das nicht so?“ sagte Erna.

      Der Arzt starrte sie an. „Sind Sie sicher?“

      „Wir hatten jeden Abend Sex, bis ich schwanger war. Ich habe gelesen, dass das so funktioniert“, sagte Erna treuherzig.

      Der Arzt notierte etwas in der Akte, dann sah er auf den Bildschirm, auf dem Erna nur schwarze und weiße Flecken erkennen konnte.

      „Jaja… normalerweise macht man das so“, erwiderte er abwesend, während er an den Monitor trat und das Bild darauf eingehender studierte. Dann machte er ein paar elektronische Abzüge davon. „Aber normalerweise haben die betroffenen Frauen auch Eierstöcke.“

      „Wie bitte?!“ Alexander war aufgestanden und hinzugetreten während Erna sich abrupt aufsetzte.

      Jetzt starrte sie den Arzt an. „Was wollen Sie damit sagen?“ fragte sie. „Habe ich etwa keine?“

      Der Arzt kratzte sich am Kopf. „Nein, Sie haben keine, Frau… äh…“

      „Óðinsdóttir…“

      „Aber braucht man die nicht, um Kinder zu bekommen?“ hakte Erna nach. Sie hatte sich vorher gründlich über menschliche Fortpflanzung informiert und war stolz, zu wissen, was es damit auf sich hatte.

      Der Arzt blinzelte mehrmals. „Normalerweise schon. Ich stehe vor einem Rätsel.“

      Alexander legte beschützend den Arm um Erna. Wie sie ahnte er den Grund für diese biologische Unmöglichkeit. Er warf ihr einen bangen Blick zu und flüsterte: „Und da ist kein Irrtum möglich?“

      Erna schüttelte lediglich sachte den Kopf. Sie dachte kurz daran, den Arzt nach weiteren Besonderheiten ihres Körpers zu fragen, überlegte es sich aber im letzten Moment anders. Sie wollte nicht noch mehr Verwirrung stiften.

      „Mein Kind?“ fragte sie stattdessen, um die Aufmerksamkeit auf etwas anderes zu lenken.

      „Mit Ihrem Kind ist alles in Ordnung. Es ist normal entwickelt. Ich gratuliere. Auch wenn ich nicht verstehe, wie das möglich ist…“ kam die verwirrte Antwort. „Wie alt sind Sie eigentlich, wenn ich fragen darf? In Ihrer Akte steht nichts dazu.“

      „Zweitau…“ setzte Erna an, bevor Alexander sie unterbrach: „Zweiundvierzig! Sie ist zweiundvierzig!“

      Außerhalb der Zeit

      „Walküren sind unfruchtbar, nicht wahr?“ sagte Erna traurig.

      „Aus gutem Grund“, erwiderte Odin. „Loki hat ein Gesetz gebrochen, indem er dir zu deiner Schwangerschaft verhalf – aber das ist man von ihm gewohnt. Viel schlimmer ist das, was du getan hast.“

      „Ich?“

      „Du hast dich einem Sterblichen hingegeben und du warst bereit, seinen Samen in dir aufzunehmen, um daraus eine Kreatur hervorzubringen, die das vermischt, was niemals vermischt werden darf!“

      „Ich habe nichts weiter getan, als Alexander zu lieben! Außerdem habt Ihr mich selbst sterblich gemacht!“

      Erna spürte, wie sie in die Luft gehoben wurde. Ein nicht vorhandener Wind wehte durch ihre Haare und sie hatte das Gefühl, von Kopf bis Fuß durchdrungen zu werden.

      „Ich hätte nicht gedacht, dass du so töricht sein würdest, Erna!“ donnerte Odin. „Du wirst immer mein Geschöpf bleiben. Weißt du, was du angerichtet hast?!“

      24. Oktober

      Jeden Tag wartete Erna sehnlichst auf Alexanders Heimkehr. Auch wenn sie nach wie vor tapfer die Schule besuchte, war sie stets vor ihm Zuhause. Sie musste feststellen, dass ihr mit zunehmender Schwangerschaft manche Dinge schwerer fielen und dass ihr Körper manches nicht mehr so tun wollte, wie sie es gerne hätte. Hinzu kamen Gelüste auf das unmöglichste Essen. Sie hatte es irgendwann aufgegeben, mit Alexander darüber zu sprechen, denn woher sollte dieser hákarl oder Dichtermet besorgen können? Trotz allem war sie so glücklich wie sie es in den vergangenen Millennia ihrer Existenz niemals gewesen war. Sie glühte förmlich.

      Während sie alleine Zuhause war, spielte sie manchmal an dem eigens für die Schule angeschafften Computer. Alexander hatte ihr ein Spiel namens „Sims 3“ geschenkt, mit dem Vermerk, es könnte ihr dabei helfen, die Feinheiten menschlichen Zusammenlebens zu verstehen. Wenn sie ihre Arbeiten erledigt hatte, hatte sie große Freude daran, das Leben dieser elektronischen Männchen auf dem Bildschirm zu verbessern. Sie hatte einigen von ihnen zu einer Großfamilie verholfen, anderen zu Geld und wieder anderen zu einer angesehenen Karriere. Je mehr sie diesen Figuren zusah, umso sicherer wurde sie, was sie sich von ihrem Leben erwartete.

      Dieses Mal war sie so in das Spiel vertieft, dass sie es nicht bemerkt hatte, wie Alexander nach Hause gekommen war. Erst als er die Hände über ihre Augen legte, quietschte sie freudig auf.

      „Frau Odinsdotter…“, flüsterte er ihr ins Ohr.

      „Óðinsdóttir“, korrigierte Erna.

      „Weißt du, dass heute unser Jubiläum ist?“ flüsterte er weiter. Er küsste Ernas Hals, ohne die Hände von ihren Augen zu nehmen. „Vor zwei Jahren…“

      „…hast du mir gezeigt, was Sexualität ist“, beendete Erna den Satz und hörte ihn auflachen. Sie legte ihre Hände auf die seinen und wartete geduldig ab, was er mit ihr vorhatte.

      Vorsichtig löste Alexander seine Hände von den ihren und nahm sie aus Ernas Gesicht. Dann drehte er ihren Schreibtischstuhl um. Er kniete sich vor sie, nahm ihre Hand und küsste sie liebevoll.

      „Erna, Tochter von Odin, ehemalige Walküre und Mutter meines ungeborenen Kindes, möchtest du meine Frau werden?“

      Außerhalb der Zeit

      Erna spürte einen stechenden Schmerz in der Brust und dann das Gefühl, als würde etwas aus ihr herausgerissen werden. Sie schrie vor Schmerz und Angst und Verzweiflung. Und dann war es vorbei. Was immer sie in der Luft gehalten hatte, entließ sie aus seinem Griff und sie fiel unsanft auf den Boden. Ihr gesamter Körper schmerzte und sie zitterte.

      Etwas Pulsierendes schwebte vor ihr in der Luft. Es stand in gelben, warmen Flammen, ohne davon verzehrt zu werden. Unsicher richtete Erna sich auf und kniete so vor Odin.

      „Dein Herz brennt!“ Seine Stimme war jetzt voller Zorn und Verachtung. „Kein Herz einer Walküre sollte jemals Wärme kennen!“

      24. Dezember

      Als Erna an diesem 24. Dezember aufwachte, ahnte sie nichts davon, dass dies der Tag sein würde, an dem sie sterben würde. Sie kuschelte sich an Alexander, der neben ihr lag und freute sich, bei ihm zu sein. Sie freute sich auf den Weihnachtsabend und darauf, ihn mit Alexanders Familie zu verbringen. Auf ihre eigene war ja kein Verlass. Alexander gab ihr einen Kuss auf die Wange und streichelte ihren Bauch.

      „Wie fühlst du dich?“ fragte er zärtlich.

      „Rund“, sagte Erna. Sie war immer noch fasziniert davon, was die Schwangerschaft mit ihrem Körper getan hatte, auch wenn sie es nicht immer angenehm fand.

      Eine Weile lagen sie schweigend da, dann fragte Erna: „Wann willst du es eigentlich deinen Eltern sagen?“

      „Dass sie Großeltern werden? Das wissen sie doch schon.“

      „Wer ich wirklich bin…“

      „Das hat Zeit. Sie würden es sowieso nicht glauben. Und das ist vermutlich auch besser so. Je weniger wissen, wer du bist, umso besser.“

      Erna schwieg und dachte über Alexanders Worte nach. Wie recht er hatte, erfuhr sie weniger Stunden später.

      Sie war gerade dabei den Christbaum zu schmücken, als es an der Tür klingelte. Alexander war noch einmal fortgegangen, letzte Erledigungen zu machen. Das war Erna gerade recht, denn sie wartete auf ein letztes Paket. Für ihre zukünftige Schwiegermutter hatte sie einen dieser lustigen Staubsaugerroboter erstanden, für die man überall Werbung sah. Sie hoffte, er würde der alten Dame den Haushalt erleichtern. Außerdem fand Erna diese kleinen fleißigen Maschinchen irgendwie drollig.

      Den Postboten erwartend, öffnete sie die Tür und sah sich zwei grobschlächtigen Herren unbestimmten Alters gegenüber. Für Menschen sahen die beiden aus, wie kräftige Männer, aber Erna erkannte ihre wahre Gestalt: Trolle!

      Erschrocken wollte sie die Tür zuschlagen, doch ein starker Arm hinderte sie daran. Dann hatten sich die beiden Zutritt zur Wohnung verschafften.

      „Was…?“ setzte Erna an, als eine Faust in ihrem Gesicht sie nach hinten fallen ließ. Sie landete unsanft auf dem Rücken und stöhnte auf.

      „Odin wagt uns so zu beleidigen!“ brüllte einer von ihnen.

      Erna fühlte etwas Warmes ihr Gesicht hinunterrinnen und als sie mit der Hand danach tastete, war diese rot. Sie blutete aus der Nase.

      „Was wollt ihr hier?“ fragte sie erneut, verwirrt von diesem plötzlichen Ausbruch von Gewalt. Sie fühlte sich hilflos und schwach.

      Der zweite Troll packte sie an ihrem Kragen und hob sie in die Luft. Erna ließ es zu. Sie war selbst in ihren besten Zeiten als Walküre keine herausragende Kämpferin gewesen. In ihrem jetzigen Zustand war an Gegenwehr nicht zu denken.

      „Odin bricht den Vertrag mit einer so erbärmlichen Kreatur wie dir?“ Höhnisches Gelächter dröhnte in Ernas Ohren.

      „Ich verstehe nicht?“ Sie versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen, aber ihr Kopf dröhnte und alles drehte sich! Um ihr Kind zu schützen, beschloss sie, erst einmal still zu halten.

      „Zapple und schreie nur, kleine Walküre. Es wird dir nichts nützen. Hier in Midgard haben wir das Sagen!“ grollte der erste Troll. Dabei schrie und zappelte Erna gar nicht. Sie war wie gelähmt.

      „Sie ist wirklich klein, nicht wahr?“ fragte der zweite Troll, der Erna immer noch in der Luft hielt. Versuchsweise griff er einen ihrer Arme. Seine Hand war so grob, dass er ihren kompletten Unterarm damit umschloss. Er zog daran.

      „Warum tut ihr das?“ fragte Erna, erhielt aber keine Antwort.

      Sie kam sich vor wie eine Puppe, die in die Hände bösartiger Kinder geraten war. Für die Trolle war sie ein Spielzeug, das man nach Belieben kaputtmachen konnte.

      Und so behandelte der Troll, der sie festhielt, auch. Er zog an ihrem anderen Arm, dann an ihren Beinen und bewegte sie auf und ab, wie bei einem Hampelmann. Irgendwann betastete er unbeholfen ihren Bauch. Erna versteifte sich.

      „Da ist wirklich ein Kind drin?“ fragte er.

      Der erste Troll schlug ihm auf den Kopf. „Blödmann, das siehst du doch!“

      Der zweite Troll rieb sich mit der freien Hand die Stelle, auf die der erste geschlagen hatte.

      „Aua!“ Er blinzelte und wandte sich dann Erna zu. „Wie kam es da rein?“ fragte er und begann sie zu schütteln, dann auf den Kopf zu drehen. Er hielt jetzt ihre beiden Beine fest, sodass sie kopfüber hing. Er befühlte sie grobschlächtig, als ob er etwas suchte.

      „Du bist ein solcher Idiot!“ fluchte der erste Troll.

      „Das soll eine Walküre sein?“ beschwerte sich der zweite Troll. Testweise schüttelte er Erna erneut. Sie wimmerte leise. „Sie ist so winzig!“

      „Was ist denn mit dir los?“ fluchte der erste Troll, als der zweite Troll von Erna nicht abließ.

      „ERNA?!“ Durch den Nebel ihrer Wahrnehmung konnte Erna Alexanders Stimme ausmachen. Er musste in der Zwischenzeit nach Hause gekommen sein. Seine Stimme überschlug sich, und Erna konnte seine Panik förmlich spüren. „Was geht hier vor sich?!“

      In diesem Moment erwachte etwas in ihr. Was immer die Trolle mit ihr tun wollten, Alexander sollten sie nicht bekommen. Das war allein eine Sache zwischen Asgard und Midgard.

      „Alexander!“ rief sie. „Lauf weg!“ Er konnte sich unmöglich zwei ausgewachsenen Trollen stellen! Aber anstatt ihren Rat zu befolgen, stürzte er sich auf denjenigen, der sie festhielt.

      „Lass Erna los!“ rief er und prügelte mit der Einkaufstüte auf das Wesen ein.

      „Alexander, nein!“ schrie Erna.

      Der erste Troll packte Alexander und schleuderte ihn an die Wand. Erna schrie und zappelte nun endlich so lange, bis ihr Angreifer sie fallen ließ. Unsanft fiel sie auf den Boden und hörte ein krachendes Geräusch in ihrer Schulter. Der Schmerz trieb ihr die Tränen in die Augen, aber sie versuchte ihn wegzudenken. Stattdessen rappelte sie sich sich auf und kroch zu Alexander. Sie sank neben ihm auf die Knie und nahm sein Gesicht in die Hand. Er atmete noch und war nur etwas benommen. Schützend legte sie sich vor ihn.

      „Lasst ihn zufrieden!“ rief sie voller Verzweiflung. Die Tränen des Schmerzes und der Verzweiflung rannen inzwischen ihre Wangen herunter.

      Die zwei Trolle bauten sich bedrohlich vor ihr auf. Der erste verengte die Augen zu Schlitzen.

      „Ihn wollen wir nicht, sondern dich. Du weißt, dass du sterben musst“, grollte er und zückte ein Messer. Erna nickte. Ja, das hatte sie in dem Moment gewusst, als sie sich Zutritt zu ihrer Wohnung verschafft hatten. Aber warum, das verstand sie nicht.

      Trotzdem stellte sie keine Fragen mehr, haderte nicht. Sie konnte nicht zulassen, dass es noch mehr Gewalt gab.

      „Dann nehmt mich, aber verschont ihn!“ Eine seltsame Ruhe war über Erna gekommen, obwohl sie wusste, dass sie eigentlich Panik verspüren sollte.

      Der erste Troll nickte dem zweiten zu. Der kratzte sich am Kopf und sah unschlüssig auf das Messer.

      „Müssen wir sie wirklich umbringen? Kann ich sie nicht behalten? Ist sie nicht lieb?“

      „Und was willst du mit ihr anstellen?!“ Der erste Troll verlor langsam die Geduld. „Bringen wir es hinter uns!“ Er ergriff Erna und hob sie erneut hoch. Dannrammte er das Messer in ihre Brust.

      Zuerst war da ein stechender Schmerz, der bald darauf abebbte. Der Troll ließ Erna fallen, wie einen Sack Kartoffeln und sie lag vor Alexander auf dem Boden. Sie fühlte Blut in ihrem Mund und ihrer Kehle, wollte es hochhusten… aber das Leben verließ ihren Körper… Sie sank auf Alexander zusammen und sah noch, wie die Trolle wegliefen. Alexander… war… in… Sicherheit…

      Außerhalb der Zeit

      „Du hast einen uralten Vertrag zwischen den Welten gebrochen! Asgard gehört den Göttern und Midgard gehört den Sterblichen! Das konnte nicht unentdeckt bleiben! Die Trolle wollten Rache für diese Übertretung!“ Odin war außer sich. „Und auch jetzt beharren sie darauf, Vergeltung zu üben, weil wir vertragsbrüchig wurden. Wenn es zu einem Krieg kommt, bist du schuld!“

      Erna war vornüber gesunken und stützte sich mit den Händen ab. Ihr Herz schwebte noch immer vor ihr, aber sie spürte, wie seine Kraft sie verließ.

      „Ich… wollte… nichts… als… glücklich sein“, brachte sie hervor.

      „Glück!“ schnaubte Odin.

      „Was… geschieht jetzt mit mir?“

      „So fehlgeleitet du auch bist, du hast dir deinen Platz an meiner Seite verdient und darfst die Ewigkeit in Walhalla verbringen. Vielleicht gelingt es mir irgendwann, zu ergründen, was mit dir schieflief und den Fehler zu heben.“

      Erna nahm all ihre verbliebene Kraft und ihren Mut zusammen, dann richtete sie sich auf. Der Gedanke daran, den Rest ihrer Existenz bei Odin und den anderen Walküren zu verbringen, erfüllte sie mit Grauen. Alexander würde niemals seinen Weg nach Walhalla finden und sie würde ihm niemals wieder begegnen. Sie hatte an diesem Ort zweitausend Jahre lang nur Lieblosigkeit, Grausamkeit, Grobschlächtigkeit und Unverständnis erlebt. Wie anders waren ihre Erlebnisse in der kurzen Zeit auf Erden gewesen. Sie holte tief Luft, um das zu sagen, was sie bei den Menschen gelernt hatte.

      „Für dich bin ich fehlgeleitet und eine Schande, ein wandelnder Fehler, der behoben werden muss – und das hast du mir immer gesagt. Aber Alexander liebt mich, wie ich bin. Für ihn muss ich mich nicht ändern. Ich will nicht in Walhalla bleiben! Eine schlimmere Strafe kann ich mir nicht vorstellen.“

      Etwas Unsichtbares verpasste Erna zwei Ohrfeigen, aber sie spürte sie nicht. Es gab keinen Schmerz, den man ihr noch zufügen konnte.

      „Du wagst es?!“ brüllte Odin. „Du weigerst dich, die Ehre anzunehmen, die ich dir zuteilwerden lasse?“

      Erna nickte. „Es ist keine Ehre für mich, sondern nur eine Qual.“

      „Du weißt, dass die Alternative der ewige Tod ist?!“

      „Ist das so?“ Erna wusste nicht, woher sie die Stärke nahm, aber sie hatte nichts mehr zu verlieren. „Die Menschen feiern an Weihnachten die Geburt von Jemandem, der die Liebe predigt. Und für den das Leben mit dem Tod nicht zu Ende ist.“

      „Du bist kein Mensch! Du bist meine Kreatur und ich kann dich jederzeit vernichten!“

      Ernas Herz vor ihr begann immer schneller zu schlagen und sie hatte das Gefühl, es müsste jeden Augenblick zerspringen. Sie wollte den Schmerz nicht zulassen, aber schließlich überwältigte er sie.

      „Dann tu es…“ stöhnte sie und sank zu Boden. „Ich will lieber gar nicht mehr sein als so… Bitte…“ Tränen rannen ihre Wangen herunter und versanken im kalten Steinboden. Wieviel besser war dagegen das vollkommene Nichts. „Töte… mich, Vater, aber… bestrafe mich nicht indem ich so weiterexistieren muss!“

      „Wenn dies dein Wunsch ist, Nichtswürdige, dann stirb!“

      Odin streckte die Hand aus und Ernas Herz zersprang in tausend kleine leuchtende Kristalle. Sie glitt hinüber in das dunkle Nichts…







      Und dann war da das Licht.

      „Deine Kreatur verfügt über mehr Weisheit, als du sie jemals hattest, Odin!“ dröhnte eine Stimme, die Erna noch niemals gehört hatte. Sie war fremdartig, zugleich männlich und weiblich, hell und dunkel und doch beruhigend. Sie befand sich auf dem Boden vor Odin, ihr Herz war in dem Moment eingefroren als es zersplitterte.

      „Was mischst du dich ein?“ knurrte Odin missmutig.

      „Ich konnte es nicht länger mitansehen, wie du sie quälst. Sie ist dein Geschöpf, aber das gibt dir nicht das Recht, sie so zu misshandeln!“

      „Ich habe sie nicht misshandelt! Sie hat die Gesetze gebrochen!“ Odin hatte trotzig die Arme verschränkt. „Ich habe die Gesetze nicht gemacht, aber ich muss dafür sorgen, dass sie eingehalten werden! Es war ihr Wunsch, zu sterben.“

      „Wessen Gesetze hat sie denn gebrochen? Odin, sag ihr die Wahrheit“, forderte die Stimme.

      „Sag du es ihr doch!“ schmollte Odin.

      Eine Wärme umfing Erna und sie fühlte sich mit einem Mal wieder stärker. Ein Pochen in ihrer Brust verriet ihr, dass ihr Herz wieder heil an seinem richtigen Platz war. Ein Gefühl von Liebe und Geborgenheit durchflutete sie. Das Licht richtete sie auf und zog an ihrem Kinn, sodass sie direkt hineinblickte. Sie glaubte, eine Figur darin zu erkennen

      „Mein Kind, Odin ist nicht der Allvater, wie er alle immer glauben macht. Und er besitzt zwar viel Weisheit, aber nicht die des gesamten Kosmos.“

      Erna starrte von der Lichtgestalt zu Odin, der betreten wegsah.

      „Was bedeutet das?“

      „Das bedeutet, er hat dir einen Teil der Wahrheit verschwiegen. Das übergeordnete kosmische Gesetz hast du besser befolgt als jede andere seiner Kreaturen.“

      „So ein Schwachsinn“, brummte Odin. „Erna gehört mir. Ich hatte wirklich viel Geduld mit ihr.“

      „Du hast Erna in dem Moment verloren, als du sie aus Asgard verbannt hast. Du hast kein Anrecht mehr auf sie. Erna gehört sich jetzt selbst.“

      „Ich gehöre Alexander“, sagte Erna leise. „Ich wollte seine Frau werden.“

      Es schien, als lache die Stimme. Es war ein dumpfes Rumpeln.

      „Mein Kind, vom ersten Moment auf der Erde, bist du jedem mit Liebe und Zuneigung begegnet. Damit hast du Odin an Weisheit übertroffen. Die Liebe ist das wichtigste kosmische Gesetz. Sie steht über allen Verträgen und über jeder Rache und jedem Krieg.“

      Eine glühende Schriftrolle erschien vor Odin. Sie war so lichtdurchflutet, dass Erna sie nicht zu lesen vermochte.

      „Dein Herz hat gelernt, zu lieben und alles was du unter den Menschen tatest, hast du diesem Gefühl untergeordnet. Du warst bereit, dich selbst zu geben und das größte Opfer von allen zu erbringen. Dafür soll man dich nicht bestrafen.“

      Die Schriftrolle rollte sich zusammen und schlug Odin auf den Kopf. Er zuckte vor Schmerz zusammen und grunzte.

      „Oder wie denkst du darüber, Odin?“

      Erschlagen vom Gesetzestext der Lichtgestalt, stimmte der Herr Walhallas schmollend zu.

      „Von mir aus kann sie zu ihrem Sterblichen zurückkehren, wenn es ihr so viel bedeutet.“

      „Wir sind hier aber noch nicht fertig, Odin!“ Die Stimme klang mit einem Mal streng.

      „Na schön!“ Odin schnaubte. „Dass die Trolle dich angriffen, war nicht deine Schuld und nicht dein Konflikt. Du wurdest für etwas zur Rechenschaft gezogen, das Thor und ich angezettelt haben und wir werden uns darum kümmern. Zufrieden?!“

      „Beinahe!“

      „Dein Kind sollst du selbstverständlich bekommen.“

      Er machte eine Bewegung mit den Händen und Erna spürte, wie die Leere in ihrem Bauch verschwand. Sie war wieder schwanger.

      Odin sah sie fragend an.

      „Ich verstehe dich nicht. Wieso tust du dir das an?“

      Erna zuckte mit den Achseln. „Es macht mich glücklich.“

      „Und dabei misshandeln die Menschen ihre Kinder so gerne. Manche sperren sie zur Strafe in den Kohlenkeller und gerade wurde in Pakistan ein Kinderknast ausgehoben. Die Menschen sind schlecht…“

      „Schluss jetzt, Odin!“ befahl die Stimme.

      Erna strich über ihren prallen Bauch und lächelte versonnen.

      „Ich werde mein Kind bestimmt nicht misshandeln. Ich möchte ihm das Beste beider Welten mitgeben. Aber wir brauchen noch einen geeigneten Paten.“

      Odin stöhnte auf. „Vielleicht möchte Fonris diese Aufgabe ja übernehmen?“

      Erna lächelte. „Ich werde ihn fragen, wenn es so weit ist.“

      „Ich kann einfach nicht begreifen, wieso du ein so langweiliges Leben, in dem du jeden Monat GEZ und Steuern zahlen musst und dafür sorgen, dass dir das Toilettenpapier nicht ausgeht, einem abwechslungsreichen Dasein in Walhalla vorziehst!“

      Erna stellte sich gerade hin. „In diesem langweiligen Leben kann ich so bleiben wie ich bin und werde dafür akzeptiert. Und selbst wenn ich dadurch sterblich werde und meine Existenz nun begrenzt ist, würde ich das jederzeit einer freudlosen Ewigkeit vorziehen.“

      „Da hörst du es, Odin!“ Die Stimme klang zufrieden und ein wenig schadenfroh. Dann wandte sie sich an Erna.

      „Du hast den Geist von Weihnachten vielleicht besser begriffen als jeder Mensch! Nun gehe hin und liebe!“

      Erna blickte von der Lichtgestalt zu Odin und dann wieder zurück. Dann traf sie eine Entscheidung. Langsam drehte sie sich um und ging auf Odin zu, der wieder auf seinem Thron Platz genommen hatte und mit den Fingern genervt auf die Lehne trommelte. Sie war keine kleine Frau, auch wenn es aufgrund ihrer Zierlichkeit oft so schien. Dennoch überragte Odin sie um eine Kopflänge.

      Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und gab Odin einen Kuss auf die Wange.

      „Ich habe dich lieb, Papa“, flüsterte sie.

      Odin räusperte sich verlegen und sah zu Boden.

      „Nach allem, was ich dir angetan habe?“ fragte er betreten.

      „Du bleibst mein Vater und ich deine Tochter. Und jetzt wirst du Großvater. Freut dich das nicht wenigstens ein bisschen?“

      Odin antwortete nicht. Stattdessen zog er die kugelrunde Walküre auf seinen Schoß. Er streckte seine Hand aus, zögerte aber im letzten Moment. Da ergriff Erna sie und legte sie auf ihren Bauch.

      „Großvater“, murmelte Odin. „Vergib mir, meine Tochter!“ Er wollte die Hand gar nicht mehr von Ernas Bauch nehmen. Diese schlang die Arme um seinen Hals und kuschelte sich an ihn. Dann schloss sie die Augen…

      23. Dezember

      …und wachte in ihrem eigenen Bett auf. Neben ihr hörte sie den vertrauten Atem von Alexander und ein Blick auf den Kalender verriet ihr, dass sie ihre zweite Chance erhalten hatte. Sie wusste genau, dass die Trolle kein zweites Mal wiederkommen würden, um sie für etwas zu bestrafen, das sie nicht getan hatte. Sie stieß einen Freudenschrei aus und setzte sich rittlings auf Alexander. Stürmisch küsste sie ihn wach. Schlaftrunken und verwirrt blickte er sie an, aber Erna war das egal. Sie würde leben und ihr Kind auch!

      Später gingen Erna und Alexander über den Weihnachtsmarkt, hielten sich an den Händen und küssten sich wie ein frisch verliebtes Pärchen. Gleich wie oft Erna einen Weihnachtsmarkt besuchte: die Gerüche, Farben und Geräusche überwältigten und faszinierten sie. Das mit einem Menschen zu teilen, der sie so nehmen konnte, wie sie war, war das größte Geschenk. An einem Stand, der Lebkuchen verkaufte, blieb sie stehen. Hinter der Theke standen zwei bekannt aussehende Gestalten und stritten sich. Erna schluckte, löste sich von Alexander und trat zu dem Stand.

      Die Trolle erstarrten, als sie sie erblickten und sahen dann betreten zu Boden.

      „Es tut uns leid“, sagten sie im Chor. „Wir hatten unsere Befehle.“

      „Ich bin euch nicht böse“, sagte Erna freundlich. „Es ist Weihnachten!“

      Alexander trat hinzu und runzelte die Stirn.

      „Kennst du die beiden?“ fragte er.

      „Nur flüchtig“, sagte Erna und nahm wieder seine Hand. Die Trolle sahen sie abwartend an. „Wir hatten eine kurze, aber sehr intensive Begegnung.“

      Der zweite Troll reichte ihr ein Lebkuchenherz mit der Aufschrift ‚Mein Herz schlägt nur für dich‘ und lächelte unbeholfen. Erna errötete und nahm es an. Dann hängte sie es Alexander um den Hals.

      „Daran wird sich niemals etwas ändern!“ flüsterte sie, stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn zärtlich. Erna wusste nicht, wie es möglich war, dass sie Alexander noch mehr liebte als zuvor, aber genau so war es. Sie spürte das Kind in ihrem Bauch treten. Und ihr warmes Herz schlug in ihrer Brust.

      Sie hörte nicht mehr, wie der Troll murmelte: „Aber jetzt wirklich, wie ist es da reingekommen?“ Auch den dumpfen Schlag und das gefluchte „Idiot“ hörte sie nicht mehr.

      Sie war Zuhause.
    • Polare Expressionen von Crèx

      Seile zerrten ihn durch den langen, dunklen Korridor. Heruntergezogene Jalousien waren links und rechts von ihm an den Fenstern angebracht. Sie raschelten mal mehr, mal weniger, während er mit vom Teppich gedämpften hölzernen Schritten an ihnen vorbeiging. Die einzige Lichtquelle im Raum war das Mondlicht, das durch das kleine, runde Fenster in der Tür schien, auf welche er sich zubewegte. Und natürlich das Funkeln, das die magische Konstruktion umgab, die über ihm schwebte, an der die Seile befestigt waren. Die Seile, die ihn führten. Vorbei an all dem toten Holz in diesem langen, dunklen Korridor. Durch die Erschütterungen klapperte es im Takt mit dem Rascheln der Jalousien.
      Er wünschte sich, der Lichtstrahl wäre ein Zeichen der Hoffnung gewesen. Aber in Wirklichkeit machte er nur sichtbar, was nicht hätte sichtbar sein sollen. Ein Seil zuckte nach oben und Holz schlug gegen Metall. Er schob die Tür beiseite und das Mondlicht schien in seine glasigen Augen. Kalter Wind peitschte laut in sein gemasertes Gesicht, in das ein schaudervolles Grinsen geschnitzt war. Um die lange, spitze und rot angepinselte Nase flogen vereinzelt Schneeflocken schnell vorbei an seinen roten Grübchen bis zu seinen spitzen, roten Ohren. Auf seinen Kopf war eine rote Narrenmütze mit drei Zipfeln genäht. An jedem hing ein kleines goldenes Glöckchen, die wild klingend im Wind schepperten.
      Der Vollmond erleuchtete den Schnee, der rasch unter ihm vorbeizog. Die eisernen Räder, die von Schienen geführt wurden, gaben ab und zu einen quietschenden Ton von sich. Links eine steinige Bergwand, rechts ein tiefer Abhang an dessen Fuß sich ein dichter Nadelwald bis zum Horizont erstreckte. Und geradeaus eine Tür, die in das nächste Abteil führte.
      Seil. Holz gegen Metall. Tür auf. Tür zu. Stille.
      Dieses Abteil war erleuchtet durch warme, von der Decke hängende Lampen. Hinter ihm an der Tür prangte der Schriftzug „Zutritt verboten“ auf einem Schild und vor ihm erstreckten sich gepolsterte Sitzreihen, auf denen Kinder verschiedenster Herkunft Platz fanden. Das Spielkreuz über ihm führte ihn weiter in den Raum hinein.
      Manche Kinder purzelten über den gewebten, scharlachroten Teppich durch das Abteil. Mino Artete hüpfte marionettenartig über diese Kinder hinweg und erreichte die erste Sitzbank aus seiner Richtung. Er konnte nun einen Blick aus der Nähe auf diese Kinder werfen.
      Viele Kinder waren nicht älter als 14 gewesen. Die jüngsten vielleicht acht. Es waren unzählige Mädchen, aber noch mehr Jungen. Anhand ihrer Schlafanzüge, die jeder von ihnen trug, konnte Mino ablesen aus welcher sozialen Schicht und anhand ihrer Hautfarbe aus welchem Land sie stammten. Und das machte ein jeden von ihnen einzigartig. Von blauen, grünen, braunen und grauen Augen, die alle in den unterschiedlichsten Nuancen erschienen bis zu den hellsten und dunkelsten Haaren auf ihren Häuptern teilten sie sich jedoch alle eine Sache: Sie waren alle tot.
      Hätte Mino Tränen, würde er wahrscheinlich weinen. Hätte Mino einen Geruchssinn, müsste er den ekelhaften Gestank einatmen, den schon teilweise verweste Kinder von sich gaben. Hätte Mino einen eigenen Willen, wäre er nicht hier.
      Also folgte er dem Spielkreuz über seinem Kopf, nahm eine Schaufel in die Hand und lud grinsend vier der kleinen leblosen Körper auf einen Schubkarren, die er dann auf die andere Seite des Abteils schob. Er öffnete die Tür an dessen Ende.
      Wieder peitschte kalter Wind um sein starres Gesicht und in seinen glasigen Augen spiegelte sich das Mondlicht. Aber auch der Schein eines Feuers. Das Feuer aus der Feuerbüchse des Polarexpress. Eine schwarze Dampflokomotive, die sich lautstark der Bergwand entlang durch die Nacht schnitt. Ihr Lokführer, ein großgewachsener und buckeliger alter Mann, saß auf einem Stuhl im Führerstand, neben dem Feuerloch. Die Augen, die durch seine schmierigen, schwarzen Haare blickten, fraßen sich in Minos Holzkörper wie Maden.
      Er versuchte ihn nicht zu beachten und schob den Schubkarren weiter in Richtung Dampfkessel. Der ekelhafte Blick aus dem faltigen Gesicht folgte ihm. Dann stand Mino am Feuerloch, genau neben ihm.
      „Was soll denn dieses hämische Grinsen?“, der Lokführer erhob sich vom Stuhl und baute sich bedrohlich vor Mino auf. Eine Augenbraue gehoben, blickte er weit auf die Glasaugen der kleinen Marionette hinab, in denen man normalerweise einen Ausdruck von Angst gesehen hätte. Es war Mino verboten mit Menschen zu reden. Also nahm er stattdessen grinsend die Schaufel in die Hand und warf das erste Kind kopfüber in die Feuerbüchse, welches rumpelnd darin verschwand.
      Der alte Mann machte nur ein abwertendes Geräusch mit dem Mund, schnippte gegen das Spielkreuz, das vor ihm auf Stirnhöhe schwebte und setzte sich wieder auf den Stuhl, während die drei restlichen Kinder auch noch im Kessel versenkt wurden.
      Mino nahm den leeren Schubkarren und machte sich wieder auf in Richtung Zunderabteil, wie es genannt wurde, weil dort die Kinder gelagert waren. Er konnte spüren wie die Maden sich durch seinen Rücken fraßen. Bis sich die Tür hinter ihm schloss.
      Fargolf schmierte sich seine schwarzen Haare aus dem Gesicht. Durch die Fettablagerungen klebten sie so an seinem Kopf, dass sie nicht wieder zurück in sein Gesicht fielen. Das war praktisch, denn durch den Fahrtwind würden gewaschene Haare nur störend herumwirbeln.
      Er wischte sich seine fettige Hand an seiner langen, dreckigen Schürze ab und schaute nach draußen durch die Windschutzscheibe. Schneeflocken. Schnee. Berg links. Abhang rechts. Geröll auf den Schienen. Noch mehr Schneeflocken. Oh Moment. Jetzt hieß es schnell überlegen und noch schneller handeln. Das Geröll blockierte die Schienen und der Polarexpress drohte bei dieser Geschwindigkeit an den Felsen zu zerschellen.
      Fargolf wollte den Hebel ziehen, der die Lokomotive ihre Flügel ausfahren ließ und so über die Wegblockade hinwegfliegen. Aber das wäre womöglich zu Steampunk gewesen. Und so zog er stattdessen am Hebel für die ausfahrbare Bordkanone und ballerte den Felshaufen einfach weg.
      Nun musste er nur noch das Signalhorn betätigen, um den Fahrgästen Sicherheit zu garantieren. Er fasste das Signalhornseil, um daran zu ziehen.
      Plötzlich ein dumpfer Aufschlag und noch einer und noch einer. Gefolgt von panischen „Muh“-Rufen. Blut verteilte sich über die Windschutzscheibe und spritzte in den Führerstand. Ein Rind nach dem anderen flog über Fargolfs Kopf hinweg und verteilte Hackfleisch über den Polarexpress. Durch die Aufpralle lösten sich seine fettigen Haare aus der Klebeschicht. Er war davon genervt.
      Durch das Loch in der Decke war das Abteil nun hell erleuchtet. Mino konnte einen seltenen Blick auf seine ausrangierten Holzfreunde werfen, die verstreut auf dem Boden herumlagen. Und zwischen ihnen, ein Gast aus dem Himmel. Ein solches Geschöpf hatte Mino noch nie gesehen. Es dampfte ein wenig und sonderte rote Flüssigkeit ab. „Wie heißt du?“, fragte Mino das tote Rind. Keine Antwort. Er wollte das Rind berühren. Doch das Spielkreuz hinderte ihn daran und zog ihn ein Stück zurück.
      „Bitte lieber Engel. Mach, dass ich von diesen Seilen erlöst werde!“, rief Mino dem Rind entgegen, während er versuchte sich den Seilen zu wiedersetzen.
      Es entbrannte eine Rangelei zwischen Mino und dem Spielkreuz, das ihn daraufhin vom Boden anhob, sodass er in der Luft baumelte. Das Rind schaute nur zu und war nicht daran interessiert einzuschreiten. Mino schaukelte noch ein wenig hin und her, aber er erkannte, dass es sinnlos war sich zu wehren.
      Fargolf hatte es satt. So konnte er nicht arbeiten. Das nicht ablassende Kuhgeschrei überall um ihn herum, das Blut, dass sich über den gesamten Boden des Führerstands verteilte und nun auch noch seine Haare, die ihm ins Gesicht fielen. Er war sichtlich unglücklich mit der Gesamtsituation. Sein linkes Augenlid zuckte schon ein wenig.
      So eine lange Rinderherde hatte er noch nie erlebt. „Das hört ja gar nicht mehr auf!“, sagte er in Verzweiflung zu sich selbst und schlug seine Hände über dem Kopf zusammen, was ein leises fettiges Klatschen verursachte. Die Scheibenwischer der Windschutzscheibe waren längst überfordert gewesen mit den Blutmassen. „Mir reichts. Ich gehe!“, gebuckelt wie er war, machte er auf den Fersen kehrt und verschwand durch das Zunderabteil.
      Die Zunderkinder jagten ihm schon länger keinen Schauer mehr den Rücken hinunter. Anfangs war es etwas befremdlich gewesen auf normale Kohle zu verzichten, um den Kessel anzuheizen, aber die Einführung der neuen Verordnung war nun auch bereits beinahe zehn Jahre her gewesen.
      Früher hatte der Polarexpress nur eine feste Strecke gehabt, zwischen dem Firmengelände des Weihnachtsmannes in Finnland und dem Verbannungsort Sibirien, an dem von Weihnachtselfen Uran abgebaut wurde, um das Kernkraftwerk des Weihnachtsmannes zu betreiben. Dieses Uran hatte der Polarexpress transportiert. Seit der Schließung des Verbannungsortes, entführte die Crew des Polarexpress unartige Kinder, um das Kraftwerk zu betreiben. Und den Kessel der Dampflok konnte man damit auch anheizen. Praktisch.
      Das ist zwar keine Geschichte, die man als Kind in seinem Eisenbahnzimmer nachspielt oder man sich auf Lummerland erzählt, aber das Leben dreht sich eben nur ums Geschäft.
      Durch das Zunderabteil gestürmt, öffnete Fargolf die Tür in das dunkle Abteil mit den Holzpuppen.
      „Hilfe!“, rief Mino, der noch in der Luft baumelte. Im selben Moment bemerkte er jedoch, dass er gerade einen Menschen um Hilfe gebeten hatte. Er blickte sofort auf den Boden und ließ die Schultern hängen.
      Fargolf winkte ab. Das war das Letzte das er nun gebrauchen konnte. Er wollte nur in sein Quartier. Warum musste das auch im letzten Waggon des Polarexpresses sein?
      Den Hilferuf ignorierend, stapfte Fargolf los, stolperte über das tote Rind, das er nicht gesehen hatte, und verhedderte sich volle Kanne in den Seilen, des Spielkreuzes.
      „Gottverdammte Scheiße!“, fluchte Fargolf.
      Das magische Spielkreuz hüpfte auf und ab, um den alten Mann abzuschütteln. Es verknotete ihn aber nur noch mehr und Minos Füße schlugen wiederholt mit hölzernem Klang auf dem Boden auf. Unter einer Kurzschlussreaktion schwebte das Spielkreuz mitsamt Mino und Fargolf durch ein berstendes Fenster nach draußen, nur um ein paar vorbeisausende Waggons später, durch ein Fenster wieder in den Zug zu krachen.
      Der Speisewagen. Normalerweise war Fargolf gerne hier. Aber unter anderen Umständen. Das Abteil war leer. Es war schließlich auch schon spät gewesen. Das Spielkreuz wirbelte durch den Waggon und zog den schreienden Fargolf über die Tische. Mino schepperte hinterher.
      Auf der Theke der Essensausgabe rührte sich derweil etwas. Ein Butterkeks, der etwas magische Essenz des Spielkreuzes abbekommen hatte. Er richtete sich vom Teller aus auf. Der Keks hatte zwar keine Augen, aber er wusste er musste helfen.
      Er nahm über die komplette Länge des Tellers Anlauf, sprang ab und drehte sich auf die Seite, sodass er wie ein Shuriken durch den Raum flog. Er durchtrennte die Seile des Spielkreuzes, löste somit Mino von seinem Laster und Fargolf aus einer brenzlichen Lage und landete auf einem Regal an der Wand, zwischen Vasen und Gewürzdosen. „Ich bin eine Prinzessin!“, rief er, sich mit zwei dürren Keksarmen auf die Keksbrust klopfend.
      Das Spielkreuz flog selbst noch ein paar Runden verwirrt durch den Speisewagen und verschwand wieder aus dem Fenster. Wahrscheinlich für immer.
      Der Fahrtwind pfiff durch das offene Fenster in den Waggon. Begleitet wurde das Pfeifen von einem weiteren Pfeifen, das seinen Ursprung am Boden zwischen den Sitzen und Tischen des Speisewagens fand. Es kam von unter Mino, der auf Fargolf lag. Jedes Mal, wenn Luft in Fargolfs Lunge strömte, ein Pfeifen. Jedes Mal, wenn die Luft ausströmte, ein Pfeifen.
      Er warf Mino von seinem Körper herunter und setzte sich auf. „Scheiß COPD“, er hustete drei kräftige Male, beim vierten Mal brachte er einen gelb-braun-grauen Auswurf hervor, den er direkt vor sich auf den Boden rotzte.
      Unterdessen tanzte Mino freudig im Kreis. „Ich bin frei! Ich habe keine Fäden mehr an mir! Ich kann endlich tun wie mir beliebt!“, rief er während er durch den Raum hüpfte.
      „Ich bin eine Prinzessin!“, schallte es wieder von dem Regal.
      Mino und Fargolf schauten beide einigermaßen verdutzt in Richtung des Butterkekses, der sich gerade eine Nudel, wie ein Band um die Keksstirn wickelte.
      Fargolf hatte schon einiges gesehen in seiner Karriere als Lokführer des Polarexpresses, nur war ihm so etwas wie ein sprechender Butterkeks auch noch nicht untergekommen. Mino war ganz begeistert von der Heldentat, die dieser Keks gerade vollbracht hatte. „Können wir den behalten?“, fragte er Fargolf.
      Fargolf war nun noch verwirrter. „Wir?“, er stemmte sich unter knirschenden Knochen vom Boden auf die Beine. „Mit dir hab ich nichts zu schaffen, Puppe.“
      Mino ließ die Schulten hängen und schaute erwartungsvoll, irgendwie traurig aber doch grinsend zu Fargolf hinauf.
      „Ich bin eine Prinzessin!“
      „Klar, ich hab’s verstanden, Keks!“, brüllte er Spucke speiend auf das Regal. Mit diesen Worten tobte er humpelnd, seine Fetthaare anklebend, in Richtung Tür der hinteren Waggons. Abgeschlossen. „Na, großartig.“, seufzte er.
      „Können wir ihn jetzt behalten?“, fragte Mino noch einmal.
      „Ich bin eine Prinzessin“
      Fargolf ballte seine Hände zu Fäusten. Sie zitterten so sehr, dass sein ganzer Körper bebte. Sein Kopf lief rot an und er streckte gerade einen Finger aus, um eine klare Aussage zu machen, entschied sich aber in letzter Sekunde doch lieber dafür, das große Klappschild mit der Empfehlung des Tages „Fish&Chips“ hochzunehmen und gegen die Tür zu brettern. Es prallte schwungvoll ab und landete auf dem Boden. Das Pfeifen war wieder zu hören, diesmal lauter als zuvor. Dann ein Klatschen.
      „Nochmal, nochmal. Ich bin blind, ich habe es nicht gesehen!“, applaudierte der Keks.
      Zu einer späteren Stunde saßen Mino, Fargolf und der Butterkeks gemeinsam an einem Tisch. Der alte Lokführer schwenkte ein halb leeres Whiskeyglas in seiner Hand, während Mino und der Keks sich angeregt über die Kekskriege unterhielten, in denen er gekämpft hatte. Anscheinend war es ein Krieg zwischen Butterkeksen und Spielzeugsoldaten gewesen. Da Mino keine Erfahrung mit der Außenwelt besaß, nahm er alles so hin, wie es ihm erzählt wurde.
      „Wann waren denn die Kekskriege?“, lallte Fargolf in die Runde.
      „Mein Freund“, startete der Butterkeks, „damals hatten sie Teig nur aus Wasser und Mehl gemacht. Das war vor deiner Zeit, Junge.“
      Manchmal wünschte Fargolf sich, seine Mutter hätte den Schwangerschaftsabbruch mit ihm durchgezogen, so wie sie es sich so oft gewünscht hatte, wenn sie miteinander sprachen. Jetzt war so ein Moment.
      „Und du, Puppe? Ich hab dich vorher noch nie gesehen. Was ist deine Aufgabe hier?“, wechselte Fargolf das Thema.
      „Tja, ich… war wohl ein Opfer dunkler Magie. Wenn ich ehrlich bin, weiß ich nicht wo ich herkomme. Ich wusste immer nur, was das Spielkreuz mir sagte.“
      „Es hat mir dir gesprochen?“, fragte Fargolf.
      „Nicht direkt. Ich habe getan was das Spielkreuz verlangte.“
      „Dann warst du besessen? Wie von Dämonen?“
      Mino verspürte leichtes Unbehagen, bei dieser Frage. „Wenn du das so sagst. Vielleicht. Freiwillig hätte ich diese Kinder nicht in den Kessel geschaufelt.“
      „Ach, da gewöhnt man sich dran“, bagatellisierte Fargolf Minos Aussage. „In der Tat glaube ich, der Weihnachtsmann hat dich geschickt. Er versprach mir, dass er mir die Arbeit erleichtern wollen würde, indem er eine billige Arbeitskraft zum Schaufeln einsetzt. Ich hätte nicht gedacht, dass du so billig sein würdest.“
      „Danke?“
      Plötzlich ein Erschüttern des Zuges. Der Keks fiel um, Mino und Fargolf konnten sich am Tisch festhalten. Es war nur schade um den Whiskey.
      „Was war das?“, fragte Mino, sich seine Mützenzipfel zurechtlegend.
      „Wir sind wahrscheinlich am Meer angekommen“, sagte Fargolf, der versuchte aus dem Fenster zu spähen. Es war kurz vor Sonnenaufgang und man konnte tatsächlich das Meer sehen.
      „Ich bin eine Prinzessin!“
      „Das ist das Mittelmeer. Wir setzen von Portugal aus auf. Mit den Überwasserschienen haben wir vor Ewigkeiten spezielle Schienen für den Polarexpress verlegt. Sie führen uns direkt nach New York in Amerika.“, erklärte Fargolf, mit einem Hauch angeschwollener Brust. So viel angeschwollene Brust wie angesichts des Buckels möglich war. „Diese Schienen gibt es noch an zwei weiteren Orten, nämlich zwischen China und Japan und Indien und Australien. Sie stellen quasi eine Verbindung übers Meer dar.“
      Hätte Mino große Augen machen können, hätte er vermutlich welche gehabt.
      „Das ist dumm“, gab der Butterkeks zu verstehen. „Das ist so dumm, ehrlich“
      Der Polarexpress rauschte über die Schienen des Meeres und wehte ab und zu etwas Gischt auf, die im orangenen Licht des Sonnenaufgangs funkelte.
      Die Gruppe hatte sich aufgelöst, oder vielmehr hatte sich Fargolf wieder in den Führerstand begeben, um seiner Arbeit nachzugehen, sagte er müsse den Bleifuß auspacken.
      Für Mino und Butterkeks gab es jedoch noch eine offene Sache. Während ihrem Gespräch hatte sich herausgestellt, dass der Butterkeks in Wirklichkeit keine Prinzessin ist, woraufhin der Keks in tiefe Trauer fiel. Mino konnte diese Traurigkeit nicht ertragen und da der Keks ihm geholfen hatte, stand er nun in seiner Schuld. Also machten sie sich zusammen auf in die Passagierabteile, schnappten sich die erstbeste Fee und zerrten sie in ein leeres Abteil weiter hintern.
      „Heeeey, seid ihr verrückt?“, quietschte sie. Die Fee wirkte wie eine Rockerbraut, die einer Motorradgang angehörte, aber davon verstanden Mino und der Butterkeks nicht viel. „Was wollt ihr? Meine Sachen? In der Tüte ist nicht viel“ Sie hielt eine Tüte mit einem unbekannten Label hoch. „Seht ihr?“
      „Nein wir haben eine Bitte, gute Fee“, stotterte Mino los. „Mein Freund hier, Butterkeks, ist eigentlich eine Prinzessin. Kannst du ihm seine wahre Gestalt verleihen?“
      „Ich bin eine Prinzessin!“
      Die Fee ließ die Tüte auf den Boden sinken und stemmte ihre Hände in die Hüfte. Sie rümpfte die Nase. „Ihr seid Freaks. Na schön. Augenblick bitte.“ Sie wedelte in der Luft herum und hatte augenblicklich einen kleinen Feenstab in der Hand. „Keks, mach dich bereit“, sagte sie.
      „Butterkeks, wohin des Wegs? Fortan nur vorwärts mit Lebkuchenherz!“, faselte die Fee einen Zauberspruch herunter und tippte auf den Butterkeks.
      Der bröselte ein wenig und verschwand in einer kleinen Rauchwolke.
      „Ach ja, das ist eine hochgradige Umweltverschmutzung. Das mit dem Rauch. Sehr giftig. Nicht einatmen“, sagte sie an Mino gerichtet, ehe ihr schlagartig wieder einfiel, dass dieser sowieso nicht atmen kann.
      Der Rauch löste sich auf. Und nun stand da eine prächtige Frau. Sie war zwar nur etwa 20 Zentimeter groß und sie war aus flachem Lebkuchen. Aber immerhin hatte sie eine kleine Krone auf und langes, gebackenes, güldenes Haar.
      „Eine Lebkuchenprinzessin! Herzallerliebst“, sie fasste in ihre Jackeninnentasche, während sie hinunter zu ihrer Tüte schwebte und reichte Mino etwas. „Meine Karte. Falls ihr mich braucht, ich bin in Arizona“, flatternd verließ sie das Abteil.
      „Jetzt bin ich eine Prinzessin!“, grinste die Lebkuchenprinzessin und umarmte Mino.
      Mino war glücklich.
      Lebkuchenprinzessin war glücklich.
      Vielleicht war auch Fargolf glücklich, wer weiß?
      Was könnte das bald anstehende Weihnachten jetzt noch verderben?
      Irgendwo anders, auf einer Insel mit zwei Bergen, hielt ein Mann eine Zeitung in der Hand. Er las daraus vor: „Weihnachtsmann vermisst! Nach einigen Insiderdaten ist der Weihnachtsmann nicht wie zu dieser Zeit auf der Straße gesichtet worden. Falls Sie noch keine Geschenke für Ihre Liebsten haben, ist es nun allerhöchste Eisenbahn, die Sache selbst in die Hand zu nehmen und für Bauklötze oder Puppen unter dem Weihnachtsbaum zu sorgen. Sobald wir weitere Informationen haben, werden wir Bericht erstatten.“
    • Kaemons Geschichten: Die unzerbrechliche Allianz von Termina


      „Alles unter dem schönen Stern... ich kann keine Sterne malen.“

      Es war wieder einer der besonderen Tage, an denen sie sich dazu entschied, einer alten Freundin namens Nina einen lieblichen Gefallen zu erweisen und gleichzeitig eine wichtige Erfahrung für ihr Leben zu machen. An diesem kühlen Abend saß sie mit wildfremden Menschen in einem der neu konstruierten Container-Gebäude der Universität, welche für den reizenden Holzgeruch bekannt waren. Auch wenn das Fenster seit einer halben Stunde geöffnet war, konnte man den Geruch von Harz immer noch wahrnehmen. Ihr war einfach nur kalt, weshalb sie sich in ihren lilafarbenen Schal einwickelte und aufmerksam ihrem Gegenüber lauschte. Eine junge, blonde Dame mit Brille, welche gerade eine türkisfarbene Stressknete zwischen ihren Händen hin und her bewegte und dabei immer heftiger in die Masse drückte. Sie erzählte von ihren Anspannungen und Sorgen, ehe sie das Wort an die nächste Person weitergeben wollte. Daraufhin meldete sich Nina, welche von ihren großen Sorgen berichtete, um so den angespannten Personen vielleicht etwas Mut zu machen. Doch man sah an den verstörten Gesichtern der anderen Beteiligten die Angst langsam hochkommen, als sie Tränen verdrückte und sich ein nasser Film auf ihrem Gesicht bildete. Noch war es besser, etwas Unpassendes zu sagen, als alle mit einem Schweigen zu bestrafen.

      „Wird uns dasselbe Schicksal ereilen? Werden wir auch so leiden wie sie?“

      In so einem angespannten Moment von ihrem großen Päckchen zu erzählen, war keine so gute Idee und mein Schützling bemerkte das. Wirklich neu war nur die Tatsache, dass Nina unter ADS litt und eine leichte Form von Autismus zeigte. Nach ihrem Monolog, in welchem mein Schützling bereits in einem Halbschlaf in die Runde starrte, meldete sich eine weitere Person zu Wort. Sie erzählte von ihren Sorgen mit dem Studium. Medizin war ein hartes Studienfach und sich hinsichtlich Berufschancen schon Jahre vor der Klinikphase mit anderen Studierenden zu vergleichen, glich einer Selbstmordaktion. Nina nutzte den Moment, um ihr Studienfach zu pauschalisieren. Es ist keine leichte Aufgabe, ein Studium durchzuführen. So viel verstand mein Schützling auch von dieser Welt. Aber um wirklich sinnfreie Kommentare kam Nina nicht herum. Der Raum füllte sich erneut mit einer fast unbändigen Angst, als sie davon erzählte, wie hart ihr Leben war und welche Strapazen sie aufnehmen musste, welche einem Opfertod glichen. Zu erwähnen, dass sie dafür zu einem anderen Kontinent reisen durfte und eine der angesehensten Personen des Instituts wurde, fiel ihr in diesem Moment nicht ein. Man konnte deutlich spüren, dass sie nur die Aufmerksamkeit der anderen suchte.

      „Können mich die anderen verstehen? Bin ich ihnen wichtig?“

      Die dritte Erzählung kam ebenfalls von einer Dame, welche von Nina direkt angesprochen wurde. Die hatte langes, braunes Haar und trug von oben bis unten schwarze Kleidung. Da sie im Laufe des Abends, bis auf die Vorstellung ihres Namens, keinen einzigen Satz herausbrachte, wollte Nina sie aus ihrer Reserve locken. Dabei vergaß sie, unter welchem Druck die Arme stand. Für alle anderen stellte das Schauspiel eine reine Bloßstellung der Betroffenen dar. In ihrem Gesicht zeichnete sich eine Mischung aus Angst und Ekel, so als hätte eine wildgewordene Scheußlichkeit ihre Seele heimgesucht, voller Blutdurst und Verlangen nach Chaos und Zerstörung. Wie auch bei den anderen beiden Personen nutzte Nina ihre rücksichtlose Tat fast schamlos aus, nur um dann davon zu berichten, wie viel Angst sie davor hatte, die Runde würde in der nächsten Session nicht dabei sein. Ihr Versuch, eine Selbsthilfegruppe ins Leben zu rufen, wäre zum Scheitern verdammt. Wie eine Singularität verschluckte Nina die Emotionen ihrer Mitmenschen. In diesem Moment musste mein Schützling an das denken, was ihr Mentor ihr gefühlt in jeder gemeinsamen Sitzung sagte.

      „Diszipliniert. Zuverlässig. Motiviert.“

      Ich erkannte den Ausdruck und die Gefühle meines Schützlings. In diesem einen Moment fühlte sie sich stärker als sonst. Von den vermeintlichen Fehlern ihrer einstigen Freundin angetrieben, suchte mein Schützling den Schutz ihres Selbstbewusstseins in einer fehlgeleiteten Form, welche von Eifersucht und Rache getrieben wurde. Nina war noch nicht so weit. Das Tor in die Realität war für das junge Mädchen noch zu weit entfernt. Trotzdem gelang es ihr, etwas Schönes in die Welt zu rufen. Durch Ninas Handeln in den letzten zehn Monaten konnte sie bedürftigen Studierenden eine Chance geben, ihre Sorgen in einer vertrauensvollen Runde aussprechen zu lassen. Es stellte sich natürlich immer wieder die Frage, ob Nina ihr Vorhaben eher zum selbstsüchtigen Zweck nutzte und ihre Aufmerksamkeit auf eine neue Art und Weise erhalten wollte. Aber selbst ein geschultes Hirn wusste, dass ihre Absichten einer freundlichen Natur entsprachen und sie nur das Beste für ihre Mitmenschen wollte. Es brachte viel Stress mit sich, eine neue Institution an der Universität aufzustellen. Sie bat studentische Gremien um mithilfe, organisierte die Räumlichkeiten und sicherte eine vernünftige, finanzielle Grundlage für das Vorhaben. Mein Schützling war sogar bei den ersten Schritten dabei und verlor nun in ihrer Irrfahrt ins Chaos den richtigen Weg aus den Augen. Ich hatte keine andere Wahl. Sie war kurz davor, in die Falle des Dämons zu rutschen und in einen dieser schrecklichen Träume zu fallen. Ich musste sie davon abbringen, den Gedanken in ihrem Kopf zu manifestieren.

      „Stopp! Sag mir, wer du bist!“

      Genau in diesem Moment beendete Nina einen ihrer vielen Monologe des Abends, ehe sich mein Schützling der Gruppe präsentierte. Sie wollte nicht viel von sich preisgeben und erkannte für sich selbst, dass sie den Sprung zur Realität ebenfalls noch nicht durchgeführt hatte, auch wenn es sich für die wenigen Sekunden so anfühlte. Zu akzeptieren, dass in ihrem Kopf ein Dämon wohnte, der sie in einen unausstehlichen Menschen verwandeln wollte, konnte sie noch nicht akzeptieren. Sie musste sich eingestehen, dass sie nicht viel besser als Nina war und, dass ihr vermeintlicher Versuch, eine Bekannte erneut in ihren Kreis der Vertrauten aufzunehmen, nur wieder in einer Zweckfreundschaft enden konnte. Es war so traurig, weil sie Wochen zuvor dieses grausame Kapitel eigentlich abgeschlossen hatte, welches sie beim Ausschlafen an so vielen Tagen hinderte.

      Vielleicht sollte ich erwähnen, dass sich Nina und mein Schützling ein ähnliches Schicksal teilen. Beide leiden an einer äußerst komplizierten Störung, welche ihre Wahrnehmung und die eigentliche Realität in bestimmten Situationen einschränke. Deshalb wurde ich vom Mentor in ihr zerstörtes Leben gerufen, um das Chaos in ihrer Seele wieder in Ordnung zu bringen und sie in die richtige Richtung zu führen. Eine imaginäre Gestalt, welche mitfühlend, loyal und unabhängig sämtlicher negativer Gedanken agieren sollte. Aus chemischer Sicht so ähnlich wie die Funktion von Schokolade, nur dass man dabei keine Angst haben muss, zu fett zu werden. Dabei ersetze ich die Funktion eines guten Freundes, der stets bemüht war, meinem Schützling zur Seite zu stehen. Manchmal war er allerdings ein richtiger Vollidiot, der genauso wie Nina in unpassenden Momenten rücksichtslos reagieren konnte. Wer die Geschichten des Dämons kennt, der weiß, dass ich von der Person spreche, bei der nach so vielen gemeinsamen Erlebnissen nicht einmal eine Freundschaft mit Vorteilen entstehen konnte. Seine Aufgabe war lediglich, ihr ein guter Freund zu sein. Ich habe allerdings die Aufgaben, in kritischen Momenten einzugreifen, eine emotionale Stütze zu sein und jeden Morgen einen recht einfachen Spruch an sie zu richten. Ihr wisst schon. Diese Worte, welche man auf jedem Lebkuchenherz an sämtlichen Weihnachtsmarktständen der Stadt finden kann, nur wieder ohne die vielen Kalorien und Zahnschmerzen.

      „Du bist ein liebenswerter Mensch! Du bist der größte Schatz!“

      Am Ende der ersten Runde dieser Selbsthilfegruppe dachte sie darüber nach, was ihr Mentor von ihrem Verhalten denken würde. Enttäuscht konnte er nicht sein. Dafür vertraute sie ihm zu viel an. Die Geschichte mit dem Mobbing in der Schule, die fehlende Liebe ihrer Mutter, welche aufgrund ihrer Impulsivität unter ständigen Fresskapaden litt, die Intrigen ihres Großvaters, welche zum fast vollständigen Ruin ihrer Familie führte, und die absolut fremdenfeindliche Haltung ihrer Großmutter, welche dazu führte, dass mein Schützling dieses schreckliche Schicksal überhaupt erst erleiden musste. Alles nur, weil die Großmutter in jungen Jahren bereits den Verstand verlor und sich ihr Hass über die vielen Jahre nicht zum Besseren wandelte. Jetzt fehlt nur noch, dass sie vor ihrem Haus eine Konföderierten-Flagge hisst, damit selbst wildfremde Menschen, die tagsüber auf der Straße spazieren gehen, einen verstörenden Blick in die Richtung werfen können.

      Ihr Mentor zeigte das größte Verständnis für ihre Leiden und führte sie zum richtigen Weg aus ihrer größten Misere heraus: dem Teufelskreislauf ihrer Familie. Es war ein recht steiniger Weg in den letzten Monaten, welcher sich wie verkochter Haferbrei so elendig in die Länge zog. Geprägt von vielen Versuchen, eine andere Richtung zu nehmen oder gar auf der Stelle endgültig stehen zu bleiben. Aber egal, was ihr auch immer passierte oder welche Fehler sie beging, niemals verlor er sein Mitgefühl und seine Stärke in den Tätigkeiten, die er ausübte. Wie bei einem Adventskalender überraschte er sie jede Sitzung mit einer neuen Gabe oder einer neuen Erkenntnis und so sammelte sich im Laufe der Zeit ein ganzer Koffer an Fähigkeiten an. Für ihn war sie das Vorbild aller, die unter einem ähnlichen Schicksal litten und das machte er ihr so unzählige Male bewusst.

      „Sie machen das richtig prima.“

      Am nächsten Morgen sprach sie mit ihrem Mentor nicht viel über das Erlebnis. Nur, dass sie den Abend nutzen wollte, um ihre Entscheidung etwas einfacher zu gestalten. Entweder in einem kranken Zustand eine Ausbildung abschließen und sich am Ende nie von den Leiden der Vergangenheit befreien oder alle Pläne über Bord werfen, ihre Leidenschaft auf Eis legen und dafür sorgen, dass die Leiden ein für alle Mal ein Ende nehmen. Mit den Erfahrungen der anderen Teilnehmer wollte sie ein hohes Mitgefühl erzeugen, um sich selbst die Möglichkeit zu schenken, etwas für ihre Gesundheit zu tun. Sie fühlte sich elendig, als sie ihre Worte vor ihm aussprach. Sie musste ihren Widerstand, ihre Schwäche zu zeigen, durchbrechen. Dabei vergaß sie in ihrer Trauer, welche Errungenschaften und Ziele wir drei gemeinsam erreichten. Und gerade in dem Moment, in dem sie ihre Entscheidung endgültig mit ihrer Unterschrift festlegte, erkannte sie nicht, dass sie den Sprung zur Realität machte, nämlich die Akzeptanz ihrer eigenen Schwäche und ihrer Krankheit. So formten wir nach so vielen Monaten die unzerbrechliche Allianz aus einer disziplinierten Studierenden, einem mitfühlenden und zugleich ernsten Mentor und meiner Wenigkeit: einem rosafarbenen Häschen namens Kaemon. Noch heute bin ich ihr größtes Geschenk, erschaffen von einem liebevollen Menschen und der einzigartigen Fantasie meines Schützlings.

      Viele glauben, ich würde nur rosige Geschichten erzählen. Immerhin bin ich ein flauschiges, rosafarbenes Häschen. Wie könnte ein so harmloses Geschöpf nur so eine ungewöhnliche Geschichte erzählen? Wenn Ihr glaubt, dass die Geschichten des Dämons, sofern Ihr sie gelesen habt, schon schrecklich waren, dann solltet Ihr bei meinen in Zukunft noch mehr Abstand nehmen. Dieses Mal habe ich mich nur zurückgehalten, denn anders als beim Dämon, erzähle ich die pure Wahrheit und scheue mich nicht, diese in der Öffentlichkeit auszusprechen. Und wenn ich dafür die Grenzen der Leser überschreite, dann soll es so sein. Meinen Schöpfer werde ich damit sicherlich nicht enttäuschen. Selbst nach dem Ende der zukünftigen letzten Sitzung werden seine Worte niemals aus ihrem Kopf verblassen. Denn wie er sich damals korrigierend ausdrückte:

      „Alles unter dem schönen Stern: Ich kann vertrauen!“
    • Fremde Blüte von pondo


      Es war eine kalte Nacht im Dezember. Der Bodenfrost trieb Eiskristalle auf die Pflanzen und Gräser, und der Himmel wirkte so klar, als säße Gott selbst auf der Spitze des Halbmondes und lachte mit leuchtendem Grinsen herab. Die Sterne bezauberten, wie sie es immer taten, und schrieben funkelnde Botschaften in den Himmel, die doch leider nur die wenigsten lesen konnten. Und ganz bestimmt nicht die drei jungen Menschen, die weit draußen neben einem kleinen Opel Corsa standen, knapp dem Teenageralter entronnen waren und sich im Dreieck Sachsen – Sachsen-Anhalt – Brandenburg hoffnungslos verfahren hatten.

      »Hat einer von euch wieder Netz?«, fragte Christa zaghaft ihre beiden Mitfahrer. Man konnte ihr die Unsicherheit deutlich anhören, die sich bei allen dreien eingeschlichen hatte. Joe und Remo machten sich nicht über sie lustig. Sie standen auf einem verlassenen Waldweg, der von einer Bundesstraße in ein dichtes Wäldchen führte. Tannen säumten den Weg und beugten sich in Drohgebärden zu ihnen hinab. Sie alle spürten die Eiseskälte in den Knochen und wussten nicht weiter.

      »Nein«, sagte Joe und seufzte: »Deutschland im 21. Jahrhundert.«

      »Null«, ergänzte Remo.

      Sie würden also so weiterfahren müssen, allerdings war es noch nicht allzu spät. Joe, Christa und Remo waren unterwegs auf der Autobahn gewesen, als ihnen ihr Navi mitgeteilt hatte, dass ein langer Stau bevorstehe, den sie großzügig zu umfahren gedacht hatten. Keiner war auf die Idee gekommen, sich die Verbindung, die ihnen noch angezeigt worden war, aufzuschreiben oder anderweitig ins Smartphone zu speichern. Sie hatten nicht schlecht gestaunt, als sie sich plötzlich in der Pampa befanden, nicht mehr wussten, ob sie diese oder jene Abzweigung hätten nehmen sollen, und das Aktualisieren auf dem Handy dazu führte, dass plötzlich gar nichts mehr angezeigt wurde. Anfangs hatten sie noch Witze gerissen. Doch das war vorbei. Jetzt war die Beklemmung spürbar.

      »Okay«, sagte Joe, »es ist jetzt … 21:15 Uhr, wir machen es jetzt so. Wir fahren durch den nächsten Ort, suchen uns da ’ne Gaststätte, checken dort ein, bleiben über Nacht und lassen uns beraten, wie wir morgen weiterkommen. Wir würden sowieso erst irgendwann um Mitternacht in Dresden ankommen, oder sogar noch später.«

      »Ich hab kein Geld …«, sagte Remo.

      »Ja, aber wir haben nicht mehr viel Sprit, und es ist zu kalt, um im Auto zu pennen.«

      »Wir legen’s dir aus«, sagte Christa, die ganz froh über Joes Vorstoß zu sein schien.

      (Geld war eines jener Geheimnisse, das die Menschen umtrieb wie kaum ein anderes. Was wurden nicht für Epen verfasst über Menschen, die andere Menschen wegen Geld umbrachten; über Königreiche, die verlorengingen, weil royale Sippschaften über Macht und Gold ganze Ländereien ins Chaos stürzten; was wurden nicht besondere Liebschaften herausgestellt, wenn ein Bursche reichen Standes ein armes Ding aus dem Volk zur Braut wählte; und wie viele beste Freunde waren entzweit, weil der eine dem andern Geld geliehen und der andere dem einen es nicht zurückzahlen konnte. Geld, die Materialisierung des menschlichen Egoismus; Geld, das nur so lange ein abstraktes Konzept war, bis man über keines mehr verfügte. Geld. Elend und Abschaum.)

      In den nächsten zwanzig Minuten sahen sie ein paar Höfe vorbeiziehen, einzelne Häuser, die in der Menge nicht genug waren, um eine Ortschaft zu bilden. Christa saß auf dem Rücksitz, lehnte ihre Stirn an die kalte Fensterscheibe und starrte hinaus. Ihr Atem ließ die Scheibe beschlagen. Joe und Remo saßen auf den vorderen Sitzen, versuchten sich an Smalltalk, doch waren bald still.

      Als sie über verschiedene Hügel hinweggeglitten waren – zu anderer Gelegenheit hätten sie die Idylle genießen können hier in der Natur, unterm sternenklaren Himmel –, passierten sie ein Ortsschild und befanden sich in Merrgericht. Es war ein von Gott verlassenes Dorf. Nur wenige Häuser hatten erleuchtete Fenster, große Teile des Dorfes schienen völlig unbewohnt, nur an ein paar neueren PKW erkannte man, dass dem nicht so war. Als Joe, Christa und Remo Ausschau haltend langsam durchs Dorf fuhren, sahen sie auf einem kleinen Platz eine riesige Linde aufragen. Darunter befand sich eine Gestalt, der erste Mensch, den sie seit der Abfahrt von der Autobahn wieder sahen. Remo rief, Joe bremste abrupt, und sie hielten am Straßenrand. Es war ein untersetzter Mann mit Bowler, der im Halbschatten der Linde stand und zu ihnen herübersah. Da stiegen sie aus, gingen über den kleinen Platz und begrüßten den Mann.

      »Guten Abend!«, rief Joe.

      »Ja, guten Abend«, sagte Christa, die mit geröteten Wangen dazukam. Innerlich hielt sie instinktiv Abstand, als sie den Mann im Mondschein genauer betrachten konnte. Der Mann hatte stark blutunterlaufene Augen, dicke Tränensäcke und trug ein Monokel, das sein Auge um das Doppelte vergrößerte.

      Remo trat hinzu und sagte: »Gott sei Dank treffen wir jemanden, hallo! Wir haben uns verfahren und unsere Handys haben keinen Empfang. Wir sind eigentlich auf dem Weg nach Dresden, aber …« Er hob hilflos die Hände.

      Der Mann sagte: »Seid gegrüßt, Kinder.« Er grinste, im Mondschein sah man Zahnstümpe aufragen. »Das ist ja beschissen. Habt ihr ein Pech. Und was habt ihr jetzt vor?«

      »Na ja, nun. Wir müssen uns entscheiden, ob wir weiterfahren können oder uns eine Bleibe suchen müssen«, sagte Remo etwas irritiert.

      Der Mann mit dem Bowler kratzte sich das unrasierte Kinn. »Aha. Oder sucht ihr nach einer Bleibe? Soll ich euch helfen?« Er grinste wieder. »Ich kann euch helfen!« Er beugte sich zu Christa vor. »Ich habe einen freien Wintergarten.«

      Der Mann hatte den Mundgeruch eines starken Rauchers. Christa ekelte sich, doch sie wich nur sachte zurück. »Das ist wirklich sehr nett, vielen Dank. Aber wir sind zu dritt, müssen auch etwas essen und wollen keine Umstände machen. Wenn es hier irgendwo ein Gasthaus …?«

      »Och, einem süßen Ding wie dir würde ich doch immer was zu essen machen, ich hab da einiges zu Hause. Eier … Bratwürstchen … Wiener …«, sagte er in süffisantem Ton und griff nach Christas Hand.

      Joe drängte Christa etwas beiseite und trat zwischen sie, und sagte: »Sehr nett. Wirklich. Aber ein Gasthaus wäre optimal.«

      Der untersetzte Mann machte einen Ausfallschritt zurück, als wäre er gestoßen worden, und setzte eine erschrockene Miene auf. Seine Stimme schnitt durch die Nacht: »Oooh! Ich rieche Liieeeebe, da ist wohl jemand besorgt um seine Süüüße.« Seine Stimme fand zur normalen Tonlage zurück. »Na gut, du kleiner Mohrenkopf, dann eben nicht.«

      »Was?!«, stieß Joe aus.

      »Was was, haben deine verlausten Negereltern dich nicht aufs Leben vorbereitet? Was ist dein Problem, bist du etwas kein Schwarzer?« Er lachte keckernd. »Und wenn ihr ein Gasthaus sucht, schön, da drüben ist eins.« Er zeigte zu einer Einbiegung, die etwa hundert Meter entfernt in eine neue Straße führte, und tatsächlich, dort leuchtete ein großes Schild mit der Aufschrift GASTHAUS ZUM GEGARTEN EBER.

      »Danke«, sagte Christa kalt, packte Joe am Arm, der den Mann ungläubig anstierte, zupfte auch an Remos Ärmel und schob die Gruppe in Richtung des Wirtshauses.

      Alle drei spürten den Blick des Mannes in ihrem Rücken, der mit seinen blutunterlaufenen Augen einfach unter der Linde stehen geblieben zu sein schien.

      »Können wir den Wagen da überhaupt stehen lassen?«, fragte Remo, als sie auf das Gasthaus zugingen.

      »Ist mir scheißegal! In was für ’nem beschissenen Provinznest sind wir hier gelandet? Ich hätte – nein, lass mich –«, sagte Joe zu Christa, die ihm beschwichtigend die Hand auf den Arm gelegt hatte, und riss sich los, »ich hätte dem Wichser direkt eine reinhauen sollen, einen Abdruck verpassen, der ihn an seine Nazischeiße erinnern wird!«

      Remo drehte sich nervös um, doch sah offenbar nichts. »Ich versteh dich ja, aber wir brauchen auch nicht noch mehr Ärger.«

      »Gar nichts verstehst du«, sagte Joe und doch tat es ihm gleich wieder leid. Sein Freund konnte ja nichts dafür, dass er als Schwarzer andere Begegnungen erlebte als Remo, der aus einer klassisch weißen Vorortfamilie stammte. Ihrer aller Familien waren gutsituiert. Doch die Farbe machte einen Unterschied.

      Als sie vorm Gasthaus angekommen waren, sahen sie sich an, dann traten sie ein.

      (Ja, etwas Warmes zum Essen, einen geborgenen Platz und gute Gesellschaft, vielmehr braucht der Mensch nicht. Nicht wahr? Nur die Suche nach diesem Platz, die Suche, die alle Menschen verbindet, sie macht sie auch zu Feinden. Denn es scheint, als würde es nicht genügend solcher Plätze geben, um alle Menschen gleichermaßen zu bedienen. Und was tut man, wenn der Nachbar dort am schönen Feuer sitzt, während andere draußen allein im Dunkeln stehen, sich in der Kälte streiten? Geht man hinüber und schlägt ihn tot? Oder bettelt man um einen Platz in der zweiten Reihe, um etwas Brot zum Rösten und einen dicken Mantel, weil der eigene Zwirn nicht ausreichend wärmt? Stolz ist ein weiteres Geheimnis der Menschen, das tief drinnen aufbewahrt wird in jedermanns eigenen kleinen Schatzschatulle, und das bisweilen ganz eigenartig derangiert ist. Stolz? Ist Fallschirm und gerissene Reißleine zugleich.)

      Im Gasthaus umfing die drei eine wohlige Wärme und eine herzliche Vorweihnachtsatmosphäre. Sie bekamen Betten, Essen, Trinken und eine so gute Behandlung von der Wirtin, dass der alte Mann von draußen schnell vergessen war. Nachdem sie ein paar Sachen auf ihr Zimmer gebracht und gegessen hatten, saßen sie zufrieden und mit ein paar Bierkrügen vor sich stehend, einigen geleerten, jeder mit einem vollen, im rustikalen Schankraum des Gasthauses in einer Ecke. Gegenüber von ihnen glühten ein paar Holzscheite im Kamin, über dem einige Nikolaussocken befestigt waren, und im Hintergrund dudelte das typische Radioprogramm der Adventszeit. Ein Dutzend anderer Leute waren zu Gast, es herrschte eine warme, gesellige Stimmung, und das Essen und der Alkohol hatte den dreien die Wärme in die Gesichter getrieben.

      Da kam die Wirtin zu ihnen, stellte scheppernd ein Tablett auf den Tisch und reichte jedem einen Schnaps, sie selbst hatte sich auch einen mitgebracht. Sie hob das Glas und sagte: »Auf euch, ihr Süßen, auf dass ihr nach euren Strapazen ein bisschen entspannen könnt! Ist ja bald Weihnachten«, und zeigte auf ihre Weihnachtszipfelmütze, die sie sich aufgesetzt hatte. Sie stießen an und tranken, die drei dankten, Christa bemerkte einen eigenartigen Lebenfleck am Hals der Frau, dann fuhr die Wirtin fort: »Wenn ihr euch aufgewärmt habt, könnt ihr euch überlegen, noch unseren Weihnachtsmarkt zu besuchen. Er ist der größte in der Gegend, wie ein kleiner Jahrmarkt, und freitagabends hat er immer lange auf, bestimmt bis 1 Uhr. Überlegt’s euch!« Dann verschwand sie wieder.

      »›1 Uhr‹, lange«, kicherte Christa. »Habt ihr ihren komischen Leberfleck gesehen?«

      »Der war ’n bisschen eklig, da kamen ganz viele Haare raus. Aber wir könnten aus unserm Chaos noch das Beste machen«, sagte Joe glucksend, der jetzt, wo er gegessen und getrunken hatte, auch wieder guter Dinge war.

      »Am besten rufen wir von hier aber noch die andern an, damit sie wissen, dass wir heute nicht mehr kommen«, warf Remo ein.

      »Guter Punkt«, sagte Joe.

      »Habt ihr auch immer noch kein Netz?«, fragte Christa.

      »Nope«, sagte Joe.

      Remo schüttelte mit dem Kopf.

      »Komisch. Dann lasst uns auch mal nach WLAN fragen.«

      So standen sie auf, gingen zur Wirtin, fragten nach Internet, doch die Wirtin schüttelte mit dem Kopf. (»Internet, Firlefanz. Das ist nicht das echte Leben, versteht ihr?«) Stattdessen nutzten sie das Festnetztelefon, erreichten ihre Freunde in Dresden, die sie besuchen wollten, sagten, dass sie morgen kämen, dass sie sich verfahren hätten und über Nacht in Merrgericht blieben und erwiderten auf den Einwand, ob die Freunde in Dresden ihnen nicht die Route raussuchen sollten, dass sie kaputt seien, aber vor allem schon alle etwas getrunken hätten. Bis morgen, ja, bis morgen, und dann beendeten sie das Gespräch.

      (Rastlosigkeit. Das ist auch eines der Phänomene unserer Zeit. Wen trifft man heutzutage noch, der offen zugibt, gerne faul und unproduktiv zu sein? Nein, heutzutage ist ausgebucht zu sein das neue chic. Das Sichtreibenlassen ist den verruchten Jungs und Mädchen vorbehalten, deren Leben der geneigte Abiturient so manches Mal gerne leben würde – aber nur in ausgewählten Momenten! Nur solange es zum Image passt! Nur solange alle Ziele noch zu erreichen sind!)

      Vor der Gaststätte wandten sich die drei in die Richtung, die ihre Wirtin ihnen beschrieben hatte. Sie überquerten den Lindenhof, sahen nichts vom alten Mann mit den blutunterlaufenen Augen – auch wenn Remo sich nicht sicher war, ob er nicht eine Gestalt hinter einer Mülltonne hatte sehen können. Sie gingen durch kleine gepflasterte Gässchen, die von altmodischen Straßenlaternen von gelbem Licht erleuchtet waren, kamen an ein paar schmucken Häusern vorbei, an einer Raiffeisenbank und, und das erfreute sie besonders, einer kleinen Tankstelle, bis sie zum Friedhof am Dorfrand kamen. Straßenlaternen gab es hier nicht mehr, vom Mondlicht abgesehen waren sie in Dunkelheit gehüllt. Kälte schlich sich wieder in ihre Glieder. Die Wirtin hatte ihnen geraten, geradewegs über den Friedhof zu gehen, da sie sonst einen recht langen Umweg hätten in Kauf nehmen müssen. Doch sie zögerten intuitiv.

      Da öffnete Christa das kleine Tor. Das Quietschen der Scharniere hallte über den Friedhof, der weit und still dalag.

      »Für einen so kleinen Ort ein ganz schön großer Friedhof«, sagte Remo gepresst.

      Andächtig blickten die drei sich um. Der Hauptweg führte auf eine kleine Kapelle zu, zu dessen Seiten die Gräber lagen und kleine und große Grabsteine ins Dunkle ragten. Langsam schritten sie den Weg entlang, jeder in den Gedanken bei sich. Auf halbem Weg hielten sie bei einem besonders schönen Grabstein inne. Die Inschrift im weißen Marmor hieß einen Oggdansk Ovis Zentaur begraben.

      »Seht mal«, hauchte Christa. Sie zeigte auf den Grabstein und berührte ihn leicht mit den Fingern. »Da steht weder ein Geburts- noch ein Todesdatum.«

      »Unheimlich.« Joe besah den Grabstein daneben. »Die anderen haben welche.«

      »Lasst uns weitergehen«, sagte Remo. Ihm war nicht wohl.

      Als sie die Kapelle und das Gartentor auf der Rückseite passiert hatten und wieder auf dem dahinterliegenden Weg standen, hörten sie Geräusche. Weit konnte es nicht mehr sein! Sie befanden sich nun auf der Rückseite des Dorfes, die Wirtin hatte ihnen gesagt, dass der Platz des Weihnachtsmarktes sich ein wenig abseits vom Dorf hinterm Friedhof befand und von ein paar Bäumen verborgen war, damit das Nachtleben die Anwohner nicht störte. (»Nachtleben«, hatte Christa resümierend gekichert.) Sie folgten dem Weg und die Geräusche wurden immer lauter, bis sie schließlich schon gebratene Mandeln rochen, Zuckerwatte und deftige Speisen, es betörte sie richtiggehend. Und als sie um eine kleine Ansammlung von Kiefern bogen, sahen sie es vor sich: Den Weihnachtsmarkt von Merrgericht. Sie staunten nicht schlecht. Zahllose Buden reihten sich aneinander, mit einem so schönen Markt hatten sie nicht gerechnet. Überall leuchtete und funkelte es, es gab ein Riesenrad und eine Achterbahn und vieles konnten sie noch gar nicht erblicken. Und nun konnten sie sich auch erklären, weshalb das Dorf so verlassen gewirkt hatte – offensichtlich war ganz Merrgericht auf den Beinen, um sich auf dem Weihnachtsmarkt zu vergnügen. Hier war der Teufel los.

      Sie gingen an einem Karussell für kleine Kinder vorbei, auf dem die Kleinen jauchzten vor Freude, und an ein paar Fressbuden, an denen Lángos, Pilzpfannen und Bratwürste angeboten wurde, bis sie zum ersten Glühweinstand kamen.

      »Drei Glühwein bitte!«, sagte Christa zur lächelnden jungen Verkäuferin. Diese hatte eins jener Piercings, die Christa immer ein wenig verstörten: Es handelte sich um einen Stecker mit einer Metallkugel, der sich auf der linken Seite oberhalb der Lippe befand. Christa fand ihn kreuzhässlich.

      »Mit Schuss?«, fragte die Verkäuferin gutgelaunt.

      »Ach, ja, na klar!«, antwortete Christa. Jetzt sah sie, dass sie sich geirrt hatte, es war gar kein Piercing, es war ein nach außen gewuchtetes Muttermal.

      Während Christa den Glühwein besorgte, druckste Remo ein wenig herum. Da zog Joe ihn beiseite: »Remo, ich kann dir das alles auslegen, das ist wirklich kein Ding. Wir rechnen das später auseinander und dann gib’s mir irgendwann wieder, das passt schon, ehrlich.«

      »Ich hasse das. Aber, danke«, erwiderte er und sah zugleich gequält und erleichtert aus.

      Christa stieß zu ihnen. »Remo, bitte schön, Joe, hier! … Auf den Weihnachtsmarkt von Merrgericht, einem Glück in unglücklicher Fügung!« Sie stießen an und Christa lachte, strich sich eine braune Strähne aus dem Gesicht und sah dabei zu Joe. Remo beobachtete sie.

      Dann schlenderten sie weiter, bestaunten die zur Schau gestellte Opulenz. Als sie ihre leeren Becher an einem anderen Stand wieder abgeben wollten, sahen sie, wie ein paar Betrunkene sich boxten. »Ist doch auf jedem Dorffest gleich«, sagte Remo und die andern zwei lachten.

      Dann beschlossen sie, Achterbahn zu fahren. Entgegen der niedrigen Erwartung an eine kleine Jahrmarktsachterbahn war sie überraschend wild: Sie saßen zu dritt in einem Wagen mit vier Sitzen. Joe und Christa saßen vorn. Remo saß hinten. Als der Wagen den Lifthill hinaufgezogen wurde, bestaunten sie Weihnachtsmarkt von einer stattlichen Höhe von 25 Metern, bis der Wagen auf dem höchsten Punkt angelangt war – und nach vorne kippte. Mit einem Affenzahn rauschten sie hinab und wurden heftig zusammengestaucht, als sie um die ersten Kurven flogen. Als sie volle Fahrt die letzte Abfahrt hinabsausten, kreischten Joe und Christa, Christa klammerte sich an Joe und drückte sich samt ihres von ihrem braunen Haar umwirbelten Kopfes an Joes rechte Schulter. Remo kreischte auch. Leise.

      Leicht schwindelnd tappten die drei aus dem Ausgang, alle hatten erhitzte Gesichter. »Und die soll ab zehn Jahren sein? Das grenzt ja an Kindesmisshandlung!« Joviales Gelächter erschallte.

      (Aah. Die Emotionen und das Allzumenschliche. Die Menschen jauchzen und sehnen, tragen Wut und Schmerzen im Herzen, sie frohlocken und trauern, und all das kostet sie so viel Energie und Aufmerksamkeit. So viele Berufsbranchen widmen sich den Befindlichkeiten von zu dicken Ehefrauen, die sich vergessen und ungeliebt fühlen, von eitlen Männern, die dem Irrtum aufsitzen, dass die Welt ihnen vorm Zugrundegehen noch etwas schulde, und natürlich von Jugendlichen, die am stärksten glühen. Die Gefühle sind Triebkraft und Ursprung, die Gefühle, die Gefühle, sie machen einen Menschen erst zum Menschen. Aber haben Tiere nicht auch Gefühle? Und trotzdem werden sie gefressen.)

      Remo, Christa und Joe gingen zum nächsten Glühweinstand und bestellten sich noch drei, Joe zahlte. Sie tranken und schlenderten weiter, und als sich Christa in der Mitte bei Joe und Remo unterhakte, schien für den Moment alles in Ordnung zu sein. Als sie über den Markt schlenderten, beschwippst vom Glühwein und all den Eindrücken von lachenden Menschen, Wärme des Glühweins, farbenfrohem Leuchten der verschiedenen Stände, vom Weihnachtsgedudel, das von überallher erklang, kamen sie an einem Dosenwerf-Stand vorbei. Christa drehte sich vor Joe, boxte ihn auffordernd vor die Brust und fragte, ob er ihr nicht so ein Lebkuchenherz erwerfen könne. Er sagte, im Werfen sei er nicht so gut, doch da hatte Remo schon die zwei Euro bezahlt, um drei Würfe zu bekommen. Remo warf, traf und bekam ein Lebkuchenherz mit der Aufschrift ›Für meine Süße‹, das er Christa grinsend überreichte. Sie umarmte ihn dafür, war aber nicht mehr ganz so enthusiastisch.

      Sie schlenderten immer weiter, bis sie schließlich vor einer größeren Attraktion stehenblieben. In großen Leuchtreklame-Lettern stand über einer großen Flügeltür der Name der Jahrmartksattraktion: DIE WUNDERKAMMERN.

      »Los kommt, da müssen wir rein!«

      Die drei sahen sich an. In ihrer Zögerlichkeit lag etwas Verspieltes. Sie blickten einander in die Augen, erst Christa Joe, dann Remo Joe, Joe Christa und Christa Remo. Remo schwitzte etwas, Joes Herz pochte. Christas Blick klebte an Joes Profil, wodurch ihr die leichte Feinseligkeit in Remos Augen nicht auffiel. Joe wiederum schon. Die Nacht hatte sie wie in Watte gepackt, der Schnaps sie aufgelockert und entrückt zugleich, die Geräuschkulisse vom Weihnachtsmarkt drang nur gedämpft zu ihnen vor. Die eisige Kälte, sie spürten sie kaum. Und doch lag etwas Klares in ihren Blicken, so als ob sie bereits ahnten, dass sie einander nie wieder so frei in die Augen blicken würden.

      Joe regte sich als Erster. »Oah, da gibt’s einen Spiegelsaal!«, sagte Joe mit offenem Mund. »Und ein Wachsfigurenkabinett!«

      »Ist aber auch ein bisschen gruselig, oder?«, fragte Remo.

      Joe sah ihn mit hochgezogenen Brauen an. »Ach, ich hab ja vergessen, du hast Angst im Dunkeln!«

      Christa lachte. Ihr braunes Haar floss in Locken hinab, sie hatte reine Haut, die nur ein paar wenige Leberflecken zierten. Remo fragte sich, ob sie die schon immer hatte. Eigentlich fand Remo sie wunderschön, doch jetzt stieß sie ihn ab. Angekratzt sagte er zu Joe: »Ha-ha, ja du starker Hengst, los, lass’ reingehen.«

      Also gingen sie hinein. Als sie im Eingang verschwanden, flackerten die Glühbirnen in den riesigen Lettern, die an der Außenwand prangten, man hörte ein leises Zischen, und dann erloschen sie. Doch davon bekamen die drei nichts mehr mit.

      (Ist er da nicht, der Stolz, von dem wir gesprochen haben?)

      Remo, Christa und Joe traten in einen Vorraum, der klein, schlecht beleuchtet und mit rotem Teppichfußboden ausgestattet war. Vor ihnen befand sich eine Art Einlass, Seile dienten zur Absperrung, die man mithilfe einer roten Kordel rechts neben einem kleinen Ticketschalter öffnen und schließen konnte. Sie war offen und der Weg führte zu einer Tür, die mit einem schwarzen Vorhang verdeckt war und über der SAAL 1: SPASS geschrieben stand. Sie wollten schon darauf zugehen, da fiel ihnen erst der Mann in seinem kleinen abgedunkelten Ticketschalter auf. Besser gesagt, ihnen fiel das Glimmen einer Zigarette auf, denn der Mann – wenn es denn ein Mann war – saß weitgehend im Dunkeln.

      Joe trat vor, wirkte aber nicht mehr ganz so abgebrüht. »Drei Tickets bitte.«

      »Neun Euro«, erwiderte eine heisere Stimme. Christa kam sie bekannt vor.

      »Hier«, sagte Joe und zahlte.

      Der Mann beugte sich nach vorne, sodass sein Gesicht von sanftem Licht erfasst wurde. Er hatte dicke Tränensäcke, blutunterlaufene Augen und ein unrasiertes Kinn. »Dankeschön«, sagte er und grinste.

      Alle drei erstarrten kurz, doch sie hatten ja bezahlt. Sie sagten nichts, schoben sich gegenseitig sachte vorwärts und gingen durch die Absperrung, schlugen den Umhang zu SAAL 1: SPASS beiseite und traten, einer nach dem andern, ein.

      Grelles Licht blendete sie. Es blinkte überall, und leise, lustige Musik schlich durch den Raum, ertönte mal von hier und mal von dort. Sie sahen, wie ein verschlungener Pfad durch blinkende Tunnel, kreisende Flächen, eine buntes Kletterhäuschen und bewegliche Hängebrücken führte. Die Wände waren mit schwarzem Stoff ausgekleidet, und überall hingen leuchtende Portraits von Clowns und Artisten, die Pirouetten drehten und Kopfstände machten oder deren grinsende Gesichter im Großformat eingefangen ausgestellt waren. Sie strahlten selbstzufrieden im Schwarzlicht. Am anderen, entfernten Ende des Raumes sahen sie eine weitere Tür mit schwarzem Vorhang, über der man, wenn man die Augen zusammenkniff, SAAL 2: PANOPTIKUM lesen konnte.

      Remo fühlte, wie ihm das Herz bis in den Hals schlug, und er sah, dass auch Christa und Joe von einer nervösen Unruhe ergriffen waren, von einer … er spürte den Schweiß unter seinen Achseln, in seiner Unterhose, auf seiner Stirn … einer nervösen Unruhe der Lust.

      »Na dann mal los! Wer als Letztes drüben ist, hat verloren!«, rief Joe und lief mit kindlicher Begeisterung los. Remo stürmte hinterher, Christa folgte.

      Sie turnten, balancierten und rutschten durch den Raum, und immer wenn einer von ihnen ein Hindernis überwunden hatte, tönte aus irgendeinem Lautsprecher eine blecherne, jubelnde Clownsstimme: »GUT GEMACHT, MEIN SÜSSER, UND JETZT HOPPLAHOPP IM SCHNELLEN GALOPP, AUF GEHT’S, WEITER VORAN«, oder: »FANTASTISCH, MEINE KLEINE, IN ALLEN DINGEN WIRST DU’S WEIT BRINGEN!«

      Joe war bereits bei der Tür angelangt, Remo war, leicht keuchend, kurz davor, das letzte Hindernis – einen Gummi-Sumpf – zu überwinden, da hörten beide einen Schrei.

      »Christa?«

      »Warst du das?!«

      Christa stöhnte, und da sahen sie sie. Sie war noch auf der Hängebrücke, dem vorletzten Hindernis, und war ins Leere getreten. Ihr Bein steckte fest.

      »Scheiße, Remo, kannst du nochmal zurückkommen? Ich glaub, ich hab mir meinen Fuß umgeknickt. Scheiße verdammt …«

      »Ich mach schon!«, rief Joe, aber Remo kletterte schon zurück.

      (Hochmut! Haben wir denn schon über Hochmut gesprochen?)

      Kurz bevor Remo bei der Hängebrücke angekommen war, hörten sie einen Knall. Alle drei blickten auf und zur Eingangstür, die soeben zugedonnert war. Davor stand der untersetzte Mann mit dem Bowler auf dem Kopf und einem Totschläger in der Hand.

      »Jungs! Juuungs! Geht einfach weiter! Dann wird auch nichts passieren!«

      Sie sahen sein süffisantes Grinsen in der Ferne. Der Mann schwang seinen Totschläger fast lässig neben sich her und lief am ersten Hindernis vorbei, trotzdem erklang die jubelnde Stimme: »YEEAAH! HIER KOMMT DEIN DADDY!«

      Joe und Remo liefen zu Christa, doch der Mann hatte den Raum schon durchquert und war auf der Hängebrücke. Er lief schnaufend auf Christa zu, die sich panisch zu befreien versuchte. Remo war als Erstes da, doch der Mann stürmte über die Brücke und schlug Remo kompromisslos auf den Schädel. Remo brach zusammen, Christa schrie, der Mann schlang seinen Arm um ihren Hals und presste sie an sich. Er rief: »Hey! Mohrenkopf! Wenn du nicht als Pfütze enden willst, dann verpiss dich durch das Kabinett da drüben! Die Eingangstür ist verschlossen, und nur ich kenne die Notausgänge hier! Das kann für dich alles ganz, ganz harmlos sein!«

      Christa wand sich und schlug nach dem Mann, doch der war überraschend kräftig. Joe kam trotz der Drohung langsam näher.

      »Ich kann auch hässlich zu dem Mädchen werden, Junge!«, rief er.

      Da passierten mehrere Sachen gleichzeitig. Joe stürzte vor, der Mann hob den Totschläger und drückte Christa die Luft ab, und Remo schlug die Augen auf. Er wand sich, schlug dem Mann in die Eingeweide, und zusammen mit Christa, die begriff, was geschah, schubsten sie ihn über das Geländer der Hängebrücke.

      Der Mann fiel drei Meter tief kopfüber. Sie hörten ein hässliches Knacken.

      »Ssshhhiiiit«, flüsterte Christa, als sie und Remo vom Geländer der Hängebrücke hinunterstarrten.

      Joe trat unten zu der Leiche und fühlte den Puls. Er stand auf und blickte hoch: »Kein Puls. Kein Atem. … Tot.«

      »Shiiit!« Das war Remo.

      »IHR HABT EIN HINDERNIS GESCHAFFT, UND JETZT VORAUS, MIT VOLLER KRAFT!«, jubelte die blecherne Clownsstimme.

      Die anschließende Stille drückte auf ihre Herzen, ihre Schultern. Sie standen über dem Mann, der verdreht vor ihnen lag. Das Monokel war aus dessen Auge gefallen. Panik stieg in ihnen hoch, Joe lief prüfend zur Eingangstür, doch sie war tatsächlich verschlossen, dann fühlten sie nochmal dessen Puls, doch war keiner erkennbar.

      »Scheiße!«, rief Remo, »Scheiße! Wir gehen zur andern Seite und suchen so schnell wie möglich den Ausgang!« Kurz bevor sie in SAAL 2: PANOPTIKUM eintraten, drehten sie sich nochmal um.

      »Sollten wir ihn nicht vielleicht mitnehmen …?«, fragte Joe.

      »Es ist ein Tatort!«, rief Remo. »Bist du bescheuert? Nein!«

      Christa packte beide am den Jacken und zog sie in den nächsten Saal. »Wir können nichts machen, außer hier rauszukommen. Und das war Notwehr. Wir können nix dafür, dass der ekelhafte Typ tot ist!«

      (Das dachten sie jedenfalls, hähä.)

      Sobald im nächsten Raum der Vorhang wieder die Tür bedeckte, war es finster – nur ein paar wenige Neonröhren glimmten matt in manchen Ecken. Der Raum war verwinkelt, Sägemehl war in dicker Schicht auf dem Fußboden verteilt, als handele es sich um einen Tierkäfig, und dunkle Gestalten standen scheinbar willkürlich verteilt herum. Sie waren im Wachsfigurenkabinett angekommen.

      Sie fassten einander unwillkürlich die Hände und gingen voran. Das Sägemehl zu ihren Füßen dämpfte die Geräusche. Im schwachen Licht der Neonröhren erkannten sie manche prominente Figuren – Kurt Cobain posierte mit seiner Gitarre, ein bläulicher Daniel Küblböck kniff singend die Augen vor einem Mikrofon zusammen und John F. Kennedy saß mit zerschossenem Kopf in einem Cadillac. Dazu standen viele Wachsfiguren von Menschen im Raum, die sie nicht kannten. Ein König mit einer schweren Krone, eine Domina, die einen verängstigten Mann züchtigte, der ihr zu Füßen in der Hocke saß. In einer Ecke küsste ein haariger, entblößter alter Mann ein kleines Mädchen mit Zunge.

      »Ist das morbide«, flüsterte Remo.

      Von der Tür zum Ausgang war nichts zu sehen. Sie drängten in Eile, aber mit Vorsicht weiter.

      »Halt!«, zischte Joe.

      »Was?«, fragte Christa scharf.

      »Ich glaub, die eine Figur da«, er gestikulierte zu einer unbekannten Wachsfigur, die einen Imker bei der Arbeit darstellte, »hat sich bewegt.«

      »So ein Quatsch«, erwiderte Christa, aber Remo und Joe spürten beide die Unsicherheit. Sie gingen um Ecke und Ecke; wer auch immer diesen hohen, weiten Raum gestaltet hatte, hatte ihn in viele verwinkelte Bereiche aufgeteilt. Einmal blieb Christa stehen, sodass Remo und Joe in sie liefen und Remo ihr Zittern bemerkte, dann gingen sie wieder weiter, und als ein Streifen Licht auf die Augen von Lady Di fielen, meinte er gesehen zu haben, wie die Augen ihnen gefolgt waren, bevor sie wieder erstarrten.

      »Leute …«, Christa war fast nicht zu hören.

      Sie fielen einander ins Wort:

      »Wir müssen …«

      »Das hier …«

      In diesem Augenblick hörte man ein feuchtes Geräuch aus dem hinteren Teil des Raumes, von dem sie kamen. Das Geräusch erklang noch einmal: Ein Niesen.

      (Das war ich.)

      Remo, Joe und Christa erstarrten zur Salzsäule, als sie einen hohen Schrei vernahmen. Sie drückten sich die Hände, dann liefen sie los zur nächsten Ecke, bogen ab, bogen wieder ab, und sahen ein kleines Mächen schluchzend vor der Tür liegen, über der stand: SAAL 3: SPIEGEL.

      Das kleine Mädchen drehte sich um. Der Pferdeschwanz flog um ihren Kopf, in ihrem Gesicht waren große Flecken zu erkennen, und als Joe noch den obskuren Gedanken hatte, woher man schnell Eis zum Kühlen bekam, schrie das kleine Mädchen bei ihrem Anblick, rappelte sich auf und stürzte davon. Laute Flüche erschallten hinter ihnen, irgendwo, doch so nah, dass sie schon Schritte hörten.

      (Das war ich!)

      Die Schritte wurden immer schneller, jemand pfeifte, Christa rief: »Schnell, weiter!« Und sprang zur Tür, Remos Knie drohten nachzugeben, er setzte ihr nach, und da stürzte Christa auch schon durch den Vorhang zum Saal 3, doch neben sich sah Remo, wie die Figuren – alle Figuren – sich aus ihrer Starre lösten. Er schrie und sprintete zur Tür, versuchte sich umzusehen – doch Joe war verschwunden. Als Remo den Vorhang beiseiteschlug, einen Satz durch die Tür machte, – knallte er mit dem Gesicht gegen eine Glasscheibe. Mit angeknackster Nase fiel er zu Boden. Er mühte sich auf, sah sich um, doch sah auf weiter Flur nur viele Spiegelbilder seiner selbst, die dutzendfach zeigten, wie ihm Blut aus der Nase schoss. Niemanden sonst. Kein kleines Mädchen, keine Christa und – Joe? Er streckte die Hände aus, die Glas- und Spiegelscheiben abtastend, um wegzukommen. Nur weg.

      Joe sah noch, wie das kleine Mädchen an ihnen dreien vorbeisah. Sie schrie und nahm die Beine in die Hand, und Christa und Remo taten es ihr gleich. Er nicht. Er war so dumm, sich umzudrehen, um zu sehen, was das Mädchen mit den komischen Flecken im Gesicht so erschreckt hatte. Er sah es. Die Wachsfiguren hatten sich aus ihren Halterungen gelöst, streckten ihre Hände aus und kamen steif auf ihn zu. Nur ihre Augen rollten wie verrückt in alle Richtungen. Er wollte reagieren, wollte schreien, laufen, weinen, kämpfen, doch war er wie zur Salzsäule erstarrt. Und da kamen die Schritte um die Ecke, die zu dem fetten, ekelhaften Rassisten gehörten, dem sie schon in die Arme gelaufen waren, als sie in dieses beschissene Nest gekommen waren. Er wandte sich um, wollte laufen, seinen Freunden hinterher, Christa!, doch eine Hand schloss sich um seinen linken Knöchel, eine andere um seinen rechten Oberarm, und plötzlich sah er in das wächserne Gesicht einer traumatisierten Hausfrau, die ihn am Hals packte und deren Gesichtszüge ein in Wachs gegossenes, immerwährendes Staunen ausdrückten. Sie drückte immer fester zu, Joe sah bunte Lichter vor sich aufblinken, spürte etwas sehr Heißes über seinen Kopf laufen, und dann … und dann …

      (… und dann ergoss sich das WACHS über unser neues, kleines Mitglied im Kabinett derer, die dem menschlichen Irrsinn entflohen sind. Auf dass es wachse! Ich kippte einen Eimer nach dem anderen über den Nigger, einen Eimer nach dem anderen brachten mir meine Freunde, bis sein sehniger Körper vollends von einer Wachsschicht bedeckt war und er nie wieder atmen würde. Seine Gedanken und Gefühle gehörten mir. Für immer! Doch er würde leben, die Sterblichkeit überwinden. Wollten die Menschen das nicht? Er würde leben! Für immer.)

      Christa hörte das Schluchzen und Jammern des kleinen Mädchens, doch sie schaffte es nicht, sie einzuholen! Sie zuckte bei jedem Schritt zusammen, sie konnte ihren Fuß, den sie in der Hängebrücke eingeklemmt hatte, kaum belasten. Und wenn sie nicht aufpasste, lief sie gegen einen Spiegel und stieß sich einmal mehr den Kopf an. Verzerrte Formen ihrer selbst schienen sie von überall her auszulachen. Ihr Herz wollte bersten, ihr Geist in die transzendieren, doch sie zwang sich, ihren Atem zu kontrollieren und ruhig zu bleiben. Keine Panik, keine Panik, sagte sie sich.

      (Als ob das was nützte.)

      Sie lief weiter, sich krampfhaft beruhigend. Einmal hatte sie eine Tür gesehen, doch sie wollte dem Mädchen helfen. Und auf Joe und Remo konnte sie nicht warten, selbst wenn sie wollte. Sie wusste schlicht nicht mehr, wie sie zurückkam. Dieser Saal war in sich kreuzende kleine Gänge gegliedert, es war ein Labyrinth aus Spiegeln und Gläsern.

      »Joe?!«

      In der Ferne hörte sie das stete Weinen des Mädchens. Irgendwann hielt es Christa nicht mehr aus, sie schrie. Sie schrie und tobte, schlug gegen die Scheiben, doch sie waren zu stabil. Irgendwann fiel sie zu Boden und weinte.

      Ein Finger stupste sie an.

      Es war das kleine Mädchen. Christa sah hoch. Und schob sich panisch nach hinten, presste ihren Rücken an die Scheibe, versuchte auf die Füße zu kommen, doch glitt wieder an der Scheibe hinab. Das kleine Mächen hatte keine Blutergüsse oder blaue Flecken, wie sie gedacht hatte. Sie hatte viele große, weiche, feuchte, haarige Leberflecken im Gesicht, einige waren so groß, dass sie ganze Gesichtsteile verdeckten. Sie sah krank aus, verseucht.

      »Reingefallen!«, rief das Kind vergnügt. Dann war sie bei Christa, umarmte sie, drückte sie an sich. Rieb ihre Wange an ihrer. Christa verfiel in einen Schockzustand. Sie versuchte noch, das Kind von sich zu zerren, doch dabei fiel ihr Blick auf ihre Arme, auf der sich Leberfleck um Leberfleck bildete, die immer größer, immer haariger wurden. Im gegenüberliegenden Spiegel sah sie den halbkahlen Hinterkopf des Mädchens, das sich an sie drückte, und sah, wie sich in ihrem eigenen Gesicht ein Sumpf von Leberflecken bildete. Es fing mit einem nach außen gewölbten Punkt oberhalb ihrer Lippen an. Sie … seufzte …

      (Eitelkeit und Geltungsdrang! Wie ihr Menschen darauf aus seid, Bestätigung und Anerkennung zu bekommen. Und auf welche Art. Ihr traut euch ohne Filter nicht mehr auf die Straße, doch steigert das Ego in eurer digitalen Verwahrlosung ins Unermessliche. Die Makel werden gezählt, die Makel werden verlacht. Und trotzdem sehen die Menschen alle gleich aus, wenn sie in die Gosse kotzen. Und trotzdem bluten sie alle, wenn sie geschnitten werden.)

      Ein gellender Schrei stach Remo in die Ohren. Sein Herz raste. Er hatte doch noch einen Blick zurückgewagt und gesehen, wie diese Figuren Joe festgehalten hatten. Panik flutete sein Hirn, er raste weiter, knallte gegen Scheiben, hinterließ eine blutige Spur und kämpfte sich blindlings weiter. Er hörte Schreie, ein Jauchzen, doch sah er auch eine Tür, die drückte er auf und stolperte ins Freie. Die Kälte stach in seinen Körper, für einen Moment wurde er klarer. Er wirbelte herum, sein Blick hüpfte von hier zu dort; verdorrte Pflanzen, frostiger Boden, hinter ihm die Hütte, aus der er hinausgestolpert war, und die von hinten wesentlich heruntergekommener aussah als vorhin. Und er vernahm – Stille. Kein Gedudel vom Weihnachtsmarkt! Kein Menschengeschrei!

      »Christa?!« Er schrie.

      »Joe!!?«

      Entgeistert ließ er den Blick einen Moment auf der Hütte ruhen. Es war ein morsches Holzhaus. Sein Verstand begriff nicht, was seine Augen ihm da sagten. Und da gewann die Panik wieder Oberhand, und er spurtete los. Er überquerte eine einsame Lichtung, auf der ein paar Bretterverschläge standen. Er rannte. Der Friedhof war noch da! Er sprang über die kleine Gartentür vom Hinterhausgang und fegte zwischen den Gräbern hindurch am Marmorgrab vorbei den Hauptweg hinab. Als er fast beim vorderen Eingang angekommen war, hörte er – Gestampfe, Hufgetrappel. Als er den Kopf herumwarf, flog Rotze aus seiner Nase. Hinter ihm war ein riesiges, fleischloses Knochenpferd, annähernd fünf Meter groß, mit einem Bowler auf dem Kopf und einem Monokel im Auge. Er fing haltlos an zu zittern, lief hektisch weiter. Er rannte durch die Gassen und registrierte am Rande, dass die Häuser bedrohlich wirkten, rannte weiter, ohne klare Gedanken zu fassen. Als er am Gasthaus vorbeilief, auf die Linde zu, fingen hunderte Krähen, die im weitverzweiften Geäst saßen, an zu krähen und zu krächzen udn das Gefieder zu schütteln. Dort stand ihr Auto, er keuchte, ihm war speiübel von den Seitenstichen, er stürzte darauf zu – er hatte es geschafft! Doch – er klappte zitternd zusammen und sank am Blech hinab auf den Boden. Joe hatte die Schlüssel.

      Schweiß strömte seine Stirn hinab, er drehte sich mit dem Rücken zum Auto, setzte sich auf die Bordsteinkante, ließ den Kopf gegen das Auto schlagen und sah zu den Krähen oben in der Linde. Sein Brustkorb hob und senkte sich, sein Geist war noch im Panikmodus. Da kam langsam dieses Knochenpferd heran. Doch je näher es zu ihm trat, desto kleiner wurde es. Remo blinzelte einmal, und dann stand der Mann mit Bowler vor ihm. Er blinzelte noch einmal, und dann stand plötzlich halb Merrgericht im ihn herum. Nur dass sie Bewohner keine Weihnachtsmützen oder normale Trachten trugen, sondern ihnen ihre Kleidung in Fetzen herunterhing. Einigen hingen die Augäpfel aus den Höhlen, ein kleiner Junge ganz in seiner Nähe hatte einen aufgeschlitzten Bauch, sodass die Eingeweide hervorquollen. Das süße Mädchen vom Glühweinstand hatte faulige Haut, die sich von den Knochen schälte.

      Remo hyperventilierte. Er wurde hysterisch. Er erbrach sich in seinen Schoß.

      Er wandte sich dem Mann mit Bowler zu. »Was ist das hier für ein Theater, du Arschgaul?« Remo lachte viel zu laut. Der Wahn klopfte schon am Oberstübchen an.

      Der Mann mit Bowler beugte sich zu ihm und grinste ihn durch sein Monokel an. Er sagte: »Ein Muggeseggele weiter, mein kleiner Freund, und du hättest es fast geschafft. Nur die die Autoschlüssel und …« Er kicherte.

      Remo war außer Atem. In Panik. Entsetzt. Stand neben sich. Er wollte weinen, wollte laufen, doch es war nur Leere in ihm. Er ließ den Blick über die Menge schweifen. Da wurde die Tür des Gasthauses aufgerissen, ein morsches altes Ding, das schief in den Angeln hing. Hinaus trat die Wirtin, der die weihnachtliche Zipfelmütze im Takt ihrer ungleich gewichteten Schritte schwang, Maden krabbelten auf ihrem Gesicht herum. Aus toten Augen und lachendem Mund schien sie ihm zurufen zu wollen, na, war das nicht der volle Service? Habt ihr eure vorigen Strapazen nicht vergessen? Sie schwenkte ein Schnapsglas und humpelte langsam weiter auf ihn zu. Remo wandte den Blick nach oben. Die Krähen schienen näher gekommen, größer geworden zu sein. Er blickte an ihnen vorbei, zum Firmament. Da sah er, dass die Sterne eine Botschaft in den Himmel schrieben. Eine Warnung. Sein Kopf sank ihm auf die Brust.

      »Mein Name ist Merry«, sagte der Mann mit Bowler dröhnend. Er trat nah an Remo heran, sodass Remo seinen Atem roch. Es war nicht der Mundgeruch eines starken Rauchers. Es war Verwesung. Doch es kümmerte ihn nicht. Dieser ganze Zirkus hier, dieser ganze Zirkus des Horrors, der sich ganz offenkundig vor ihm abspielte, es war ihm einerlei, die Lebensgeister hatten ihn verlassen. Er schlug seinen Kopf noch ein-, zweimal hin und her, und …

      (… und da hast du dich eingereiht in unser kleines Dorf, losgelöst von den Ketten der Körperlichkeit, von den Sünden des Seins. Deine Freunde waren tapferer als du, sie dienen in den Wunderkammern, angeleint. Aber du, mein lieber Remo, du feiger Hase wirst dich unserer Dorfgemeinschaft anschließen, einer Einheit ohne Querulanten, die ganz der Sache dient. O Remo, Menschen wie du waren schon immer nützlich für die Machtbewussten. Ich heiße dich herzlich willkommen, deine Gefühle, deine Gedanken, sie sind mein, kleiner Remo. Reißt ihn auf, meine Lieben!)

      Gott hatte es wieder versucht. Er hatte die Botschaften in den Himmel gestreut. Aber wenn Merry sich umsah, sah er nur seine Freunde, nur eine kristallklare, sehr kalte Nacht. Die Neuen konnten nun üben, die Sterne besser zu verstehen, so viel sie wollten.

      Es war zu spät.

      (Und ich lache herzlich.)
    • Hiraeth
      Oder: Von der hohen Kunst des Weitermachens von Wons



      I was born under a wanderin’ star
      Wheels are made for rolling
      Mules are made to pack
      I’ve never seen a sight
      that didn’t look better looking back



      “Sie müssen damit ins Krankenhaus. So schnell wie möglich.”

      “Ich kann Ihnen einen Termin in sechs Wochen anbieten. Seien Sie lieber froh, dass Sie überhaupt noch dieses Jahr drankommen.“

      „Noch ein kleiner Kleiderwechsel, dann kann’s schon losgehen. Ich hab Ihnen die Unterwäsche da hin gelegt. Ihre Brille können Sie da auf die Fensterbank legen, ja?“

      „Denken Sie an was Schönes, dann werden Sie auch schöne Träume haben. Und keine Angst; es ist ein Routineeingriff. Wir machen tagein, tagaus nichts Anderes. Ich bin heute Ihr Wächter und kümmere mich nur darum, dass Ihnen nichts passiert. Alles wird gut.“
      „Lustig“, hörte ich mich selbst sagen, „alles verschwimmt so komisch.“ Dann war ich weg. Und als ich wieder aufwachte, war nichts mehr wie vorher. Jedes Luftschloss zu Staub zerfallen.

      „Jetzt stellen Sie sich nicht so an“, drang die Stimme des Mannes in weiß dumpf an mein Ohr. „Es ist immerhin kein Krebs.“


      Ich ging am Weihnachtsmarkt vorbei, zum ersten Mal in meinem Leben, und fühlte mich irgendwie… klein. Sonst ging ich immer, und wenn ich noch so wenig Zeit hatte, über den Weihnachtsmarkt. Aber heute ließ ich die im kühlen Mittagsnebel hell erstrahlenden Holzbuden, die Bühne, die Fressstände und all das, was ich so geliebt hatte, buchstäblich links liegen und schlängelte mich durch die Menschenmassen daran vorbei. Adventsstimmung? Am Arsch. Ich schlüpfte in die große, kalte Eingangshalle der Apotheke am Marktplatz, um meine Bestellung abzuholen, die mich von jetzt an für den Rest meines Lebens begleiten würde. Von überall her spürte ich verächtliche Blicke auf mir ruhen. Wahrscheinlich waren sie in Wahrheit gar nicht da; wahrscheinlich starrte mich niemand an. Eigentlich interessierte sich niemand dafür, dass meine Welt gerade zusammenbrach und ich wusste nicht, was von beidem schlimmer war. Als ich aus der Apotheke trat, in Gedanken versunken, stieß ich mit einem grummeligen Opa zusammen und machte mich mit geschlossenen Augen auf die Tirade gefasst, die ich mir sicher gleich anhören durfte, aber sie kam nicht. Der Opa hatte mich gar nicht bemerkt, unbeeindruckt schleppte er seine kritische Masse von Körper weiter über den Marktplatz, als sei nichts geschehen. Ich fühlte mich unsichtbar. Unsichtbar und beobachtet zugleich. Was für ein Scheißgefühl. Und dann musste ich auch noch zur Arbeit. So tun, als ob nichts wäre. Freundlich lächeln, heile Welt spielen, wie das in der Weihnachtszeit eben verlangt wurde. Ein ungerechter Hass auf das Christkind und das ganze Drumherum
      stieg in mir auf, während ich weiter über das vom Regen glänzende Kopfsteinpflaster schritt. Auf der Bühne trällerte ein Kinderchor „Stern über Bethlehem“. Was für ein bescheuertes Lied. Ich erwischte mich dabei, wie ich leise mitsang und hörte sofort auf.
      Auf einer Art Lichtung, umringt von den frühen Glühweintrinkern, führte ein Duo ein kleines Theaterstück mit Schattenpuppen auf.
      „Es war in einer langen Wüstennacht, als Luna hoch am Himmel stand“, rief einer der beiden und hob eine runde Pappscheibe an einem Stiel nach oben, die wohl den Mond darstellen sollte. „Da zogen Nomaden durchs heilige Land.“ Um seine Worte zu untermalen, ließ der andere zwei Männlein und einen Esel nach vorne durch die Luft gleiten.
      Die Geschichte kannte ich gut genug, die brauchte ich mir nicht in schlechten Reimen anzutun. Lieber machte ich mich vom Acker, bevor die drei Weisen auch noch auftauchten.
      Wenn ich doch nur die Zeit zurückdrehen könnte… Wenn ich irgendwas anders gemacht hätte, keine Ahnung, bessere Ernährung, mehr Sport, all so was... Wenn ich bloß zurück könnte zu damals, als alles noch federleicht gewesen war…
      Plötzlich sah ich zwischen dem Stand mit den Streichholzmännern und dem Stand mit den Lebkuchenherzen etwas aufblitzen. Sofort drehte ich meinen Kopf in die entsprechende Richtung, aber da war das seltsame Etwas schon verschwunden – oder? Vielleicht war es auch nur das Flackern der Laterne gewesen, die zwischen den Ständen für schummriges Licht sorgte. Trotzdem hatte mich ein ungutes Gefühl beschlichen, ohne dass ich wirklich sagen konnte, warum oder woher das Gefühl kam, geschweige denn, was es überhaupt genau war. Auch egal. Ich beschleunigte meine Schritte. Nur um gleich darauf abrupt abzubremsen. Diese Kerze! Meine Füße trugen mich wie von selbst zu der kleinen Holzbude, hinter der ein dicker, bärtiger Mann mit gestricktem Schal lauthals seine handgemachten Kerzen anpries. Die Kerze, die mir ins Auge gesprungen war, war riesig und in einem so faszinierenden Blauton bemalt, dass es mir fast wie eine optische Täuschung vorkam. Es war, als habe jemand das Polarlicht eingefangen und auf diese Kerze verbannt. Fast unscheinbar wirkten dagegen die kleinen Planeten, die das Blau der Kerze zierten. „Planetologie“, verkündete ein kleines Pappschild den Namen der Kerze. Zwischen den anderen Kerzen, die poetische Namen wie „Vulkanfeuer“ oder „Nimmerland“ trugen, stach diese eine als die schönste hervor. Auch wenn der Preis auf dem Schild mich abschreckte, griff ich doch nach der Kerze, um sie von allen Seiten zu betrachten. In dem Moment aber, als meine Hand die Kerze berührte, spürte ich einen kalten Zug, als habe jemand meine Hand mit Eiswasser übergossen, sodass ich sie reflexartig zurückzog, nur um im nächsten Augenblick einen ziehenden Schmerz in der Nierengegend wahrzunehmen. Ich hielt mir den Bauch und traute meinen Augen kaum, als kurz darauf etwas daraus hervorkam, und dieses Etwas war… ein Geist. Ein klassischer Geist, wie man ihn sich vorstellt, wenn man noch nicht viel Vorstellungskraft hat; wie man ihn malt, wenn man noch nicht wirklich malen kann; wie man ihn als Inspiration für ein Halloweenkostüm nehmen könnte, wenn man weder Geld noch Phantasie und nichts weiter als ein altes Bettlaken und eine Schere zur Verfügung hat. Genau so ein Geist schwebte jetzt vor mir und besaß darüber hinaus auch noch die Nerven, mich mit einem „Hallo“ zu begrüßen.
      „Jesus Christus!“, rief ich aus, was mir einige neugierige Blicke von den Glühweintrinkern einbrachte. Sie schienen den Geist nicht zu sehen oder aber sich nicht an ihm zu stören.
      „Hallo“, wiederholte der Geist unbeirrt. Obwohl er nur zwei runde schwarze Augen und keinen Mund hatte, schien er… so etwas wie einen Gesichtsausdruck zu haben. Als ich ihn weiterhin nur ungläubig anglotzte, wirkte er plötzlich verunsichert. „Passt es… passt es gerade nicht so gut?“
      Ob es nicht so gut passte? Ob was gerade nicht so gut passte? Was um alles in der Welt wollte der komische Geist überhaupt von mir und warum ausgerechnet von mir und überhaupt… hä? Ich wollte ihn gerade genau das fragen, aber die vorweihnachtliche Höflichkeit war zu tief in
      mir verankert, sodass ich nach einem kurzen Durchatmen einfach fragte: „Äh, wer sind Sie denn und wie kann ich Ihnen helfen?“
      Der Geist legte den Kopf schief. „Mir helfen? Hm… eine Feuerzangenbowle wäre nicht schlecht. Oder?“
      Ich wusste nicht so genau, was ich erwartet hatte, aber das sicherlich nicht. Da stand ich nun, mitten auf dem Weihnachtsmarkt, unbeachtet von allen Leuten um mich herum, nur Stunden nachdem eine Diagnose meine ganze Welt auf den Kopf gestellt hatte, und unterhielt mich mit einem Geist, der Feuerzangenbowle trinken wollte. Vielleicht war das alles gar nicht real. Vielleicht war ich immer noch im Krankenhaus. Vielleicht war das einfach immer noch der Einfluss des Betäubungsmittels. Das musste es sein. Die nette Schwester hatte mir doch sogar extra noch gesagt, ich solle an etwas Schönes denken, dann würde ich auch etwas Schönes träumen. Gut. Das hatte jetzt nicht so wirklich funktioniert. Egal.
      „Klar“, sagte ich also. „Feuerzangenbowle klingt prima. Die beste gibt’s da hinten bei Momo’s.“
      Da der Geist keine Anstalten machte, vorauszugehen oder zu schweben oder was immer Geister auch tun, übernahm ich das. Im Gehen drehte ich mich auch noch um, um zu schauen, ob er mir folgte – was er tat. Genau wie ich schlängelte er sich durch die Menschenmenge hindurch und schaute sich dabei aufmerksam um. Ich bestellte zweimal Feuerzangenbowle, obwohl ich eigentlich keine trinken durfte – da das hier alles sowieso nicht echt war, konnte es mir ja egal sein. Aber selbst im Traum fiel mir die Unsinnigkeit meines Tuns auf, als ich dann mit zwei dampfenden Tassen in der Hand dastand und mir gegenüber ein… Geist schwebte. Außerdem: Warum musste ich eigentlich einen ausgeben?
      „Oh, danke!“ Erfreut nahm der Geist eine Tasse entgegen und verleibte sich gleich den ersten Schluck ein. „Du hast nicht zu viel versprochen, die ist nicht übel.“
      Ich glotzte wahrscheinlich wieder wie ein Auto. „Äh… Sie können das also trinken? Also… das geht nicht durch Sie durch?“
      „Irrglaube“, winkte der Geist ab und trank einen weiteren Schluck. „Altes Vorurteil. Sonst hätte ich ja nicht den Vorschlag gemacht.“
      „Nee, klar“, erwiderte ich. „Ergibt Sinn.“ Irritiert nahm ich selbst auch einen Schluck des wärmenden Gesöffs zu mir. Das unangenehme Grummeln im Bauch ignorierte ich geflissentlich. Es… war ja alles nicht echt. Bestimmt war es das nicht.
      Eine Weile lang standen der Geist und ich uns nur schweigend gegenüber. Kurz bevor die Stille peinlich werden konnte, fragte ich: „Ja, und… wie heißen Sie?“
      „MC Geist“, sagte der Geist, als sei’s der normalste Name der Welt. „Aber du kannst mich ruhig Geist nennen.“
      „Cool“, meinte ich. „Freut mich. Ich heiße –“
      „Hiraeth“, unterbrach mich der Geist… also… Geist. „Weiß ich doch. Auf dich! Oder auf uns! Ja, auf die Freundschaft!“ Er erhob seine Tasse. Wir stießen an. Warum auch nicht. Mann. Dieses Betäubungsmittel war echt der krankste Scheiß. Würde ich der Schwester sofort sagen, sobald die Wirkung nachließ. Ob man das auch einfach so mal kriegen konnte, ohne Untersuchungen und Operationen? Hm. Während ich die letzten Stunden innerlich Revue passieren ließ, beschlich mich immer mehr das Gefühl, dass irgendetwas nicht stimmte. Ich hatte das Krankenhaus verlassen, ziemlich sicher. Das hier konnte also gar nicht die Wirkung des Mittels sein. Oder? Andererseits… blieb immer noch die Tatsache, dass ich gerade mit einem Geist auf dem Weihnachtsmarkt Feuerzangenbowle trank, wo ich doch eigentlich arbeiten musste. Das konnte eigentlich unmöglich echt sein. Aber was wusste ich schon. Was war schon noch echt?
      Wir tranken schweigend unsere Bowle, ab und zu räusperte sich einer von uns peinlich berührt, sonst gaben wir uns ganz dem Lärm um uns herum hin. Als die erste Tasse geleert war, sprachen wir über das Wetter. Ungewöhnlich warm an Weihnachten, fand ich; eigentlich wie immer, fand Geist. Als uns der Gesprächsstoff ausging, holte ich Nachschub und wir
      tranken unsere zweite Bowle. Die Pausen zwischen den Gesprächsfetzen wurden kürzer und ich staunte selbst über meine Gesprächigkeit. Ich erzählte Geist sogar ein wenig über meine Ängste und Sorgen, und er nickte verständnisvoll und zog von Zeit zu Zeit besorgt die Augenbrauen hoch. Nach der dritten Feuerzangenbowle erzählte Geist ungefragt den Witz mit der Prostituierten und der Totgeburt im Clownskostüm und ich verschluckte mich so sehr an meinem Getränk, dass ich glaubte, ersticken zu müssen. Aber Geist klopfte mir auf den Rücken, bis ich wieder normal atmen konnte.
      „Danke“, keuchte ich, aber Geist winkte ab. Dann tranken wir schweigend weiter. Ich spürte immer noch das mahnende Ziehen in der Nierengegend. Ob das vom Alkohol kam? Eher nicht.
      „Ich muss mal was ausprobieren. Glaub ich“, sagte ich. Mir war ein bisschen schwindlig.
      Geist musterte mich aufmerksam. „Okay. Was denn?“
      Ich entfernte mich einige Schritte von ihm. Die Krämpfe ließen nach. Als ich wieder auf ihn zuging, waren sie plötzlich wieder da, diesmal stärker. Ob das Einbildung war?
      „Also… bevor wir die vierte Bowle anfangen, muss ich doch noch mal fragen, was du eigentlich von mir willst“, meinte ich dann und starrte ihn an.
      Er sah plötzlich traurig aus. Schwieg. Hatte ich mir fast so gedacht.
      „Also…“, begann er nach einer Weile. „Ich würde dir auch gern einen ausgeben, aber…“
      Ich winkte ab. „Nee, schon klar. Ich mach das.“
      Als wir jeder seine vierte Tasse – wir waren inzwischen auf Glühwein umgestiegen – in der Hand hielten, war der Abend hereingebrochen. Auf der Bühne war der Kinderchor mittlerweile verschwunden und an seine Stelle war eine junge Band getreten, die ihre ganz eigenen Versionen der Weihnachtsklassiker vorstellte. Geist und ich sangen Arm in Arm mit und die Krämpfe waren schlimmer als je zuvor, aber irgendwie war es auch schön.
      „Ich muss jetzt mit dir leben, was?“, fragte ich nach „Stille Nacht“.
      Geist nickte nur, und ich nickte auch. „Dann… dann brauch ich Nervennahrung. Magst du gebrannte Mandeln?“
      „Die sind nicht gut für –“
      „Ja, ich weiß, aber magst du die?“, unterbrach ich ihn.
      Wieder nickte er.
      „Ja, gut, dann hol ich uns welche. Okay?“ Geist sagte nichts, also zog ich alleine los zum Mandelstand. Einen Moment lang war ich ganz frei von Schmerzen; ich wusste, dass es nicht so bleiben würde. Dass es nie mehr so sein würde, wie es war. Aber nun ja… Vielleicht würde ich irgendwann an genau diesen einen Tag auf dem Weihnachtsmarkt zurückdenken und mir wünschen, dass es doch wieder so unbeschwert sein möge wie damals, so im Vergleich. Vielleicht auch nicht. So oder so gab es nur einen Weg, und der führte nach vorne. Irgendwie war doch alles in Ordnung.
    • Reviewzeit:

      Abbel

      Larissa ist so dum. In Zeiten von richtig irrem Privatfernsehen fühle ich mich von der Story angesprochen auf eine Art, die ich nicht beschreiben kann. Es fühlt sich nicht wie ein Traum an, sondern wie eine ziemlich realistische Darstellung. Es ist irre, es ist lustig, es ist kurz, es ist ein Feuerwerk. Schade, dass es ein paar Formalfehler hat, aber für deinen ersten Beitrag fühlte ich mich bestens unterhalten. Danke dafür! Hat meine Stimme bekommen!

      Crèx
      Ich bin mir nicht sicher, ob es ins Weihnachtsmannverse gehört? Wenn ja, war es schön, mal andere Schauplätze zu sehen. Aber so, wie ich den Film "Polarexpress" nicht verstanden habe, kämpfe ich auch am Schluss ein bisschen mit dem Sinn, zudem fand ich es stellenweise gezwungen düster und unappetitlich, trotz sehr guter Ideen und schöner Bilder. Sprachlich war es einwandfrei, aber thematisch einen Ticken zu bösartig für diese Weihnachten, auch faserte es am Schluss etwas auseinander.

      Termina
      Sprachlich habe ich an der Geschichte nichts auszusetzen, aber ich fürchte, ich habe sie nicht verstanden. Stellenweise sind Passagen drin, die nachvollziehbar sind und die mich ansprechen. Aber dann sitze ich wieder mit großem Fragezeichen da. Grundsätzlich finde ich aber, dass das Thema an sich durchaus eine Geschichte wert ist. Vielleicht verstehe ich es beim erneuten Lesen?

      pondo
      Whoa. Was ein Parforceritt. Vom ersten Moment an schaffst du es, eine unheimliche Stimmung zu erzeugen. Die drei Freunde kommen in das Dorf und irgendwas wirkt...falsch. Aber dann kommen so kleinere Momente zum Atemholen - die Bewirtung im Gasthaus, der Weihnachtsmarkt - man darf vor dem großen Finale nochmal aufatmen, bis der Zwischenerzähler sein wahres Gesicht zeigt. Ab dann ist es klassischer Splatterhorror, bei dem aber ein paar Fragen offen bleiben. Was hat es mit den Leberflecken auf sich? (Muss ich an "Die schwarze Spinne denken"?) Warum sind die Dorfbewohner plötzlich untot? Es bleibt wirr, böse, bizarr. Es war spannend zu lesen und sprachlich einwandrei. Für ein Weihnachten war es mir zu düster.

      Wons
      Ich kenne Geist jetzt auch. Geist ist lieb. Er kann nichts dafür. Die Geschichte hatte so viel Wahres, Nachvollziehbares und war doch so lieb, dass ich sie wirklich gern las. Zweite Stimme.
    • Sooo, abgestimmt ist schon längst, entschuldigt die lange Wartezeit aufs Feedback, aber ihr wisst, ich schreib immer gern ein bisschen mehr, dazu fehlte mir bisher ehrlich gesagt einfach die Muße (und die Muse?). Dafür jetzt aber! Los geht's.

      Abbel

      Ersteindruck: Oh mein Gott, was für eine abgefahrene und wundervolle Randomness!

      Inhalt: Es wurde in keiner Sekunde langweilig. Großartig fand ich, dass ich immer hin- und hergerissen war zwischen "Was für ein Blödsinn" und "...könnte aber tatsächlich so im Fernsehen laufen...". Dass es einen Du-Erzähler gab, fand ich erst mal interessant und fragte mich, was das wohl noch bringen wird; mit der Auflösung hätte ich nicht gerechnet, trotz des Titels (der auch super ist, wie ich an dieser Stelle anmerken möchte; er gibt ja eigentlich schon einen Hinweis auf die Auflösung, aber ich kam trotzdem nicht drauf), das machte es noch mal ein wenig toller.
      Allein dieser Jingle mit den Pokerchips, hallo? Ich hätte gern eine Melodie dazu.
      Ich musste an mehreren Stellen richtig lachen, zum Beispiel, als die Werbuuung kam, man konnte sich genau vorstellen, wie jemand so "Werbuuung" trällert und sich der arme Protagonist denkt: "Och nööö". Und dann natürlich die Sendung mit Larissa, da hattest du mich natürlich direkt. Ich sah es beim Lesen vor Augen und hörte die nervige Stimme. Und ich musste einfach so lachen, weil sie immer "Lebkuchen kochen" statt "backen" sagt.
      Der Schluss kam dann wie gesagt überraschend und sehr schön. Ich fühlte mich so seltsam angesprochen :D Großartig.

      Stil: Fand ich sehr passend für die Story. Eine seltsame Sendung folgte auf die nächste ohne unnötige Atempausen dazwischen. Sehr cool wie gesagt der Du-Erzähler, den ich normalerweise nicht so mag, in diesem Fall aber als sehr passend empfand, weil er mich noch mehr in die Geschichte gezogen hat. Das abrupte Ende nach dem Aufwachen unterstrich das Aufwachen noch mal perfekt.

      Assos: In diesem wirren Szenario sind mir keine Assos aufgefallen. Top!

      Fazit: Eine kurze, aber knackige Geschichte, die mich absolut bestens unterhalten hat (und über die ich jetzt beim erneuten Lesen immer noch lache).

      Lieblingsstelle: Oh nein keine Mandeln, ich könnte vollausrasten ey. Wieso hast du nicht Mandel gekauft Regie? Jetzt 4muss ich so diese grünen Dinger da draufmachen. Wie heißtdas? Pistazie? Häää nie gehört. Egal, grün ist gesund oder so.


      CAMIR

      Ersteindruck: :love: ... ;( ... :love: (oder in Worten: Awww! ... Oh nein, Erna! Schluchz! ... Awww!)

      Inhalt: Es beginnt schon mit einem starken Aufhänger: Erna weiß, dass sie tot ist. Man denkt: Aber das ist ja wohl nur ein Bild... oder? Bitte? Man ist direkt drin in der Story und will unbedingt wissen, was es mit der ganzen Sache auf sich hat. Die Aufklärung wird aber "ausgebremst" (eigentlich das falsche Wort, dazu aber später mehr) von den Einzügen auf der Erde. Tatsächlich finde ich dieses Pacing aber perfekt gelungen, es baut die Spannung eigentlich noch weiter auf, statt sie auszubremsen, an dieser Stelle hast du, finde ich, wirklich perfekt gearbeitet. Die Abschnitte auf der Erde sind in gewohnter Ernazität geschrieben; herzallerliebst, stellenweise einfach total witzig und einfach gut für Herz und Seele, was ich gerade in einer Weihnachtsrunde natürlich sehr begrüße. Dazwischen stehen dann die Gespräche mit Odin, die als Gegenstück dazu fungieren und ein ungutes Gefühl in einem wachsen lassen. Die Spannung steigt sehr subtil, aber stetig und erreicht dann ihren ersten Höhepunkt bei den Trollen. Wundervoll fand ich dann die Auflösung und das Gespräch Odins mit der geheimnisvollen Stimme, in die ja jeder interpretieren kann, was er für sich persönlich für richtig hält. Dass Odin ein Einsehen hat, hat mich sehr gefreut. Erna überzeugt sie halt alle! Natürlich bin ich auch erleichtert, dass Erna am Ende weiterleben und glücklich sein darf. Auch sehr sehr schön fand ich, dass die Trolle am Ende noch mal vorkamen und Erna ihnen verzeiht. Der letzte Satz ist perfekt.
      Emotional hat mich diese Geschichte am meisten reingezogen. Ich gebe gern zu, es sind auch durchaus Tränen geflossen. Sowohl vor Rührung als auch vor Anspannung.

      Stil: Wie immer: Gefällt. Nichts auszusetzen. Wie gesagt, die Idee mit den wechselnden Orten/Zeiten finde ich großartig und sie ist auch rundum gelungen umgesetzt.

      Assos: Sind mir keine aufgefallen (und das trotz Markierung, haha).

      Fazit: Meine persönliche Lieblingsgeschichte dieser Runde.

      Lieblingsstelle: „Du hast den Geist von Weihnachten vielleicht besserbegriffen als jeder Mensch! Nun gehe hin und liebe!“


      Crèx

      Ersteindruck: Woah, Kopfkino!

      Inhalt: Du erzeugst eine sehr starke und düstere Atmosphäre, die mich erst mal direkt in die Geschichte reingezogen hat. Ich sah alles beim Lesen vor mir, was mir sehr gefallen hat. Man konnte sich alles richtig bildlich vorstellen, was seinen Höhepunkt erreichte, als die Kinder in den Kessel geschaufelt wurden; sehr dark, aber auch sehr cool geschrieben. Die Verweise aufs Weihnachtsmannverse waren zwar subtil, aber gut eingeflochten (der Verbannungsort beispielsweise). Zwischendurch hatte es doch ein paar Längen, wo ich nicht wirklich wusste, worauf du hinaus willst, und stellenweise war es mir doch ein wenig zu dark für die Weihnachtszeit, aber ich versteh natürlich, dass das beabsichtigt war. Die Charaktere fand ich sehr gelungen (netter Name für Mino übrigens), vor allem den Butterkeks fand ich herzallerliebst, auch wenn er ein wenig dümmlich war, aber einen sprechenden Keks kann man doch eigentlich nur toll finden. Kurz vor dem Ende lässt mich die Geschichte wieder mit ein paar Fragezeichen zurück. Worauf will sie hinaus? Den letzten Abschnitt fand ich aber schön mit dem Hinweis, dass man sich ab sofort selbst um seine Weihnachtsgeschenke kümmern soll, da musste ich doch ein bisschen grinsen.

      Stil: Wie immer nichts auszusetzen. Gefällt!

      Assos: Sind mir keine aufgefallen.

      Fazit: Sehr starker Anfang, der mich voll reingezogen hat; etwas langatmiger Mittelteil; cooler Schluss.

      Lieblingsstelle: „Nochmal, nochmal. Ich bin blind, ich habe es nichtgesehen!“, applaudierte der Keks.


      pondo

      Ersteindruck: Ach wie cool, eine Gruselgeschichte?

      Inhalt: Erst einmal ein sehr solider Aufbau. Es fängt harmlos und scheinbar normal an, die drei Freunde sind unterwegs und alles scheint so weit so gut, trotzdem schwingt irgendwie diese subtile ungute Atmosphäre mit, sodass man irgendwie spürt, da kommt noch was. Was dann auch bald durch den absolut ekelhaften Creep im Dorf eingeleitet wird. Bah, hat's mich bei dem geschüttelt. Und der war ja nur der Anfang... schon beim Gang über den Friedhof habe ich mich sehr gegruselt; dann kam ja erst mal der Jahrmarkt, der wieder etwas auflockern sollte, aber ich hab mich trotzdem durchgehend gegruselt, allein bei der Erwähnung der seltsamen Leberflecken/Muttermale in den Gesichtern der Leute. Hierzu hätte ich mir am Ende eine Auflösung gewünscht, warum alle das haben.
      Sehr gut gelungen fand ich auch die Einwürfe der geheimnisvollen Stimme zwischendurch.
      Der Gang durch das Gruselkabinett war Anspannung und Gänsehaut pur. Keine Sekunde zum Durchatmen. Man fühlte sich fast, als sei man selbst dort, und man wollte einfach nur raus da, weg da. Sehr gut gelungen. Auch eine schöne Idee fand ich, dass jeder der drei Freunde quasi für seine eigenen Sünden bestraft wurde, zumindest hab ich das so verstanden. Christa wurde für ihre Oberflächlichkeit mit hässlichen Flecken bestraft, Joe für seine Hochnäsigkeit und Remo am Ende für seine Feigheit mit der Ewigkeit als Horrormarionette. Brr. Wenn das nicht gruselig ist, weiß ich auch nicht.
      Daher: Die Geschichte hat wahnsinnig viel Potenzial gehabt. Super coole Ideen und grandiose Umsetzung. Was ich aber etwas schade fand, war, dass die Charaktere etwas... ich weiß nicht, eindimensional? Langweilig? sind... Klar, es sind Teenager und es ist eine Kurzgeschichte. Da sie ja aber doch etwas länger geworden ist, hätte ich mir noch etwas mehr dazu gewünscht. Man erfährt ein paar Eigenschaften der drei, man erfährt, dass Remo was von Christa will, die ihn aber gefriendzonet hat und er eifersüchtig auf Joe ist. Aber alles in allem sind die drei weder sonderlich interessant noch sonderlich sympathisch, sodass es zumindest mir am Ende ziemlich egal war, dass sie bestraft wurden. Horror empfand ich vor den Bewohnern des Dorfes, vor dem Gruselkabinett, dem kleinen Mädchen,... aber nicht, weil die armen Protagonisten so leiden mussten. Ergibt das irgendwie Sinn? Wenn die Charaktere noch ein bisschen angreifbarer gewesen wären, hätte ich die Geschichte absolut perfekt gefunden.

      Stil: Der Stil an sich ist wie immer großartig. Diesmal sind mir zum ersten Mal in der Geschichte der BFS ein paar Fehler bei dir aufgefallen, beispielsweise auf Seite 73 der PDF, "jemand pfeifte", das riss mich kurz so richtig aus der Geschichte raus, weil ich das von dir auch absolut nicht gewohnt bin. Aber ansonsten alles super!

      Assos: Aufgefallen ist mir nur das Muggeseggele, das, zugegeben, auch richtig fies war. Ich kannte das Wort nicht und habe es schon gegooglet, gleich nachdem es von Crèx assoziiert wurde, und habe gelesen, dass das ein schwäbisches Dialektwort ist, welches eine "sehr kleine „Einheit“ für Länge, Volumen, Gewicht oder Zeit." (Zitat Wikipedia) bezeichnet. Jetzt spielt deine Geschichte ja aber in Sachsen. Dadurch wirkte das für mich irgendwie komisch. Erstens, dass der Horrortyp überhaupt plötzlich so ein komisches Dialektwort nutzt und dann auch noch eins aus einer ganz anderen Gegend; gut, klar, vielleicht kommt er ursprünglich von dort, aber was macht er dann jetzt hier? Das hat mich ein bisschen gestört. Aber das ist wirklich nur eine Kleinigkeit. Ach, und der Zirkus des Horrors fiel mir auf, weil der von mir kam; fand ich sehr gut umgesetzt!

      Fazit: Sehr gut geschriebene, sehr immersive Geschichte, die fast perfekt gelungen ist.

      Lieblingsstelle: Und was tutman, wenn der Nachbar dort am schönen Feuer sitzt, währendandere draußen allein im Dunkeln stehen, sich in der Kältestreiten? Geht man hinüber und schlägt ihn tot? Oder betteltman um einen Platz in der zweiten Reihe, um etwas Brot zumRösten und einen dicken Mantel, weil der eigene Zwirn nichtausreichend wärmt? Stolz ist ein weiteres Geheimnis derMenschen, das tief drinnen aufbewahrt wird in jedermannseigenen kleinen Schatzschatulle, und das bisweilen ganzeigenartig derangiert ist. Stolz? Ist Fallschirm und gerisseneReißleine zugleich.)


      Termina

      Ersteindruck: Eine sehr mutige Geschichte.

      Inhalt: Inhaltlich passiert ja von außen gesehen erst einmal nicht so viel. Das meiste, der größte Kampf, spielt sich ja im Kopf der Protagonistin ab. Wir begleiten sie auf ihrer Reise durch scheinbar unspektakuläre äußere Schauplätze, wie beispielsweise die Selbsthilfegruppe am Anfang, zu einer großen und wichtigen Entscheidung in ihrem Leben. Das alles wird erzählt von einer Art innerer Stimme, dem rosa Hasen Kaemon, wie wir ja später erfahren. Alles in allem liest es sich wie eine sehr mutige und persönliche Geschichte, wodurch man als Leser nicht alle sprachlichen Bilder für sich auflösen kann, aber das ist eigentlich auch okay so.
      Den rosa Hasen fand ich besonders interessant. Der Name bedeutet, wenn meine Googlesuche stimmt, ja so viel wie "fröhlich" oder bezeichnet auch jemanden, der ein zu weiches Herz für die Welt hat. Der Hase stellt sich ja auch als Freund und Beschützer dar. Trotzdem hat man das Gefühl, dass er selbst auch eher ein Dämon ist. Vor allem lügt er ja stellenweise ein wenig, beispielsweise, als er sagt, dass sein Schützling sich die Krankheit eingesteht und somit die eigene Schwäche, dabei ist gerade dieses Eingestehen ja eigentlich eher eine große Stärke. Da muss ich noch etwas drüber nachdenken.

      Stil: Der leichte, unaufgeregte Stil passt eigentlich sehr gut zu dieser Art von Geschichte. An einigen Stellen versteht man allerdings als Leser nicht so wirklich, worum es geht, weil es eben eine sehr persönliche Geschichte ist und vieles nur angedeutet wird. Durch die vielen Pronomen und wenigen Namen weiß man auch manchmal leider nicht, wer gerade was sagt, denkt oder fühlt, sodass alles ein bisschen verschwimmt, was stilistisch aber durchaus nicht uninteressant ist, auch wenn es einen manchmal etwas aus dem Lesefluss reißt.

      Assos: Hier sind mir einige aufgefallen, beispielsweise die Zweckfreundschaft, die Konföderierten-Flagge, die Freundschaft mit Vorteilen; die wollen irgendwie nicht so recht ins Szenario reinpassen.

      Fazit: Sehr interessant geschriebene Geschichte, ich bewundere die Protagonistin für ihre mutige Entscheidung.

      Lieblingsstelle: Und gerade in dem Moment, in dem sie ihre Entscheidungendgültig mit ihrer Unterschrift festlegte, erkannte sie nicht, 91dass sie den Sprung zur Realität machte, nämlich dieAkzeptanz ihrer eigenen Schwäche und ihrer Krankheit.



      Danke für die schöne Weihnachtsrunde! Meine Stimmen gingen an CAMIR für die wunderschönste weihnachtliche Geschichte und an Abbel für die absurd-witzigste Geschichte der Runde. Bis nächstes Mal!