Ein Meistersonett?

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    • Ein Meistersonett?

      Durch Titanias Extravaganz motiviert, habe ich mich entschlossen, ein Sonett vorzustellen, das mir in einigen Wochen auf einer Lesung in Saarbrücken vorzutragen auferlegt wurde.
      Um es kurz zu erläutern: das klassische Sonett besteht aus vierzehn Versen, gegliedert in zwei Quartette und zwei Terzette. Das sog. Meistersonett besteht aus vierzehn Sonetten. Der erste Vers jedes Sonetts wird extrahiert und die vierzehn ersten Verse zusammen bilden das fünfzehnte, das letzte, eben das dubiose "Meistersonett".
      Ich habe keine Ahnung, ob's gefällt, es ist halt arg an der Struktur festgemacht. Wohlan:

      Meistersonett

      Vom Anbeginn zum letzten Ende hin
      Lebt das Wesen, ohne es zu wissen,
      Dass täglich Engel aus den Wolken pissen,
      Und sucht in jeder Scheiße einen Sinn.

      Das Wesen reflektiert und denkt und grübelt,
      Sehnt sich oft die Weltenformel bei,
      Will biochemisch klonen, eins, zwei, drei!
      Während Gott der Herr Planeten kübelt.

      Derweil das Wesen heut im Fernsehn schaut,
      Wie man sich angesagte Plumpsklos baut,
      Stellt es sich ein drittes Bierchen hin,

      Es liest ein Buch, spielt passioniert Klavier,
      Es träumt vom Dort und Dann und lebt im Hier
      Und forscht und grämt sich nach dem wahren Sinn.



      Ist die Materie, ist die ganze Welt
      Ein System, das eigentlich in sich
      Vollends geschlossen ist und aus dem ich
      Hinaus muss, wenn mich nichts auf Erden hält?

      Ist es sinnfrei, planlos und chaotisch,
      Ist der dünkelhafte Nihilist
      Bestätigt, wenn er die Moral vergisst?
      Ist gar das Ideal an sich utopisch?

      Fragt sich oft das deprimierte Wesen,
      Wenn es abends in der Kneipe sitzt,
      Wenn ein müder Kellner dort vom Tresen

      An die Eckbank zu den Zechern flitzt:
      "Wir machen dicht! Die Tür da ist schon offen!
      Heut habt ihr Penner schon genug gesoffen!"



      Völlig dicht und steif und darum fällt
      Der alte Heinz im Stracksuff auf die Straße,
      Seinem dicken Arsch entweichen Gase.
      Er war heute wieder mal der Held,

      Der ne ganze Pulle Jägermeister
      Mehr trank als sein Saufkumpan, der Paul,
      Mit dem er desillusioniert und faul
      Beim Lutz im "Bierhaus" sitzt, doch darauf scheißt er.

      Denn das dumme Schicksal, so sein Motto,
      Fickt ihn arme Sau doch jeden Tag,
      Gegen sowas kann man halt nichts machen,

      Außer man gewinnt vielleicht im Lotto!
      Selbstironisch musst' er einmal lachen,
      Als er eingepisst im Rinnstein lag.





      Auf der Suche nach dem wahren Sinn
      Von Heinzens weggeworf'nen Lebens, fasst
      Der Paul an dessen Stirn und plötzlich hasst
      Er dieses Leben, wo soll's denn nur hin

      Gehn, wenn er täglich nur dem Alkohol
      Fröhnt und sonst nichts Produktives tut?
      Schließlich ist er jung, voll Kraft und Mut
      Und Energie, doch eines weiß er wohl:

      Dass die Welt für abgefuckte Leute
      Wie Heinz und ihn nur Kummer offenbart.
      Klar, man kann mal ficken oder siegt

      Bei Doppelkopf und Billard, aber heute
      Reicht es endlich, wenn ihm was dran liegt,
      Fickt er Fortuna tief und fest und hart.




      Das Wesen, gerne mal auf seine Nase
      Sich besinnend, riecht daheim mit Passion,
      Bei Schuberts unvollendeter Vision,
      An den frischen Blumen in der Vase.

      Es persönlich glaubt, dass zwischen allen
      Literaturen, Bildern, Blödeleien,
      Kompositionen, Porno-Schweinereien
      Etwas Wahres ist, in das man fallen,

      Das sich dem Mensch erschließen kann.
      Der Blumenduft stellt auch Materie dar,
      Ist für den Mensch nicht greifbar, aber man

      Verklärt ihn oft und glaubt manchmal sogar,
      Dass ein Hormon die Offenbarung sei.
      Naiv, denn der Prozess macht's einerlei.



      Nirwana oder Gott, wie manche sagen,
      Hat mit den Emotionen nichts zu tun,
      Sinniert das Erdenwesen, aber nun,
      Nun werd' ich ihm gewiss ein Schnippchen schlagen!

      Es tritt die roten Rosen auf dem Boden
      Platt und stampft auf ihnen rum und lacht,
      Weil die Materie Menschen süchtig macht,
      Durch subjektive Schönheit, die Methoden

      Der Verführung, gerne hier zu bleiben,
      Sich an erfüllter Liebe wund zu reiben.
      De facto: Lust am Leben ist Verderben,

      Alle, alle, alle müssen sterben!
      Auch purpurrote Rosen sollt' man meinen,
      Müssen im Sterben Wassertropfen weinen!





      Fern der Existenzangst, fern der Klagen,
      Wacht das Wesen jeden Morgen auf,
      Frisch Gesellen, denkt es, der Verlauf
      Der Arbeitsmarktentwicklung ist im Argen.

      Beamtet, daher abgesichert, geht
      Es dann zum Amt und sieht die Existenzen,
      Die schmarotzen, gammeln, Schule schwänzen.
      Der Mob, der täglich vor ihm Schlange steht,

      Besteht aus Typen, die nichts darauf gaben,
      Dass "Leistung" jeden Menschen definiert!
      Den Alten mit der Pulle schickt es raus,

      Und auch den Jungen, weil sie grad nix haben.
      Jeden Tag dasselbe! Und frustriert
      Macht sich das Wesen auf den Weg nach Haus.




      Ist Selbstbefriedigung und bloße Phrase,
      Was der Mensch so gern "Sozialstaat" nennt?
      Der Bürger, der den Vagabund nicht kennt,
      Gerät beim Weihnachtszuschuss in Ekstase.

      Im Arbeitsamt mit Säufern und Kanacken
      Konfrontiert, und auch in allen Ecken
      Der Großstadt sitzen asoziale Zecken;
      Das stumme Wesen spürt die Faust im Nacken.

      Es martert sich den Kopf und blickt voll Scham
      Und Reue auf sein hehres Privileg,
      Nach dem es über Unterschichtlern steht.

      Obwohl es eigentlich ein Sakrileg
      Sein mag und ist: Spiritualität
      Ist Schwachsinn, einzig Schnaps bekämpft den Gram!




      Schlicht und einfach ist es unfundiert,
      Fast sinnfrei, was es für die Menschen tut.
      Statistiken sind rot wie Schweineblut
      Und Menschen sind zu Zahlen degradiert.

      Statt nach Hause geht das Wesen nun
      Zum Lutz ins "Bierhaus" und bestellt nen Korn,
      Rasch einen zweiten, dritten, gegen Zorn
      Und Wehmut wird es Schluck für Schluck immun.

      Auf einmal steht es auf und wankt hinaus,
      Es stößt die Tür auf, will nur mehr nach Haus,
      Wo es so rein ist, wo es viele Male

      Rettung fand und jetzt zu finden glaubt,
      Vor draußen, vor der gräulichen Spirale,
      Die sich Tag für Tag nach unten schraubt.




      Ist abgeschottet und die Endstation
      Des Arbeitstages nur sein Domizil?
      Die Seelenwaschanlage, die mit Stil
      Beschützt vor Seelenannihilation?

      Doch auch Geborgenheit ist Projektion
      Seines Gehirns, nur etwas Endorphin,
      Ein Mix aus Lecithin und Dopamin!
      Ein paar Hormone: alles Illusion!

      Alles weltlich! Bloß materiell,
      Das Wesen spuckt die Bücher an und nur
      Der eine Wunsch bleibt, endlich auszusteigen.

      Daher geht es in sich, es wird hell,
      Ein Satanshimmel voller Engelsgeigen
      Spielt und es zerschlägt die Kuckucksuhr.




      Es schließt die Pforte seiner Bastion
      Und setzt sich ans Klavier bei Kerzenschein
      Zum Komponieren, um in Sphären ein
      Zu tauchen, spielen mit der Intention

      Zu schaffen, der Musik den Raum zu geben,
      Den die Lebensmüdigkeit gewährt.
      Was hilft es denn zu warten und wer lehrt
      Die Selbstkasteiung, die entsagt, zu leben?

      Menschenworte, menschliche Gebote
      Mit Absolutheitsanspruch, die so leer
      Sein können wie die umgekippte Vase!

      Das Wesen existiert, es will nicht mehr
      Dem Tod gedenken, und so werden rote
      Rosen von Metaphern zur Emphase.




      Das Wesen fühlt, wie Energie pulsiert
      In den Fingern auf den Tasten, spürt
      Wie Energie ein Feuer legt und schürt
      Und wie der letzte Zweifel implodiert.

      Ein Flügel verleiht Flügel, Mägen beben,
      Brodeln, und Äonenstürme wehen,
      Die in keinem Buch der Erde stehen.
      Alles weltlich! Mensch sein, fühlen, leben.

      Dankbarkeit durchflutet seine Adern,
      Dankbarbarisch nimmt das Wesen an
      Dass es lachen, jauchzen, leiden kann,

      Vor allem lieben kann und mit sich hadern,
      Erfahren darf, dass alles Leiden Leben
      Ist und schafft, das Glück hervor zu heben.



      In sich und allem, was auf Erden wandelt,
      Erkennt das Wesen eine Perspektive.
      Sozusagen sogar sukzessive
      Hat man sie durch Gottesfurcht verschandelt.

      Heiter, geckisch kichernd, keck, frivol
      Setzt es sich auf Opiumentzug
      Von diesem Zeug hat's wahrlich schon genug
      Geraucht und wurd' zum Anton aus Tirol

      Jeder ästhetisch-musisch-kulturellen
      Wahrnehmung der Kunst; und plötzlich richtet
      Es des Egos Nukleargeschütze

      Auf die beulenpestverseuchte Pfütze,
      Die den Menschen nach und nach vernichtet
      Und treiben lässt als Schaum auf schwarzen Wellen.



      Weil alles nur vom Tage-Pflücken handelt
      Sprengt es Ketten, öffnet Tür und Tor,
      Kopflos unterm Canapé hervor
      Stürmt ein Käfer, welcher sich verwandelt.

      Die Krabbelkäfer krabbeln von den Wänden,
      Die Kellerkäfer aus den Kellern rauf,
      Die Kneipenkäfer machen einen drauf,
      Die Kammerjäger müssen Häuser pfänden.

      In Paris vor circa sechzig Jahren
      Lebte auch einmal ein solches Wesen,
      Der große Käferkenner vom Montmartre.

      Wenn man es im Moulin Rouge am Tresen
      Traf, umringt von Mädchen, ganzen Scharen,
      Grinste man und sprach: "Bon soir, Herr Sartre!"

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      Vom Anbeginn zum letzten Ende hin
      Ist die Materie, ist die ganze Welt
      Völlig dicht und steif und darum fällt,
      Auf der Suche nach dem wahren Sinn,

      Das Wesen gerne mal auf seine Nase.
      Nirwana oder Gott, wie manche sagen,
      Fern der Existenzangst, fern der Klagen,
      Ist Selbstbefriedigung und bloße Phrase.

      Schlicht und einfach ist es unfundiert,
      Ist abgeschottet und die Endstation,
      Es schließt die Pforte seiner Bastion.

      Das Wesen fühlt, wie Energie pulsiert
      In sich und allem, was auf Erden wandelt,
      Weil alles nur vom Tage-Pflücken handelt.

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    • Aaaaah.
      Schwer sind die Lasten der Form!
      Und was gäbe ich: sie zu tragen
      Die edlen Früchte, die mir nach Tagen
      an Poeterey, fernab der Norm

      Sich nicht herab erlassen zu fallen.
      Aber du: im Bündel geschnürter Affront
      Und vordergründig auch nur; pardon!
      Banalst von Alkohol und lallen

      Aber präzise, und letzlich verwinkelt
      Im Sinne, des Helden der überall pinkelt
      und im Urin, doch tieferes trägt (:D).

      Wenn statt den Sinn des Lebens richtet,
      im letzten Sonnett er, genauest geschlichtet,
      sich nach dem sinnlichen Leben frägt.


      Najn, allen Ernstes: Das ist die horrendest schwerste Form, die du dir auferlegtest, und ich muss meinen nonexistenten Hut in allert Geneigtheit ziehen...vor allem das letze Ende, quasi, ist ein wirkliches Meistersonnett, und mich würde interessieren wie lange du saßest...?

      Vor allem die phonetischen Brüche die ich vor allem, ohne jetzt vergelich ziehen zu wollen, von Rilke kenne; wo die Struktur also gerade in voller Fahrt durch den Zeilenumbruch gestoppt werden liebe ich! z.B. Ein System, das eigentlich in sich
      Vollends geschlossen ist und aus dem ich
      Hinaus muss, wenn mich nichts auf Erden hält?


      Bitte untertänigst um ein Fortführen der dichterischen Tätigkeit! :D Bravo!
      when in doubt, do it.

      Homepage! / Youtube-Channel
    • Es war eine Wette. Ich saß zweieinhalb Wochen am Sonett, unterbot die dreiwöchige Frist und sahnte einen Kasten bestes Pils ab, welches leider bereits der Vanitas verfallen ist. Natürlich korrigiert man, mal hier mal da, ein Wörtchen wird ausgetauscht um der schönen Metrik willen und so weiter. Wobei ich zugeben muss, dass ich sehr schreibfaul bin. Wenn ich in einer Nacht noch der Manie verfalle, sitze ich am nächsten Tag faul herum, am übernächsten kommt mir ne gute Idee, ich setz mich wieder hin und schreibe die Idee kurz uf, die dann tags drauf wieder völlig enthusiastisch umgesetzt wird. Von den vielen Tagen, die der bloßen Korrektur dienen, einmal abgesehen.

      Also, um die Frage zu beantworten: Brutto zweieinhalb Wochen, netto viel weniger.


      Wenn ich selbst mein Sonett zu kritisieren hätte, vielmehr es von einer Koriphäe tun ließe und dies unterschriebe, säh die Kritik folgendermaßen aus:

      Sonette find ich sowas von beschissen,
      so eng, rigide, irgendwie nicht gut;
      es macht mich ehrlich richtig krank zu wissen,
      daß wer Sonette schreibt. Daß wer den Mut

      hat, heute noch so’n dumpfen Scheiß zu bauen;
      allein der Fakt, daß so ein Typ das tut,
      kann mir in echt den ganzen Tag versauen.
      Ich hab da eine Sperre. Und die Wut

      darüber, daß so’n abgefuckter Kacker
      mich mittels seiner Wichserein blockiert,
      schafft in mir Aggressionen auf den Macker.

      Ich tick nicht, was das Arschloch motiviert.
      Ich tick es echt nicht. Und wills echt nicht wissen:
      Ich find Sonette unheimlich beschissen.“

      Robert Gernhardt

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